Transkript
DYSPHAGIE
Ernährungstherapie nach Schlaganfall
Praktische Umsetzung anhand von fünf Fallbeispielen
LIVIA FUCHS
Die ernährungstherapeutische Begleitung nach einem Schlaganfall ist hinsichtlich vieler Faktoren (z.B. Dysphagie, Prognose und Komorbidität) eine grosse Herausforderung. Nachfolgend werden fünf verschiedene Fallbeispiele beschrieben und mögliche Interventionen aufgezeigt.
Hintergrund
Schlaganfall wird als die dritthäufigste Todesursache in den Industrieländern angegeben. Die Inzidenz variiert zwischen 100 bis 700 Ereignissen pro 100 000 Einwohner, und es wird mit einer weiteren Zunahme gerechnet. Beinahe 90 Prozent der Schlaganfallbetroffenen sind älter als 65 Jahre. Mehr als 30 Prozent sind nach dem Schlaganfall schwer beeinträchtigt, und etwa 20 Prozent brauchen auch drei Monate nach dem Ereignis intensive Betreuung (1). Durchschnittlich ist jeder fünfte Patient mit akutem Schlaganfall bei Spitaleintritt mangelernährt, allerdings variieren diese Zahlen in den Publikationen beträchtlich. Die Mangelernährung verschlechtert die allgemeine Prognose und die Lebensqualität, vor allem aber auch die Selbstständigkeit der Betroffenen. Zusätzlich haben mangelernährte Schlaganfallpatienten eine längere Krankenhausverweildauer und Rehabilitationszeit sowie eine höhere Komplikationsrate (2). Es treten vermehrt Infektionen wie zum Beispiel Aspirationspneumonien, gastrointestinale Blutungen, Dekubitalgeschwüre und Dehydration auf (1, 3). Eine Dehydration steigert zusätzlich die Gefahr, Schlaganfallrezidive zu entwickeln (1). Hohes Alter,
chronische Krankheiten, insbesondere Diabetes mellitus, Depression, Status nach mehreren Schlaganfällen und Polypharmazie, sind nur einige Faktoren, die das Mangelernährungsrisiko erhöhen (1). Ein weiterer häufiger Risikofaktor für die Entwicklung einer Mangelernährung bei Schlanganfallpatienten ist die Dysphagie (1). In der Akutphase weisen über 60 Prozent der Patienten nach einem Hirnschlag eine Schluckstörung auf, dazu kommen Aspirationen mit einer Häufigkeit von etwa 20 Prozent (4). Dieses Risiko ist vor allem bei den über 70-Jährigen erhöht (5). Die Schwere des Schlaganfalls, Aphasie, Dysarthrie sowie Läsionen des frontalen Kortex und des Hirnstamms führen zu einer länger anhaltenden Dysphagie (3). Etwa ein Viertel aller Schlaganfallbetroffenen leidet an chronischer Dysphagie (4, 5).
Energie- und Proteinbedarf nach Schlaganfall
Die Annahme eines erhöhten Ruheenergieverbrauchs nach einem Schlaganfall zeigt keine statistische Signifikanz im Vergleich zur Harris-Benedict-Formel (6). Die Autoren der Studie vermuten, dass der Energiebedarf aufgrund der verminderten körperlichen Aktivität und der Verän-
derung des Muskeltonus nicht erhöht ist. Ebenfalls verweisen mehrere Studien zur Berechnung des Energiebedarfs auf die Harris-Benedict-Formel. Genaue Proteinbedarfsempfehlungen nach einem Schlaganfall gibt es nicht. Die AKE empfiehlt bei über 65-Jährigen eine Proteinzufuhr von 1 g pro Kilogramm Körpergewicht. Da die meisten Schlaganfallpatienten über 65 Jahre alt sind, könnte das übernommen werden. Die WHO sowie die D-A-CH empfehlen aufgrund unklarer Evidenz immer noch einen Proteinbedarf von 0,8 g pro Kilogramm Körpergewicht für ältere Menschen. In einem Review (7) wird darauf hingewiesen, dass eine unzureichende Proteinzufuhr zu einer Vergrösserung der ischämieinduzierten Hirnschädigung führt. Zusätzlich führt eine orale Proteinsupplementation, im Vergleich zur Kontrollgruppe, zu einer besseren Erholung der neurokognitiven Funktionen. In diesem Review wird eine Proteinzufuhr von über 1 g Protein pro Kilogramm Körpergewicht empfohlen, unter Berücksichtigung eines Kohlenhydrat-Protein-Verhältnisses von unter 2,5. Bei den folgenden Patientenbeispielen wurde der Proteinbedarf mit 1 g pro Kilogramm Körpergewicht berechnet.
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Enterale Ernährung nach Schlaganfall
Sobald eine Schluckstörung nach Einschätzung des behandelnden Arztes und des interdisziplinären Teams länger als sieben Tage anhält und keine bedarfsdeckende orale Ernährung möglich ist, sollte eine enterale Ernährungstherapie innerhalb von 72 Stunden eingeleitet werden (4). In der Akutphase des Schlaganfalls ist die dünnlumige nasogastrale Sonde (NGS) – sofern sie toleriert wird – der PEG (perkutane endoskopische Gastroskopie) vorzuziehen (3). Die Sondennahrung (SN) sollte vorzugsweise über eine Pumpe appliziert werden (3). Eine NGS führt zu keiner Verschlechterung der Dysphagie, weshalb deren Entfernung nicht während der Schlucktherapie erfolgen soll (4). Bei Aspirationspneumonierisiko oder Zeichen eines gastroösophagalen Refluxes ist die kontinuierliche Applikation der Bolusgabe vorzuziehen (6). Bei absehbar längerfristiger enteraler Ernährung (über 28 Tage) sollte jedoch in einer klinisch stabilen Phase ein Wechsel zur PEG-Anlage spätestens nach zwei bis drei Wochen erfolgen (4). Allerdings sollten beatmete Schlaganfallpatienten bereits innert 24 Stunden eine PEG-Sonde erhalten, um das Beatmungspneumonierisiko zu senken (3). Bei Patienten mit einem Score auf der National-Institutes-of-Health-Stroke-(NIHSS-) Skala von > 16 (siehe Tabelle 1) ohne Aspirationspneumonie oder einem NIHSSScore von > 12 mit Aspirationspneumonie ist eine frühzeitige PEG-Sonde indiziert (8). Das Aspirationsrisiko durch SN oder andere Materialien kann durch eine 30°-Oberkörper-Hochlagerung und durch eine kontinuierliche Verabreichung reduziert werden.
Tabelle 1: Schweregradeinteilung nach Schlaganfall (8)
NIHSS-Score
Score 0 1–4
5–15 16–20
Schweregrad keine Symptome
klein mässig mittelschwer
Viele Patienten mit Dysphagie und enteraler Ernährung können sich innerhalb von drei Monaten wieder oral ernähren (1). In der Übergangsphase sollte die enterale Ernährung zur Appetitförderung mit entsprechenden Zeitabständen an die Mahlzeiten angepasst werden. Eine weitere Möglichkeit für die Appetitverbesserung ist die stetige SN-Verabreichung über Nacht. Bei Schlaganfall gehört die Überprüfung und die Einleitung von Massnahmen zur bedarfsdeckenden Ernährung und genügenden Flüssigkeitszufuhr mit oder ohne SN zur Hauptaufgabe einer diplomierten Ernährungsberaterin HF/FH.
Fallbeispiel 1
Alter: 85 Jahre; Geschlecht: männlich; Diagnose: Status nach ischämischem Schlaganfall (NIHSS 3), Dysphagie; BMI: 26 kg/m²; NRS nach Kondrup: 3; initiale Kostform: keine orale Ernährung, neue nasogastrale Sonde; Herausforderung: ethische Entscheidungsfindung und Sondennahrung; Hospitalisationsdauer: 14 Tage.
Der Patient wurde 20 Tage nach dem Ereignis von einer Rehabilitationsklinik ins Akutspital weitergeleitet. Ziel der Ernährungstherapie war es, die orale und die enterale Ernährung auf die Bedarfsdeckung zu prüfen. Der Nährstoffbedarf wurde auf zirka 2000 kcal und 80 g Protein berechnet. Die nasogastrale Sonde wurde bereits in der Reha eingelegt. Unklar war jedoch die Art und die Menge der SN. Der enterale Kostaufbau über eine dünnlumige Sonde (Charrière 8) begann ab dem zweiten Eintrittstag mit 500 ml SN (500 kcal) und wurde am nächsten Tag auf 1000 ml (1000 kcal) gesteigert. Die SN lief kontinuierlich mit einer Laufrate von 63 ml/Stunde über 16 Stunden via Pumpensystem. Dies aufgrund des hohen Aspirationsrisikos und der einfacheren Handhabung für die Pflegefachpersonen. Die Logopädie empfahl nach den Schluckabklärungen fein gemixte Kost. Die Flüssigkeit musste auf eine honigartige Konsistenz (hinterlässt einen dicken Überzug auf dem Rücken eines Löffels) eingedickt werden. Nach einigen Tagen konnte das Ernährungsprotokoll zur Beurteilung der oralen Zufuhr ausgewertet werden. Da der Patient meist nur zwei bis drei Löffel
von der gemixten Portion ass, konnte man die orale Energie- und Proteinzufuhr vernachlässigen. Ab dem sechsten Tag wurde langsam auf 1000 ml hochkalorische SN (1500 kcal) und 500 ml SN (500 kcal) gewechselt. Der Bedarf des Patienten wurde mit 2000 kcal und mit 75 g Protein gedeckt (Laufrate von 100 ml/h über 15 Stunden). Den Flüssigkeitsbedarf von 2200 ml deckte der Patient mit der SN und der Spülflüssigkeit ab. Als Beitrag zur Lebensqualität erhielt der Patient weiterhin eine Viertelportion fein gemixte Kost, von der er weiterhin ein paar Löffel pro Tag zu sich nahm. Aufgrund der Lebensumstände haben sich die Angehörigen zum damaligen Zeitpunkt gegen eine PEG-Einlage entschieden. Die Homecare wurde zur Schulung der Angehörigen bezüglich SN-Applikation involviert, und der Patient wurde mit der nasogastralen Sonde nach Hause entlassen. Diskussion: Der Entscheid zur totalen enteralen Ernährung wurde sehr spät gefällt. Der Patient hätte frühzeitiger bedarfsdeckend ernährt werden können. Auch der Entscheid für oder gegen die PEG-Sonde hätte bereits nach Eintritt besprochen werden müssen, da die Guidelines den Wechsel bereits nach zwei bis drei Wochen empfehlen. Eine langfristige enterale Ernährung über eine nasogastrale Sonde ist nicht zu empfehlen.
Fallbeispiel 2
Alter: 84 Jahre; Geschlecht: weiblich; Diagnose: akuter ischämischer Hirninfarkt (NIHSS 21), Hemisyndrom links, Diabetes Typ 2, Dysphagie; BMI: 31 kg/m2; NRS nach Kondrup: 0; initiale Kostform: keine orale Ernährung, neue PEGSonde; Herausforderung: enteraler Kostaufbau; Hospitalisationsdauer: 11 Tage.
Die Patientin wurde bereits auf der Intensivstation und im Spital davor über eine nasogastrale Sonde (1000 ml SN, 1500 kcal) kontinuierlich über 20 Stunden ernährt. Seit dem Schlaganfall hatte die Patientin keinen Gewichtsverlust aufzuweisen, keine verminderte Nahrungszufuhr und somit kein erhöhtes Mangelernährungsrisiko. Bereits vor der Anmeldung zur Ernährungsberatung wurde eine PEGSonde eingelegt. Aufgrund des hohen
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Aspirationsrisikos, das die Logopädie nach der Schluckabklärung bestätigte, war vorübergehend keine zusätzliche orale Ernährung möglich. Die Sicherstellung einer bedarfsdeckenden enteralen Ernährung war vorerst das Ziel der Ernährungstherapie. Nach Berechnung des Energie- und Proteinbedarfs (1800 kcal und 70 g Protein) wurde die enterale Ernährung mit zusätzlich 500 ml SN (500 kcal) zur besseren Bedarfsdeckung erhöht und die Laufrate somit auf 90 ml pro Stunde über 16 bis 17 Stunden angepasst. Die SN lief zwecks besserer Überwachung nur noch tagsüber. Die Blutzuckerwerte stiegen durch die Anpassung der SN an, wurden mit fünf Einheiten Basalinsulin am Morgen therapiert und waren dann im Normbereich. Am Ende des stationären Aufenthalts konnte die Patientin nach logopädischen Schlucktherapien wieder wenig fein gemixte, mit Energie und Protein angereicherte Kost essen. Die Berechnung des Ernährungsprotokolls ergab eine orale Energie- und Proteinzufuhr von etwa 500 kcal und 20 g Protein. Dementsprechend konnte die SN wieder auf 1000 ml SN (1500 kcal) reduziert werden. Das Basalinsulin wurde aufgrund der Blutzuckernormalisierung ebenfalls wieder gestoppt. Nach elf Tagen konnte die Patienten mit der enteralen SN, kombiniert mit der fein gemixten, oralen Ernährung, zur weiteren Neurorehabilitation und Fortsetzung des oralen Kostaufbaus verlegt werden. Anmerkung: Durch eine spezifische Diabetiker-SN kann keine signifikant bessere Blutzuckereinstellung erreicht werden (9).
Tabelle 2: Mögliche Schwierigkeiten beim Kostaufbau nach Schlaganfall (1)
Probleme der Nahrungszufuhr • Dysphagie • Vigilanzverminderung • Kognitive Defizite • Fatigue • Immobilität/Hemiplegie • Xerostomie
Fallbeispiel 3
Alter: 91 Jahre; Geschlecht: weiblich; Diagnose: Mediateilinfarkt rechts und links, Dysarthrie, Dysphagie; BMI: 20 kg/m2; NRS nach Kondrup: 5; initiale Kostform: fein gemixte Kost; Herausforderung: ethische Entscheidungsfindung und orale Ernährung; Hospitalisationsdauer: 7 Tage.
Die betagte Patientin mit unklarem NIHSSScore wurde mit dem Ziel einer Verbesserung der oralen Energie- und Proteinzufuhr zur Ernährungsberatung angemeldet. Nach logopädischer Abklärung wurde eine fein gemixte Kost mit honigartig eingedickter Flüssigkeit vorgeschlagen. Die Patientin war jedoch bei allen Konsistenzen aspirationsgefährdet. Die pürierte Kost wurde zusätzlich mit Protein-, Kohlenhydratpulver und Fett angereichert. Als Zwischenmahlzeit nahm die Patientin eine standardisierte, eingedickte Trinknahrung ein. Die Zufuhr wurde mithilfe des ausgefüllten Ernährungsprotokolls auf etwa 900 kcal und 50 g Protein pro Tag eingeschätzt. Die Patientin konnte somit ihren Nährstoffbedarf (1700 kcal und 65 g Protein) trotz Anreicherung und Trinknahrung nicht abdecken. In einem interdisziplinären Gespräch haben sich die Angehörigen gegen weitere Ernährungsinterventionen und gegen eine Antibiose im Fall einer Aspirationspneumonie entschieden. Das Aspirationsrisiko durch die orale Ernährung und die Flüssigkeitszufuhr wurden ebenfalls in Kauf genommen. Die Patientin wurde mit der empfohlenen Kostform ins Pflegeheim entlassen.
Fallbeispiel 4
Alter: 88 Jahre; Geschlecht: weiblich; Diagnose: akuter ischämischer Hirninfarkt (unklarer NIHSS-Score), Hemisyndrom links, M. Parkinson, Dysphagie; BMI: 21 kg/m2; NRS nach Kondrup: 5; initiale Kostform: fein gemixte Kost; Herausforderung: Aspiration von Flüssigkeiten; Hospitalisationsdauer: 11 Tage.
Die Patientin wurde zur Einschätzung der Ernährungssituation am siebten Hospitalisationstag zur Ernährungsberatung angemeldet. Sie bekam bereits zuvor nach logopädischen Abklärungen wenige Löffel fein gemixte, angereicherte Kost und honigartig eingedickte Flüssigkeiten. Zwischenzeitlich verbesserte sich die
Situation der Patientin deutlich. Sie wurde adäquater und gut ansprechbar. Am neunten Tag wurde die Energie- und Proteinzufuhr (ca. 1200 kcal und 50 g Protein) mit dem von der Pflege ausgefüllten Ernährungsprotokoll erhoben. Die Patientin konnte sich, dank Anreicherung der Mahlzeiten, knapp bedarfsdeckend (Bedarf: ca. 1400 kcal und 55 g Protein) ernähren. Das Trinken bereitete ihr viel mehr Mühe. Sie aspirierte auch bei angepasster Flüssigkeitskonsistenz sehr häufig und konnte ihren Flüssigkeitsbedarf peroral nicht abdecken. Das Problem der ungenügenden Flüssigkeitszufuhr wurde an das zuständige Ärzteteam weitergeleitet. In einem interdisziplinären Gespräch kam es zum Entscheid einer nasogastralen Sondeneinlage, um eine adäquate Flüssigkeitszufuhr zu gewährleisten. Die Patientin erhielt zur Abdeckung der Flüssigkeitszufuhr pro Tag 3 x 250 ml Leitungswasser über die Sonde mittels vorsichtiger Bolusapplikation. Mit der zusätzlichen oralen Ernährung (Flüssigkeitsgehalt der Nahrung ca. 800 ml) deckte sie den Rest des Flüssigkeitsbedarfs. Nach guter Akzeptanz der nasogastralen Sonde wurde die Patientin mit entsprechenden Ernährungsempfehlungen (geeignete Kostform, regelmässige Gewichtskontrolle, allenfalls Verabreichung einer hochkalorischen Trinknahrung über nasogastrale Sonde) ins Pflegeheim rückverlegt. Diskussion: Die Anmeldung an die Ernährungsberatung kam spät. Eine PEG-Sonden-Einlage zur Flüssigkeitsabdeckung und ergänzenden enteralen Ernährung wäre vermutlich die bessere Wahl gewesen, da das Aspirationsrisiko ein längerfristiges Problem darstellt.
Fallbeispiel 5
Alter: 35 Jahre; Geschlecht: männlich; Diagnose: rechtshemisphärischer zerebrovaskulärer Insult (NIHSS 17), Hemisyndrom und Neglect links, Fazialisparese, Dysphagie; BMI: 25 kg/m2; NRS nach Kondrup: 5 (Verschlechterung des Ernährungszustandes: Grad 3, Schweregrad der Erkrankung: Grad 2); initiale Kostform: superweiche, gewürfelte Kost; Herausforderung: Refeedingsyndromrisiko; Hospitalisationsdauer: 9 Tage.
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Der Rettungsdienst wurde alarmiert, nachdem ein Arbeitskollege den Patienten nach 14-tägiger Abwesenheit am Arbeitsplatz aufgefunden hatte. Nebendiagnose war eine akute Niereninsuffizienz mit Hypernatriämie aufgrund schwerer Dehydratation bei Liegetrauma. Der Patient wurde hinsichtlich des hohen Refeedingsyndromrisikos infolge mehrtägiger Nahrungskarenz und zur Überprüfung der oral bedarfsdeckenden Ernährung am dritten Tag zur Ernährungsberatung angemeldet. Eine Elektrolytkontrolle (Phosphat, Kalium, Magnesium, Kalzium, Natrium), eine Glukosekontrolle, die Substitution von Vitamin B1 und ein Multivitaminpräparat waren die ersten ernährungstherapeutischen Empfehlungen. Die Hypokaliämie und die Hypophosphatämie wurden entsprechend ärztlich behandelt. Nach der logopädischen Abklärung wurde entschieden, dass der Patient super weiche, gewürfelte Kost essen darf. Das ist eine nicht gemixte und mit wenig Kauarbeit schluckbare Kostform, ohne schlecht schluckbare Nahrungsmittel wie Reis, Salat, fasriges Fleisch und Ähnliches. Obwohl der Patient adäquat war, wurde aufgrund des linkseitigen Neglects ein Ernährungsprotokoll von der Pflege geführt. Neglectpatienten nehmen aufgrund der einseitigen Wahrnehmung der Umgebung meist auch nur die eine Seite des Esstabletts wahr und essen häufig auch nur die eine Seite des Tellers leer. Die Kost wurde nach Behebung der Hypokaliämie und -phosphatämie mit Proteinpulver, Kohlenhydratpulver und Fett (Rapsöl, Olivenöl, Rahm, Butter) zur Energie- und Proteinbedarfsabdeckung angereichert. Die Flüssigkeit musste zu Beginn honigartig eingedickt werden. Infolge des hohen Energiebedarfs (2700 kcal, 90 g Protein) nahm der Patient zusätzlich zwei hochkalorische, industriell gefertigte eingedickte Trinknahrungen als Zwischenmahlzeit ein. Am siebten Hospitali-
sationstag hatte sich sein Tabelle 3: Zusammenstellung wichtiger Fakten Appetit stark gebessert. nach Schlaganfall inkl. Quellenangabe
Der Patient ass laut Ernährungsprotokoll meist die ganze Portion. Dadurch war die Anreicherung der Speisen nicht mehr indi-
• Modifikation der Nahrungstextur und Eindicken der Getränke sollten nach einem logopädischen Assessment erfolgen (3).
• Intensive Schlucktherapie (5 x/Woche) in der akuten Schlaganfallphase führt nach 6 Monaten zu einer signifikanten Verbesserung der oralen Ernährung (4).
ziert. Mit den bevorzugten Trinknahrungen deckte er somit seinen Energie-, Protein- und Mikronährstoff-
• Optimale Mundhygiene des Patienten und Händedesinfektion der Kontaktpersonen senken das Pneumonierisiko (4).
• Trinknahrungen steigern signifikant die Protein- und die Energieaufnahme und vermindern einen Gewichtsverlust (3).
bedarf gut ab. Das Multivit-
aminpräparat und das
Vitamin B1 wurden gestoppt. Mit den ent-
sprechenden Ernährungsempfehlungen Korrespondenzadresse:
machte der Patient direkt nach dem statio- Livia Fuchs
nären Aufenthalt eine Rehabilitation.
Dipl. Ernährungsberaterin HF
Anmerkung: Bei diesem Patientenbeispiel Ernährungsberatung
ist die Evaluation der Schluckfähigkeit Kantonsspital Baden AG
und somit die Anpassung der Nahrungs- 5404 Baden-Dättwil
konsistenz in der Rehabilitation sehr E-Mail: livia.fuchs@ksb.ch
wichtig, um den Patienten nicht unnötig
lange einzuschränken.
Fazit
Mangelernährung wird häufig bei Patienten mit Schlaganfall beobachtet und ist ein grosser Risikofaktor für eine negative Entwicklung im Hinblick auf Überlebensrate, Pflegebedarf und Komplikationsrate (2). Das Screening auf Mangelernährung (z.B. NRS 2002 nach Kondrup) sollte innerhalb von 48 Stunden nach dem akuten Schlaganfall erfolgen, um ernährungstherapeutische Interventionen frühzeitig einleiten zu können. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit dem Pflegefachpersonal, den Ärzten, Logopäden/Schlucktherapeuten und Angehörigen ist unumgänglich. Stets sollen der Patientenwille, die klinische Situation, die Prognose und die Lebensumstände des Patienten in die Entscheidungen mit einbezogen werden. Diese Zusammenarbeit ist auch in der Rehabilitation sehr wichtig, damit die Inter-
Literatur: 1. Bouziana SD, Tziomalos K. Malnutrition in patients with acute stroke. J Nutr Metabol 2011; 2011: 167898. 2. FOOD Trial Collaboration. Poor nutritional status on admission predicts poor outcome after stroke. Stroke 2003; 34:1450–1456. 3. Leitlinie Enterale Ernährung bei Patienten mit Schlaganfall. Aktuelle Ernährungsmedizin 2007; 23: 330–346. 4. Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. Neurogene Dysphagie. 2012. 5. Leitlinie Rehabilitation neurogener Dysphagien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie 2008, Thieme, Stuttgart, Mario Prosiegel. 6. Corrigan ML, Escuroa AA et al. Nutrition in the stroke patient. Nutr Clin Pract 2011; 26 (3): 242–252. 7. Aquilani R, Sessarego P, Iadarola P, Barbieri A, Boschi F. Nutrition for Brain Recovery After Ischemic Stroke: An Added Value to Rehabilitation. Nutr Clin Pract 2011; 26 (3): 339–345. 8. Alshekhlee A, Ranawat N, Syed TU, Conway D et al. National institutes of health stroke scale assists in predicting the need for percutaneous endoscopic gastrostomy tube placement in acute ischemic stroke. J Stroke Cerebrovasc Dis 2010; 19 (5): 347–352. 9. Craig LD, Nicholson S, Silverstone FA, Kennedy RD. Use of a reduced-carbohydrate, modified-fat enteral formula for improving metabolic control and clinical outcomes in long-term care residents with type 2 diabetes: results of a pilot trial. Nutrition 1998; 14 (6): 529–534.
ventionen stets überprüft und angepasst
werden können.
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