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MUNDGESUNDHEIT
Mundgesundheit und Malnutrition im Alter
CHRISTIAN E. BESIMO
Zwischen Mund- und allgemeiner Gesundheit bestehen enge Zusammenhänge. So können sich orale und systemische Erkrankungen gegenseitig beeinflussen. Das trifft auch auf die Protein-Energie-Malnutrition (PE-Malnutrition) des alternden Menschen zu. Einerseits können sich Mangelzustände im Alter negativ auf die Mundgesundheit auswirken und sich durch Veränderungen der Mundschleimhaut auch oral manifestieren. Andererseits können Erkrankungen der Mundhöhle sowie progredienter Zahnverlust die Entstehung und den Verlauf einer Malnutrition begünstigen. Dieser Sachverhalt und die vielfach individuell komplexe Ätiopathogenese der Malnutrition im Alter verlangen, wie andere Altersleiden auch, nach einer zahnärztlich-medizinisch vernetzten Diagnostik und Therapie, um die Lebensqualität betroffener Senioren nachhaltig verbessern zu können.
Bedeutung der Zahnmedizin
für das Alter
Die demografische Entwicklung hat zur Folge, dass die zahnärztliche Betreuung alternder Menschen eine immer grössere Bedeutung gewinnt und bereits in naher Zukunft einen eigentlichen Schwerpunkt bilden muss, will die Zahnmedizin den nicht zu unterschätzenden Herausforderungen genügen, die die Erhaltung der Mundgesundheit eines stetig wachsenden älteren und betagten Bevölkerungsanteils verlangt. Dabei wird die Alterszahnmedizin leider immer noch und fälschlicherweise als ein Spezialgebiet verstanden, das nur den institutionalisierten Betagten zugutekommen soll, obwohl das Altern vielfach bereits wesentlich früher zahnärztlich und allgemeinmedizinisch relevante Erkrankungen mit sich bringt (1). Zwischen oralen und systemischen Erkrankungen gibt es grundsätzlich vier mögliche Wechselbeziehungen (2): 1. Pathologische Veränderungen im
Zahn-, Mund- und Kieferbereich oder zahnärztliche Therapien können allge-
meinmedizinische Erkrankungen auslösen beziehungsweise beeinflussen (z. B. bakterielle Endokarditis). 2. Umgekehrt ist es aber auch möglich, dass Allgemeinerkrankungen orale Veränderungen verursachen und/oder Auswirkungen auf den Verlauf oraler Erkrankungen haben (z.B. Lupus erythematodes, Morbus Crohn). 3. Zudem können internistische Erkrankungen zu Komplikationen bei der zahnärztlichen Therapie führen (z.B. hypertensive Krisen bei arterieller Hypertonie). 4. Schliesslich muss – ebenso wie bei einer medikamentösen Therapie – auch beim Einsatz zahnärztlicher Werkstoffe immer mit Nebenwirkungen gerechnet werden. Mögliche Zusammenhänge zwischen oralen und allgemeinen Erkrankungen sind in zunehmendem Masse Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Ein intensiv untersuchtes Modell stellt dabei die im Alter gehäuft auftretende marginale Parodontitis dar, deren Wechselwirkungen mit einer Reihe von
Tabelle 1:
Erkrankungen mit möglicher Wechselwirkung zur Parodontitis
• kardiovaskuläre Erkrankungen (koronare Herzkrankheit, Schlaganfall, periphere arterielle Durchblutungsstörung) • rheumatoide Arthritis • Diabetes mellitus • Atemwegsinfektionen • Osteoporose • Organabszesse • Morbus Crohn • Lupus erythematodes • psychischer Stress • Depression • Demenz • Malnutrition
Erkrankungen diskutiert werden (siehe Tabelle 1) (1, 3, 4). Der Zahnarzt bleibt aufgrund der mittlerweile in der Bevölkerung fest verankerten Gewohnheit der regelmässigen Nachsorge zur Erhaltung der Mundgesundheit ein Facharzt, der auch seine älteren Patienten (zumindest so lange es deren medizinische und soziale Situation erlaubt)
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im Rahmen der Langzeitbetreuung regelmässig und üblicherweise in längeren Konsultationen sieht als der Hausarzt. Er ist daher über seinen spezifischen Fachbereich hinaus gefordert, Anzeichen und Folgen physiologischer und pathologischer Veränderungen des Alterns frühzeitig zu erkennen. Dies nicht nur um diagnostische oder therapeutische Fehlentscheidungen in seiner eigenen Tätigkeit zu vermeiden, sondern auch um eine erfolgreiche orale Langzeitbetreuung alternder Menschen sicherstellen zu können. Zusätzlich steht er aber auch in der ärztlichen Verantwortung, neu auftretende, ohne spezialärztliche Untersuchung erkennbare allgemeine Krankheitszeichen wahrzunehmen und die Betroffenen den geeigneten Fachärzten auch zuzuführen. So lässt sich die notwendige interdisziplinäre Abklärung sicherstellen und gleichzeitig dazu beitragen, dass mögliche Erkrankungen früher erkannt und behandelt werden können. Zielsetzung ist dabei, älteren Menschen möglichst lange ein selbstständiges Leben zu ermöglichen. In vergleichbarer Weise hat aber auch der Arzt die Aufgabe, Munderkrankungen des alternden Menschen, wie zum Beispiel die bereits erwähnte Parodontitis, zu erkennen und für deren zahnärztliche Behandlung zu sorgen beziehungsweise den Zahnarzt bei der Diagnose von Erkrankungen mit möglichen Auswirkungen auf die Mundgesundheit (z. B. Depression oder Demenz) in die Langzeitbetreuung der Betroffenen einzubeziehen (1, 5). Eine solche interdisziplinäre Vernetzung von Medizin und Zahnmedizin kann einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung der Lebensqualität im Alter leisten. Das setzt allerdings auf beiden Seiten Fachkenntnisse voraus, die zumindest auf zahnärztlicher Seite nach wie vor in der Aus- und Weiterbildung zu wenig vermittelt werden (6). Dementsprechend fehlen in der Praxis oft die interdisziplinäre Vernetzung und die Festlegung klarer Verantwortlichkeiten, um die notwendige mehrdimensionale Erfassung und Betreuung alternder Menschen ausreichend zu gewährleisten. Damit besteht die Gefahr, dass im Alter gehäuft auftretende Krank-
heiten, zu denen auch die Malnutrition zu zählen ist, nicht erkannt oder in ihrer individuell komplexen Ätiopathogenese nicht ausreichend verstanden werden, um eine frühzeitige und nachhaltige Therapie zu gewährleisten (1, 5). Im Folgenden soll deshalb aus interdisziplinärer Sicht auf die Protein-Energie-(PE-)Malnutrition des alternden Menschen näher eingegangen werden.
Ätiopathogenese und Symptomatik der PE-Malnutrition
Abbildung 1: Hyperkeratotisch-schuppige Dermatitis im Bereich der Augenlider bei nutritivem Zinkmangel. (Foto Dr. C. Brand-Luzi)
Die PE-Malnutrition im Alter umfasst in der Regel keine isolierten, sondern komplexe Mangelzustände, die im Blut nachgewiesen werden können. Es handelt sich um eine Erkrankung, die bereits bei selbstständig lebenden Senioren gehäuft auftritt und schliesslich bei vielen Betagten in Alters- und Pflegeheimen beobachtet wird. Häufig betroffene Ernährungsparameter sind Albumin, Zink, Eisen, Vitamin B12; oft ist auch die Lymphozytenzahl pathologisch verringert (7, 8). Nutritive Defizite an Eisen, Folsäure, Vitamin B12 und Zink können auch zu Veränderungen an der Mundschleimhaut oder zu Missempfindungen wie Mundbrennen führen. So kann sich nutritiver Zinkmangel im Gesicht durch eine periorifizielle, hyperkeratotisch-schuppige Dermatitis manifestieren (siehe Abbildung 1). Zudem ist eine Stomatitis und Glossitis mit starker Rötung der Schleimhäute möglich (siehe Abbildung 2). Sowohl der Geschmacks- als auch der Geruchssinn können gestört sein, beziehungsweise es können neuropsychiatrische Symptome auftreten wie beispielsweise Stimmungslabilität, Gereiztheit, Depression, Apathie und Beeinträchtigung der kognitiven
Abbildung 2: Mundwinkelrhagaden und Stomatitis als Folge eines Zinkmangels. (Foto Dr. C. Brand-Luzi)
Leistungsfähigkeit. Der Allgemeinzustand der Patienten ist schlecht; sie zeigen Müdigkeit ohne Erholung. Die Rekonvaleszenz ist verzögert oder bleibt ganz aus (9). Die Entstehungsgeschichte einer PEMalnutrition im Alter hat häufig einen multifaktoriellen Hintergrund, dessen Verständnis für eine nachhaltige Verbesserung der Ernährungslage von grundlegender Bedeutung ist. Psychosoziale Problemstellungen und ihre Krankheitsfolgen wie zum Beispiel Depression, Multimorbidität und eine damit unmittelbar zusammenhängende Polypharmakotherapie sind die wichtigsten Ursachen (siehe Tabelle 2). Hinter einer Malnutrition
Tabelle 2: Ursachen der Malnutrition
Psychosoziale Faktoren • Vereinsamung • Depression • Demenz • Immobilität • Unselbstständigkeit • Armut • Alkoholismus
Multimorbidität • Erkrankungen des oberen
Gastrointestinaltraktes • Infektionen • Depression, Demenz • Psychosen • Appetitmangel, -losigkeit • Schluckstörungen • Radiotherapie
Pharmakotherapie • Antirheumatika (NSAR) • kardiovaskuläre Medikamente • Diuretika • Sedativa • antineoplastische Medikamente
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können sich also eine oder mehrere Erkrankungen verbergen, die es zu erkennen gilt (10, 11). In Bezug auf die Pharmakotherapie sind unter anderen die nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR) zu beachten, die vor allem bei chronischen Schmerzen zum Beispiel des Bewegungsapparates, aber auch in der Zahnmedizin sehr häufig verschrieben werden. NSAR können insbesondere bei längerer Gabe Läsionen im oberen Gastrointestinaltrakt verursachen, die im Alter kaum von Schmerzen begleitet werden und daher vielfach unerkannt bleiben. Es treten Gastritiden, Magenulzera und Blutungen auf. Letztere können zu Anämien führen. Appetitverlust und Mangelernährung sind die Folge. In diesem Zusammenhang sollte nicht vergessen werden, dass die gleichzeitige Einnahme von Acetylsalicylsäure (ASS) die Toxizität der NSAR deutlich zu erhöhen vermag (12, 13). Die für die Malnutrition ursächlichen Erkrankungen führen über die kaskadenartige Ausschüttung proinflammatorischer Zytokine zu einer Katabolisierung des Stoffwechsels. Der Abbau des körpereigenen Muskelgewebes und die nachfolgende Glukoneogenese werden gefördert. Ebenso verstärkt sich der Abbau des Knochengewebes, wodurch die Progredienz einer möglicherweise vorhandenen Osteoporose begünstigt wird. Das Immunsystem wird durch eine Lymphopenie geschwächt. Letztere stellt ein Frühsymptom der Malnutrition dar. Diese durch die Mangelernährung ausgelösten Prozesse haben im Alter einen sehr raschen Abbau der körpereigenen Reserven zur Folge. Die katabole Stoffwechsellage beeinträchtigt die Zellproliferation und damit die Wundheilung – nicht nur in der Haut, sondern auch in der Schleimhaut der Mundhöhle (14, 15). Das klinische Erscheinungsbild der Malnutrition ist oligosymptomatisch und unspezifisch. Leitsymptom ist der Appetitverlust (16). Trotz des häufigen Auftretens der Malnutrition im Alter wird die Diagnose oft verpasst. Es besteht die Gefahr, dass die prämorbide Adipositas als Bild einer guten Ernährungslage verkannt wird. Zudem können die mit Malnutrition häufig verbundene Müdigkeit und Apathie als
Ernährungs-Checkliste
nach Suter 2002
Fragen
Punkte
Eine Erkrankung oder ein Symptom führt zu Veränderungen meiner Ja Nein 2 Essgewohnheiten und/oder der Menge an zugeführter Nahrung.
Ich esse weniger als 2 Mahlzeiten pro Tag.
Ja Nein 3
Ich esse wenig Obst, Gemüse oder Milchprodukte.
Ja Nein 2
Ich konsumiere fast täglich 3 oder mehr Gläser Bier, Wein oder Schnaps.
Ja Nein 2
Ich habe Zahn- oder Mundprobleme, die mir das Essen erschweren. Ja Nein 2
Ich habe nicht immer genügend Geld, um die benötigten Nahrungs- Ja Nein 4 mittel einzukaufen.
Ich esse meistens alleine.
Ja Nein 1
Ich nehme täglich 3 oder mehr Medikamente ein.
Ja Nein 1
Ich habe während der letzten Monate ungewollt 4 bis 5 kg zuoder abgenommen.
Ja Nein 2
Ich kann aus körperlichen Gründen nicht immer Nahrungsmittel-
Ja Nein 2
einkäufe tätigen, kochen oder die Nahrung selbstständig einnehmen.
Gesamtpunktzahl
–
0–2 Punkte: Risiko für Malnutrition gering, Wiederholung in 6 Monaten 3–5 Punkte: Moderates Risiko, gezielte Intervention notwendig, Kontrolle in drei Monaten > 6 Punkte: Hohes Malnutritionsrisiko, professionelle Intervention notwendig
Tabelle 3: Ernährungs-Checkliste nach Suter (33)
Ernährungsparameter im Blut bei Krankenhauseintritt (rot) und nach dreimonatiger Hospitalisation (grün)
Schweregrad der Malnutrition Norm
Albumin g/L
35–45 31
Eisen mmol/L
9,5–33 11,5
Zink mmol/L
10,7–22,9 11,4
Vitamin B12 pmol/L
> 300 1224
Folsäure nmol/L
9,5–45,0 45,5
Hämoglobin g/dL
12,5–14,5 10,3
Lymphozyten/mm3
1800–4000 1080
Mild
Schwer
4,7
114 7,5 8,3 880
Sehr schwer 19
4,5
Tabelle 4: Ernährungsparameter im Blut eines 70-jährigen Patienten vor und nach dreimonatiger stationärer Behandlung der Malnutrition und Depression
Altersschwäche fehlinterpretiert werden. Fehlende Diagnosestellung und Therapie führen zu einer beschleunigten Beeinträchtigung des allgemeinen Gesundheitszustandes, zu erhöhter Progredienz von Krankheiten sowie zu atypischen Reaktionen bei der Pharmakotherapie. Eine Zunahme der Morbidität und Mortalität ist die Folge (17, 18). Im fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung erfolgt der Abbau der Fettreserven sowie der Muskel-
und Knochenmasse. Die dabei auftretende Kachexie ist einer Tumorkachexie ähnlich und kann deshalb mit dieser verwechselt werden (19).
Kaufunktion und Ernährung
In neueren klinischen Untersuchungen konnte zwar gezeigt werden, dass durch zahnärztlich-prothetische Neuversorgung unterschiedlichen Aufwandes eine Verbesserung der Kaukraft und Kauleis-
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Abbildung 3: Druckulkus der Mundschleimhaut im Bereich des Prothesenrandes.
tung möglich ist (20, 21). Auf der anderen Seite muss aber erkannt werden, dass eine Optimierung der funktionellen Situation, zum Beispiel durch Rekonstruktion verlorener Zähne, nicht zwingend auch eine Verbesserung der Ernährung bewirkt (22–25). Das steht im Zusammenhang mit der komplexen Ätiopathogenese der Malnutrition, die keine Reduktion der Problematik auf einen simplen mechanistischen Zusammenhang mit der Anzahl verbliebener funktionstüchtiger Zahneinheiten erlaubt (26). Zudem führt die Häufung psychosozialer und medizinischer Leiden im Alter dazu, dass funktionelle orale Defizite für den Patienten an Bedeutung verlieren. Aus diesen Gründen kann durch die Optimierung der Kaufunktion in der Regel auch nicht immer eine deutliche Verbesserung der Ernährungslage erwartet werden (27, 28). Infolgedessen sollte gerade beim älteren Menschen die Gesundheits- und Ernährungssituation vor zahnärztlich-wiederherstellenden Massnahmen interdisziplinär abgeklärt werden. Das trägt wesentlich dazu bei, die Indikationsstellung einer geplanten rekonstruktiven Therapie besser einschätzen zu können. In vielen Fällen wird sich zeigen, dass – neben einer reduzierten Zahl verbleibender Zähne – zahlreiche andere der aufgezeigten psychosozialen und medizinischen Faktoren eine oft bedeutendere Rolle bei der Entstehung einer Malnutrition spielen. Schliesslich sollten prothetische Massnahmen, die zur (Mit-)Therapie einer Malnutrition ins Auge gefasst werden, durch eine professionelle Ernährungsberatung und -lenkung ergänzt werden, um die
Verbesserung einer suboptimalen Ernährungslage auch wirklich sicherstellen zu können (29, 30). Nicht vergessen werden sollte, dass die im Alter sehr häufig auftretende Xerostomie (Mundtrockenheit) nicht nur das allgemeine Wohlbefinden, sondern auch die Kaufunktion und -leistung und infolgedessen auch den Appetit deutlich einschränken kann. Speisen bleiben an Zähnen und Schleimhäuten kleben, und Geschmacksempfinden sowie Schluckvorgang werden beeinträchtigt. Die Entstehung einer Xerostomie hat in der Regel einen multifaktoriellen Hintergrund, wobei im Alter Medikamente als auslösende Ursache im Vordergrund stehen. Aber auch Erkrankungen wie das SjögrenSyndrom, Demenz und Malnutrition (ungenügende Flüssigkeitsaufnahme) können eine Rolle spielen (31).
Voraussetzung:
die richtige Diagnostik
An erster Stelle steht die Anamnese, wobei beim Betagten, wenn immer möglich, zusätzlich eine Fremdanamnese aufgenommen werden sollte (16). Zudem haben sich Fragebogen zur Abklärung der Ernährungslage und somit zur Beurteilung des Malnutritionsrisikos bewährt. Ein allgemein anerkannter Standardfragebogen ist das Mini-Nutritional-Assessment (MNA) (32). Ein ebenfalls gut validiertes, im zahnärztlichen Alltag einfach einsetzbares und bewährtes Screeninginstrument stellt die Ernährungs-Checkliste nach Suter dar (33, 34) (siehe Tabelle 3). Dieser Fragebogen erlaubt dem Zahnarzt eine zuverlässige Einschätzung des Malnutritionsrisikos und der Notwendigkeit einer weiteren fachärztlichen Abklärung (26). Körpergewicht und Körpergrösse werden für die Berechnung des BodyMass-Index (BMI) (kg/m2) verwendet. Der BMI spricht jedoch nur verzögert auf eine sich verschlechternde Ernährungslage an und kann somit lediglich als Spätindikator einer Malnutrition verwendet werden. Für die genaue Diagnosestellung ist die Bestimmung der Ernährungsparameter im Blut erforderlich. Dazu gehören Serumproteine, Vitamine, Elektrolyte und Spurenelemente, aber auch andere Para-
meter wie beispielsweise die Lymphozytenzahl (8, 35, 36).
Patientenbeispiel
Ein alleinstehender 70-jähriger Patient wurde aufgrund seines stark geschwächten Allgemeinzustandes vom Hausarzt an die Basler Universitätsklinik für Akutgeriatrie überwiesen. Der Mann klagte über chronische Müdigkeit und Antriebslosigkeit. Seit dem Tod seiner Ehefrau vor gut einem Jahr litt er unter Appetitlosigkeit. Er ass und trank nur noch wenig. In den letzten acht Monaten verlor er 7 kg an Körpergewicht. Das Gesicht war eingefallen, die Haut blass und trocken. Die Bestimmung der biochemischen Ernährungsparameter im Blut ergab eine schwere Malnutrition mit ausgeprägtem Mangel an Albumin und Zink. Auch die übrigen Ernährungsparameter waren betroffen (Tabelle 4). Die Ursache der Malnutrition war eine schwere Depression infolge Vereinsamung und einer weitestgehenden Hilflosigkeit bei der selbstständigen Bewältigung des Alltags. Der Patient klagte beim Krankenhauseintritt auch über starke Schmerzen im Oberkiefer. Diese standen im Zusammenhang mit einer neuen Vollprothese. Die Anamnese ergab, dass der Mann einige Zeit nach dem Tod seiner Ehefrau wegen Zahnschmerzen seinen Zahnarzt konsultierte. In der Folge wurden die verbleibenden Zähne im Oberkiefer entfernt und durch eine Vollprothese ersetzt. Diese Massnahmen führten aber zu keiner Verbesserung der oralen Situation. Nun traten im Bereich der Prothesenbasis schmerzhafte chronische Reizungen und Ulzerationen der Mundschleimhaut auf, die durch keine korrigierenden prothetischen Massnahmen beherrscht werden konnten (Abbildung 3). Selbst eine weichbleibende Unterfütterung der Prothesenbasis führte zu keiner Linderung der Beschwerden. Das beeinträchtigte die Ernährungslage zusätzlich. Da die zahnärztliche Untersuchung bei Krankenhauseintritt eine korrekte prothetische Versorgung des Oberkiefers ergeben hatte und keine anderen lokalen Ursachen für die Beschwerden nachgewiesen werden konnten, lag die Vermutung nahe, dass
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die chronischen Schleimhautirritationen mit der Malnutrition und der ebenfalls vorhandenen Xerostomie in Zusammenhang standen. Die medizinischen Massnahmen umfassten eine Ernährungstherapie und ein psychologisches Coaching zur Bewältigung des Todes der Ehefrau und der neuen Lebenssituation. Von zahnärztlicher Seite wurde zur Linderung der Xerostomie auf eine ausreichende Flüssigkeitsaufnahme geachtet und die regelmässige Benetzung der Mundschleimhaut mit Olivenöl verordnet. Zur Schonung der Schleimhäute wurde die Prothese vorerst nur bei Nahrungsaufnahme oder bei sozialem Kontakt getragen. Die Verbesserung der Ernährungslage während der ersten drei Monate des Spitalaufenthaltes führte auch zu einer Normalisierung der oralen Situation, ohne dass zusätzliche prothetische Massnahmen notwendig wurden. Die Verbesserung der Ernährungsparameter im Blut ermöglichte wieder eine normale Wundheilung (Tabelle 4). Nach sechsmonatigem Krankenhausaufenthalt erfolgte der Übertritt des Patienten in ein Altersheim, um einer erneuten Vereinsamung und Malnutrition vorzubeugen. Eine normale Ernährung per os war wieder gewährleistet. Die Vollprothese im Oberkiefer bereitete keine Beschwerden mehr. Eine interdisziplinäre medizinisch-zahnärztliche Langzeitbetreuung des Patienten in der beschriebenen Weise wurde sichergestellt.
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Christian E. Besimo Leitender Arzt und stellvertretender Chefarzt Abteilung Orale Medizin Aeskulap-Klinik Gersauerstrasse 8 6440 Brunnen Tel: 041-825 49 22 Fax: 041-825 48 63 E-Mail: christian.besimo@aeskulap.com
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