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EDITORIAL
Liebe Leserinnen, liebe Leser
Vielleicht fragen Sie sich, weshalb wir gerade jetzt eine Ausgabe der SZE mit dem Thema Trinknahrungen – oder wie wir im Fachchargon sagen: «oral nutritional supplements» (ONS), die sogenannte enterale Ernährung ohne Sonde – herausgeben. Der Anlass ist ein Nonplusultra der klinischen Ernährung und ein grosses Plus für unsere Patientinnen und Patienten. Eine Kerngruppe der Gesellschaft für Klinische Ernährung Schweiz (GESKES), deren Präsident ich zurzeit bin, hat erreicht, dass diese ONS als Pflichtleistung ab 1. Juli 2012 in die obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP) aufgenommen wurden. Bedingung ist allerdings, dass die medizinischen Indikationen der GESKES/des SVK (Schweizerischer Verband für Gemeinschaftsaufgaben der Krankenversicherer; siehe www.GESKES.ch unter Homecare) erfüllt sind. Damit ist garantiert, dass diese Pflichtleistung von den Krankenversicherern nur erbracht werden muss, wenn wirklich eine strenge medizinische Indikation besteht. Damit ist auch die immer wieder gehörte latente Angst gebannt, dass Trinknahrungen aus dem Wellness- und Sportbereich krankenkassenpflichtig würden. Die Autorinnen und Autoren der vorliegenden Ausgabe der SZE haben eine umfassende Arbeit geleistet und legen Stateof-the-Art-Beiträge vor. Die derzeitige wissenschaftliche Evidenz für die Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit wird von Alexandra Uster eindrücklich präsentiert – sie war auch die Autorin des Antrags an die ELGK (Eidgenössische Kommission für allgemeine Leistungen und Grundsatzfragen) des BAG (Bundesamt für Gesundheit), welche die Kassenpflicht der ONS bewirkt hat. Tatsächlich wurde in den letzten Jahren viel Evidenz erbracht, dass ONS wirksam sind und sowohl Morbidität als auch Mortalität mehrerer Patientengruppen günstig beeinflussen. Die Wirksamkeit des Einsatzes von ONS im perioperativen Bereich wird von Stefan Breitenstein eindrücklich gezeigt. Sollten Sie einmal in die Lage kommen, einen grösseren chirurgischen Eingriff durchstehen zu müssen, bestehen Sie auf dem Einsatz von ONS! Der präoperative Einsatz der Immunonutrition vor grossen bauchchirurgischen Eingriffen hat sich leider, trotz der überzeugenden Evidenz für deren Wirksamkeit, auch in der Schweiz noch nicht genügend duchgesetzt.
Sehr differenziert wird der Einsatz von ONS in der Nephrologie und vor allem beim oft polymorbiden Dialysepatienten von Luzia Nigg und Franziska Rohrer diskutiert. Dabei wird einmal mehr offensichtlich, wie wichtig das Erkennen und Management der Malnutrititon (Unterernährung) beim Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz ist. Schade eigentlich, dass die Nephrologen ein «Extrazügli» hinsichtlich der Terminologie (PEW, Protein-Energy-Wasting) und des Screenings – der gut validierte und breit anerkannte NRS (Nutrition Risk Score 2002 nach Kondrup) wird gerade in der Nephrologie nicht angewendet – fahren. Dafür können unsere zwei kompetenten Autorinnen allerdings nichts. Sehr gefreut haben mich auch das Interview mit Michèle Leuenberger über die Spezialprodukte und der Beitrag von Karin Blum und Cristina Hugentobler. Kritisch und gut nachvollziehbar zeigt Michèle Leuenberger, dass es wenige harte Indikationen für die von der Industrie immer wieder angepriesenen Spezialprodukte gibt – im Sinn wohl: Hauptsache ist, dass wir zeit- und bedarfsgerecht ernähren; die Produktewahl ist sekundär. Karin Blum und Cristina Hugentobler illustrieren auf sehr plastische und spannende Art und Weise die Praxis der enteralen Ernährung ohne Sonde. Diese Fallbeispiele lesen sich wie ein Krimi aus dem Krankenhaus! Der letzte Beitrag von Adrian Baumann und seiner Arbeitsgruppe zeigt, wie anregend klinisch angewandte Forschung sein kann. Die Studienanlage ist sicher noch im Pilotstadium, und die Zahlen sind zu klein, um wichtige Schlüsse zu ziehen. Der Ansatz ist jedoch Erfolg versprechend: Durch die viermalige Abgabe kleiner Dosen von ONS (im sog. MedPass-Modus) scheint sich die Compliance der Patienten zu verbessern; damit werden möglicherweise die Therapieempfehlungen zur Zufuhr der verordneten ONS besser eingehalten. Ich wünsche Ihnen viel Freude und Spannung beim Lesen dieser äusserst gelungenen und auf hohem Niveau verfassten Ausgabe der SZE.
Prof. Dr. med. Peter E. Ballmer Kantonsspital Winterthur
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