Transkript
TRINKNAHRUNG
Praktische Anwendung der Zusatztrinknahrung anhand von Patientenbeispielen
KARIN BLUM*, CRISTINA HUGENTOBLER**
Karin Blum
In der Praxis stellen wir häufig Probleme bei der Anwendung und Verschreibung von Zusatztrinknahrungen fest. Nachfolgend beschreiben wir anhand von vier Patientenbeispielen häufige Fehlerquellen und zeigen mögliche Lösungswege auf. Wir hoffen, damit die Abgabe von Zusatztrinknahrung qualitativ und nachhaltig zu optimieren und so den Ernährungszustand unserer Patienten positiv zu beeinflussen.
Cristina Hugentobler
«Haben Sie Aktien bei dieser Firma?»
«Das brauche ich doch gar nicht! Noch mehr Chemie!»
«Nach diesem Drink war ich voll, und ich konnte das Mittagessen nicht mehr essen.»
«Mir war extrem übel nach der Einnahme dieses Getränks!»
«Ich würde es schon trinken, aber in den letzten Tagen habe ich keines mehr bekommen.»
«Ich nehme doch schon eine Trinknahrung, da muss ich doch gar nichts mehr essen, oder?»
Diese und noch viele andere Aussagen von Patienten hören wir täglich im Zusammenhang mit der Anwendung von Zusatztrinknahrungen. Sie weisen auf die vielfältigen Schwierigkeiten in der Praxis hin.
1. Patientenbeispiel
Für eine ambulante Ernährungsberatung wurde eine 82-jährige Patientin mit schmerzbedingter Anorexie sowie einer depressiven Verstimmung angemeldet. Im Ernährungsassessment mussten unter anderem eine eingeschränkte funktionelle Mobilität und ein Gewichtsverlust von 10 Prozent ihres Körpergewichts im letzten halben Jahr festgestellt werden. Nach drei Ernährungsberatungsterminen innert 3 Monaten konnte sie 2 kg zuneh-
*Ernährungsberaterin HF, Stadtspital Waid, Zürich **Ernährungsberaterin HF, Stadtspital Triemli, Zürich
men und ihre Freundin zweimal in der Woche besuchen, was ihr vorher nicht mehr möglich gewesen war. Dies gelang ihr, weil sie nun täglich im benachbarten Altersheim ein weich gekochtes Mittagessen einnahm und 1 bis 2 Trinknahrungen à 400 kcal und 18 g Protein pro Tag konsumierte. Bei der ersten Erwähnung der Nahrungssupplemente wehrte sie zunächst gleich ab und meinte: «Nein, ich kaufe nichts dergleichen, das ist nichts für mich. Haben Sie etwa Aktien bei dieser Firma?» Nach einigen Erklärungen degustierte sie verschiedene Aromen und war damit einverstanden, zum Frühstück eine neutrale Trinknahrung mit einem Schokoladenpulver zu mischen und in der Mikrowelle leicht zu erwärmen. Dieses Frühstück deckte nun ein Drittel ihres Energie- und Proteinbedarfs ab. 2- bis 3-mal pro Woche nahm sie auch zum Nachtessen, statt
eines «normalen» Café complet, eine neutrale Trinknahrung mit einem Espresso verfeinert und ass dazu ein Käsebrot. Die energie- und proteinreiche Zusatztrinknahrung sowie die regelmässige Bewegung durch den täglichen Gang ins Altersheim mit dem dort servierten Mittagessen haben es ihr ermöglicht, wieder eine bessere Lebensqualität zu erreichen. Ihre anfängliche Skepsis konnte durch das persönliche Gespräch und gemeinsames Degustieren überwunden werden.
2. Patientenbeispiel
Die Onkologin meldete einen 69-jährigen Patienten mit der Diagnose eines stenosierenden Ösophaguskarzinoms zur Ernährungsberatung an. Der Tumor sollte mit einer palliativen Chemotherapie behandelt werden. Der Patient kam sehr motiviert in die Beratung und hatte bereits in der Apotheke Zusatztrinknahrungen gekauft. Sein Energiebedarf lag bei 2400 kcal und 80 g Protein, um das Gewicht zu erhalten. Er konnte nur flüssige bis pürierte Speisen problemlos schlucken und zu sich nehmen. In den letzten 3 Monaten hatte er 12 Prozent seines Körpergewichts verloren. Er kam mit diversen Milchmixgetränken, Shakes aus Proteinpulver vom Sport-
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center, Suppen und Süssgetränken sowie einer Zusatztrinknahrung auf 1800 kcal und 50 g Protein. Ziel der Ernährungsberatung war ein Gewichtserhalt, damit er die vorgesehene Chemotherapie möglichst wie geplant durchführen konnte. Die von ihm gekaufte Zusatztrinknahrung in der Apotheke enthielt 300 kcal und 12 g Protein. Er war der Meinung, dieser Drink sei ein vollwertiger Mahlzeitenersatz und decke somit einen Drittel seines täglichen Bedarfs. In der Beratung wurde gemeinsam ein ideales Tagesbeispiel mit 2400 kcal und 80 g Protein ausgearbeitet. Dieses enthielt nun, neben seiner bisherigen Flüssignahrung, 2 Zusatztrinknahrungen (1 mit 300 kcal und 1 mit 400 kcal) sowie 3-mal täglich 33 ml einer reinen Fettlösung, was ihm nochmals 300 kcal einbrachte. Damit gelang es ihm, sein Gewicht konstant zu halten und die vorgesehene Chemotherapie durchzuziehen. Häufig zeigt sich in der Beratung, dass die Trinknahrungen kalorisch überbewertet werden und der eigene Energiebedarf unterschätzt wird. Dank der professionellen Unterstützung durch die Ernährungsberatung kann eine geeignete Zusammenstellung aus dem vielfältigen Angebot der Nahrungssupplemente erfolgen und das erwünschte Ziel erreicht werden.
3. Patientenbeispiel
Nach 2-monatigem Spitalaufenthalt wurde die 79-jährige Patientin mit einem Dekubitus von 15 cm Durchmesser sowie einer Wundheilungsstörung nach Unterschenkelamputation bei Diabetes mellitus Typ 2 bei der Ernährungsberatung angemeldet, weil sie kaum mehr ass. Die Situation im Patientenzimmer zur Essenszeit erwies sich als sehr schwierig. Die Patientin versuchte, auf der Seite liegend das Essen einzunehmen: Die Hörnli rutschten von der Gabel, und die Suppe verschüttete sie auf der Decke. Die bereits verordnete Zusatztrinknahrung wurde unzuverlässig gebracht und mit folgendem Kommentar serviert: «Sie Arme, jetzt müssen Sie auch noch diesen grässlichen Drink hinunterwürgen.»
Das Ernährungsassessment ergab einen Gewichtsverlust von 5 Prozent des Körpergewichts während der Hospitalisation, einen Oberarmumfang unter der 10. Perzentile, eine Geschmacksveränderung aufgrund diverser Medikamente (u.a. i.v.applizierte Antibiotika) sowie eine Appetitlosigkeit. Die Ernährung wurde auf eine mit Protein, Fett und Kohlenhydrat angereicherte, pürierte Kost umgestellt. Diese ermöglichte ihr, das Essen halb liegend mit dem Löffel einzunehmen. Die angereicherte Suppe und die Getränke wurden neu im Schnabelbecher serviert. Schluckweise trank sie 1 Liter Tee, der mit 200 ml einer fettfreien Trinknahrung gemischt worden war. Zusätzlich bekam sie um 14 Uhr und um 19 Uhr 100 ml eines kalten, hochkalorischen und proteinreichen Nahrungssupplements mit einem Trinkhalm serviert, ausserdem wurden Vitamine und Spurenelemente substituiert. Das konsequente Konsumieren der verschriebenen Drinks können wir in der Ernährungsberatung nur selten beobachten. Häufiger erleben wir nach 2 bis 4 Wochen einen Motivationsrückgang, bis zur totalen Ablehnung der Trinknahrung. Auch werden die Patienten durch das Spitalpersonal oft nicht genügend unterstützt. Dann ist wieder die Intervention der betreuenden Ernährungsberatung gefragt. Aus diesem Grund sollte der Kontakt der Ernährungsberatung zu den trinknahrungskonsumierenden Patienten beibehalten oder bei Bedarf wieder neu gesucht werden. Eine regelmässige Schulung des Personals über die Einnahme und den Nutzen der Nahrungssupplemente ist unerlässlich.
4. Patientenbeispiel
Der 52-jährige Patient wurde während des stationären Aufenthalts an die Ernährungsberatung überwiesen. Der Spitalaufenthalt war aufgrund eines Infekts bei schwerer COPD erforderlich. Der Patient zeigte grosse Erleichterung beim Erstgespräch, dass er sein Ernährungsproblem mit einer Fachperson besprechen konnte. Der Hausarzt hatte ihm 4 Zusatztrinknahrungen pro Tag verordnet, ohne seine übri-
Abbildungen: Beispiele handelsüblicher Nahrungsmittel, die 400 kcal, 20 g Eiweiss und die Hälfte des Bedarfs an Vitaminen und Spurenelementen enthalten.
Abbildung 1: 2 Eier, 6 Stk. Dinkelgebäck, 14 g Mayonnaise, ½ Multivitamintablette
Abbildung 2: 30 g Emmentaler Käse, 9 g Butter, 50 g Pagnolbrot, ½ Multivitamintablette
Abbildung 3: 250 g Früchtequark, 50 g Pagnolbrot, ½ Multivitamintablette
Abbildung 4: 1 Paar Wienerli, 50 g Pagnolbrot, 1 dl Orangensaft, ½ Multivitamintablette
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ge Nahrungszufuhr und Essgewohnheiten einzubeziehen. Diese Verschreibung erfolgte wegen des drastischen Gewichtsverlusts von 25 Prozent des Körpergewichts innerhalb eines Jahres. Der Patient fühlte sich in seiner Lebensqualität stark beeinträchtigt, da er bei den Familienmahlzeiten kaum Appetit zeigte und die Trinknahrungen ihm Übelkeit und Aufstossen verursachten. Die Frustration über das Scheitern dieser Therapie war gross, zumal er den Gewichtsverlust nicht aufhalten konnte. Um das Ernährungsziel, die Stabilisierung des Gewichts mit 2300 kcal und 78 g Protein, zu erreichen, wurde die Ehefrau in die Beratung miteinbezogen. Seine Mahlzeiten reicherte sie nun mit Proteinpulver und Vollrahm sowie Öl an. Dies ergab eine Kalorienzufuhr von 1900 kcal sowie 60 g Protein. Die Zusatztrinknahrung wurde auf 200 ml pro Tag reduziert und in 4 Portionen à 50 ml zum Frühstück, Mittagessen, Abendessen und als Spätimbiss eingenommen. Zusätzlich nahm er ein Multivitaminpräparat ein. Die Menge der verordneten Zusatztrinknahrungen sollte immer individuell mit den Gewohnheiten und Möglichkeiten des Klienten abgestimmt und im Verlauf überprüft und angepasst werden. Als betreuende Fachpersonen benötigen wir vielfältige Lösungswege, um den individuellen Bedürfnissen der Patienten gerecht zu werden. Nachfolgend einige wichtige Punkte, die den Patienten die Einnahme von Zusatztrinknahrungen erleichtern können:
Allgemeines zur Anwendung
• Die Trinknahrung, die zur ergänzenden Ernährung bestimmt ist, sollte nicht zu den regulären Essenszeiten angeboten werden, sondern zwischen den Mahlzeiten oder als Spätimbiss. So ist die Akzeptanz höher, und der Appetit auf die regulären Menüs wird nicht beeinträchtigt.
• Vor der Anwendung das Nahrungssupplement gut schütteln, da sich bei den konzentrierten Lösungen schwerere Bestandteile am Boden absetzen können.
• Wegen des hohen Kaloriengehalts sollte die Trinknahrung langsam, in kleinen Schlucken getrunken werden.
• 200 ml können auch auf 4 Portionen à 50 ml über den Tag verteilt wie ein Medikament eingenommen werden.
• Die Trinknahrung bei Raumtemperatur lagern, nach Anbruch im Kühlschrank aufbewahren und in maximal 12 Stunden aufbrauchen. Gekühlt servieren.
• Abklären, welche Hilfeleistung der Patient benötigt, um die Trinknahrung problemlos einnehmen zu können (Öffnen des Verschlusses, Platzierung in Griffnähe).
• Die Trinknahrung im Glas, Schnabelbecher, in der Tasse oder direkt aus Packung mit dem Trinkhalm anbieten.
• Produkt der Person angepasst auswählen (Nährstoffe, Konsistenz).
• Verschiedene Geschmacksrichtungen ausprobieren.
• Geschmack auf Wunsch täglich variieren, um die Akzeptanz über längere Zeit aufrechtzuerhalten.
Süsse Trinknahrung • Schmeckt am besten gekühlt, eventuell
mit Eiswürfel oder einer Kugel Vanilleglace; • Kann auch zu Eiswürfeln gefroren werden und so in Portionen über den Tag verteilt eingenommen werden; • Kann zum Beispiel mit Kakao, Kaffee, Vanille oder Vanillezucker, Honig oder Zimt verfeinert werden; • kann, falls zu süss, mit Wasser, Milch oder Apfelsaft verdünnt werden, oder es sollte eine Zusatznahrung mit neutralem Geschmack gewählt werden.
Würzige Trinknahrung • Schmeckt am besten erwärmt (bis
35 °C). Das Erwärmen ist auch in der Mikrowelle möglich, sie muss zuvor jedoch in ein Glas oder eine Tasse umgeleert werden; • Lässt sich beispielsweise auch mit Gemüse-, Rinder- und Hühnerbouillon sowie Salz, Pfeffer, Curry verfeinern.
Milchshakeähnliche Trinknahrung • Einen Teil der Milch in Saucen, Kuchen,
Dessert oder Getränken durch Trinknahrung ersetzen; • Die Trinknahrung darf kurz erhitzt, aber nicht gekocht werden. Anwendungsbroschüren und Rezeptvorschläge zu den einzelnen Supplementen sind bei den Herstellern gratis erhältlich.
Fazit
Trinknahrungen zeichnen sich durch hochwertige Proteine, eine hohe Energiedichte sowie Vitamine und Spurenelemente aus – sie sind aber nicht die einzige Möglichkeit, dem Patienten eine hochkalorische, proteinhaltige und bedarfsdeckende Nahrung zu ermöglichen. In der Praxis arbeiten wir ebenso häufig mit der Anreicherung durch Fett/Öl, mit Protein- und Kohlenhydratpulver und kalorienreichen konventionellen Lebensmitteln sowie mit Vitamin- und Spurenelementsupplementen. Für jeden Patienten gilt es, die geeignete Trinknahrung zu finden und seine Ernährung entsprechend anzupassen, damit er seinen Bedarf decken und einen guten Ernährungszustand erreichen kann. Regelmässige Überprüfung und die Anpassung an neue Umstände tragen dazu bei, dass der Patient seine gewünschten Ziele auch erreicht. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit und die Schulung des Personals sind für ein optimales Outcome unerlässlich.
Korrespondenzadresse: Karin Blum Ernährungsberatung Tièchestrasse 99, 8037 Zürich
Literatur: 1. AKE, Empfehlungen für die parenterale und enterale Ernährungstherapie des Erwachsenen. 2. Ernährungsprobleme bei Krebs; Krebsliga Schweiz, 7. Überarbeitete Version, Bern 2010. 3. DGEM-Leitlinie Enterale Ernährung: Ernährungsstatus.
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