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Wie sieht sinnvolles Gedächtnistraining aus?
MIKE MARTIN
Lernen scheint am erfolgreichsten, wenn Personen ein grosses Interesse an einer Verbesserung haben, die Verbesserung sich positiv im Alltag auswirkt oder die Ausgangsleistung bereits relativ hoch ist. Daher ist es für einen optimalen Lernerfolg im Alter umso wichtiger, die Lernaufgabe auf die individuellen Lernziele und -möglichkeiten abzustimmen. Der nachfolgende Beitrag beschreibt, wie das gelingen kann.
Das Alter ist durch ein enormes adaptives Potenzial beziehungsweise die Veränderbarkeit von Fertigkeiten gekennzeichnet. Es gibt für das Lernen keine Altersgrenze, wenn sich auch das Ausmass und die Bedingungen für effektives Lernen mit dem Alter ändern. So profitieren in Trainingsstudien alte Personen stärker als junge Personen, wenn aus dem Alltag vertrautes Material verwendet wird, das Lerntempo selbst bestimmt werden kann, das Niveau an schulischer und beruflicher Bildung höher ist, die Lernenden körperlich gesünder sind, das Lernmaterial sensorische Veränderungen ausgleicht (z.B. durch Schriftgrösse, Kontraste, Beleuchtung), Gelegenheit besteht, sich mit dem neuen Lernmaterial und der neuen Lernsituation im Voraus zu beschäftigen, sodass man weiss, was auf einen zukommt, die Instruktionen konkret und eindeutig sind, externe Hilfen genutzt werden können, die Lernenden nicht ermüdet sind und sich nicht unter Zeitdruck wähnen, Störungen durch die Einführung neuen Materials minimal sind und das Lernen den individuellen Bedürfnissen sowie Stärken nach einem Assessment angepasst ist (1). Grundlage für das adaptive Potenzial im Alter ist die Veränderbarkeit von Verhalten
und Erleben, die als Plastizität bezeichnet wird und eng mit neuronalen Veränderungen im Gehirn einhergeht. Eindrückliche Belege für die neuronale Plastizität im Alter sind Untersuchungen, die zeigen, dass bei der Bearbeitung kognitiver Aufgaben alte Personen gleich gute Leistungen wie junge Personen erbringen können; die aktivierten Gehirngebiete unterscheiden sich jedoch dabei (2). Entwicklung verläuft nicht in vorbestimmter und immer gleicher Weise, sondern man kann aktiv und präventiv in sie eingreifen. Gerade im Zusammenhang mit Befunden, die zeigen, dass im hohen Alter kognitive Leistungsfähigkeit und Alltagskompetenz stark korrelieren (3), ergibt sich ein Bedarf an kognitiven Trainingsmethoden, die die vielfältigen individuellen Kompensationsmöglichkeiten älterer Erwachsener bei der Bewältigung alltäglicher kognitiver Aufgaben einbeziehen. Solche individualisierten Trainingsmethoden können zum Erhalt der Alltagskompetenz bis ins hohe Alter beitragen. Eine Reihe von Untersuchungen zur Plastizität kognitiver Leistungsfähigkeit über die Lebensspanne belegen, dass es gesunden Erwachsenen jeden Alters gelingt, signifikante und bedeutsame Lernfortschritte zu erzielen (4). Dabei
zeigt sich eine hohe, domänenspezifische Varianz der Leistungsveränderungen innerhalb und zwischen Personen (5).
Vielfältiges Übungsangebot entscheidend Bei den meisten Trainingsinterventionen wird davon ausgegangen, dass sich ein vielfältiges Übungsangebot vorteilhaft auf den Selbstwert und die Gedächtnisleistung der Trainierten auswirkt. Jedes Training strebt an, Defizite, die durch feh-
MERKSÄTZE
• Individuell unterschiedliche Ziele sind Voraussetzung für sinnvolles Lernen.
• Bestimmung von Zielen ist damit essenziell für ein effektives Training.
• In effektiven Trainingsmethoden bestimmt die Person selbst den Einsatz von Strategien.
• Effektive Trainingsmethoden lassen sich ohne Zeitverlust in den Alltag integrieren.
• Durch die Alltagsintegration wird Training normaler Teil des Lebensstils.
Hinweis: Eine ausführlichere Version der Ausführungen und Hinweise zur Umsetzung im Beratungszusammenhang findet sich in Zöllig, Eschen & Martin, 2010 (14).
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lende Übung oder einen biologisch bedingten Altersabbau entstanden sind, durch die im Rahmen des Trainings gebotenen Übungsmöglichkeiten auszugleichen. Es wird angenommen, dass Menschen mit grösseren Leistungsdefiziten auch mehr von einem Training profitieren müssten (dagegen z.B. 6) oder dass ein Transfer der Leistungsverbesserung auf den Alltag erfolgt (z.B. 7). Manche Fachleute setzen auf die mögliche Kompensation von Gedächtnisdefiziten durch die Vermittlung von Strategien, und viele nehmen an, dass frühes Training langfristig positive Auswirkungen auf die kognitive Leistungsfähigkeit hat. Ausgegangen wird auch von der Wirksamkeit von Umbewertungen, der Vermittlung metakognitiver Strategien sowie von Übungen, die den Nichtgebrauch einzelner kognitiver Fertigkeiten ausgleichen können oder einer Kombination dieser Faktoren; dementsprechend fliessen diese Konzepte in entsprechende Trainingsprojekte ein (8, 9). Sollen beispielsweise Alltagsfunktionen verbessert werden, dann müssen diese Funktionen direkt trainiert werden (10). Darüber hinaus sollten individuelle Voraussetzungen berücksichtigt werden, da bekannt ist, dass sowohl die objektiv erfassbare Leistung als auch die subjektiv wahrgenommene Leistung Einfluss auf die Trainingswirksamkeit haben – und häufig nicht übereinstimmen (11). Die Forderungen an eine individualisierte und evaluierbare Trainingskonzeption für normale ältere Erwachsene, die auf die Verbesserung alltagsrelevanter kognitiver Fähigkeiten abzielt, müsste jedoch zunächst die individuellen Voraussetzungen der Trainingswilligen erfassen. Danach sollten alltagsnahe Fertigkeiten trainiert werden, und anschliessend sollte die Wirksamkeit der einzelnen Trainingselemente mit objektiven und subjektiven Methoden evaluiert werden. Konzeptionen dieser Art finden sich bereits im Bereich der klinischen Gerontologie, wo viele rehabilitative und präventive Bemühungen auf eine Verbesserung der Gedächtnisleistung im Alltag abzielen. Hier finden sich auch Trainingsmethoden, die auf die individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten einer Person zugeschnitten
sind. Allerdings dürfte sich die Durchführung langfristig angelegter Einzeltrainings für die grosse Zahl der trainingswilligen normalen älteren Erwachsenen als wenig praktikabel erweisen.
Trainingsmethoden
Mit modularen Trainingskonzepten, die im Baukastensystem jeweils einzelne Trainingsbestandteile evaluieren und im Hinblick auf individuelle Ressourcen- und Bedürfnislage eingesetzt werden können, lassen sich die Vorteile eines individuell gestalteten und alltagsnahen Trainings im klinischen Bereich mit den Erfordernissen eines ökonomischen und evaluierbaren Trainings für normale ältere Erwachsene kombinieren. Die Module können also jeweils einzelne Fähigkeiten wie schnelle Informationsverarbeitung, Schlussfolgern, Aufmerksamkeit, Doppelaufgabenleistung oder Gedächtnis trainieren, für jede Person wird aber die Kombination zusammengestellt, die die grössten Effekte verspricht. Da sich die Interventionsmodule variabel auf die unterschiedlichen kognitiven und motivationalen Voraussetzungen der potenziellen Trainingsteilnehmer abstimmen lassen, können unterschiedlichen Zielgruppen entsprechende adäquate und erfolgsmaximierende Angebote gemacht werden (9). Ein darüber hinausgehendes Modell ist das «Lebensqualitätsmanagementmodell der Ressourcenorchestrierung» (1, 12). Es berücksichtigt die individuellen Voraussetzungen jeder Person und ihrer Umwelt, um die jeweils persönlich wichtigen Ziele zur Erhaltung oder Steigerung der Lebensqualität zu erreichen. Dabei müssen die Leistungsparameter einzelner Fertigkeiten immer im Hinblick auf die individuellen Lebensumstände gesehen werden, in denen sich ältere Personen entwickeln, und die genutzt, vermieden oder beeinflusst werden können (13). Das Verständnis des Alterns setzt dazu voraus, dass Personen jeweils individuelle Ziele verfolgen, zu deren Erreichen die verfügbaren Ressourcen je nach Bedarf und Möglichkeiten eingesetzt werden. Wichtig ist, dass Personen ihre verschiedenen Ressourcen mit zunehmendem
Alter und in Abhängigkeit individueller Kontexte in ganz unterschiedlichem Mass aktiv einsetzen (= orchestrieren), um selbst gesetzte Ziele zu erreichen. Der grundlegende Gedanke dabei ist, dass sich zwar die individuellen (und nicht immer gleichen) Ziele und die Art, sie zu realisieren, zwischen verschiedenen Personen in unterschiedlichen Lebensabschnitten unterscheiden mögen, aber dennoch in gleicher Weise erreicht werden können. Der Altersvergleich einzelner Fähigkeiten ist demnach nur sinnvoll im Zusammenhang mit ihrer Bedeutung für die Auseinandersetzung mit den altersunterschiedlichen Lebensaufgaben und -herausforderungen.
Etüden für den optimalen Orchesterklang
Man kann sich die «Entwicklung der kontextadäquaten Ressourcenutzung» analog zu einem Orchester (= Person) vorstellen, das einen harmonischen Gesamtklang (= Lebensqualität) anstrebt und dazu unterschiedliche Musikerinnen und Musiker (= Fähigkeiten) einsetzt. Der optimale Klang kann nur erreicht werden, indem die richtigen Personen (= die für die Aufgabenstellung relevanten Fähigkeiten) für das jeweilige Stück (= Passungsherstellung zwischen Fähigkeit und Anforderung) zusammengestellt werden, die fehlenden Fähigkeiten durch Übung verbessert werden (= Plastizitäts-/Kapazitätsausschöpfung) oder das passende Stück für die vorhandenen Fähigkeiten ausgewählt wird (= Umweltanpassung). Dabei ist es am effektivsten, wenn nicht alle Musiker das Gleiche üben, sondern jedes Instrument das jeweils dazu Passende. Schliesslich sind der Klang und das Stück für jedes Orchester unterschiedlich, aber es kann in gleicher Weise «gut» klingen, so wie es gut gespielte klassische Musik ebenso wie gut gespielte Rockmusik gibt. Angewandt auf die alternde Person kann man davon sprechen, dass sie ihre Fähigkeiten und Aktivitäten im Hinblick auf ihre Ziele und ihre Lebensqualität aktiv «orchestriert». Auch wenn das Repertoire an Fähigkeiten, Aktivitäten, Plastizitätsausschöpfung und Umweltanpassung für alle gleich ist, ergeben
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sich aus der zielgerichteten Orchestrierung jeweils unterschiedliche Kombinationen, die in gleicher Weise zum Ziel führen können. Gedächtnisleistungen werden von Personen also zielgerichtet und aktiv orchestriert, sodass jede Person als ihr eigener «Memory Manager» angesehen werden kann. Entsprechend müssen zur Verbesserung der Gedächtnisleistung die personen- und kontextbezogenen Voraussetzungen individuell analysiert und trainiert werden. Geschieht dies, kann von einem sinnvollen, weil an den individuellen Zielen einer Person orientierten Gedächtnistraining gesprochen werden. Praktisch muss man dazu gemeinsam mit der Person herausfinden, welche Ziele ihr wichtig sind und wann sie diese Ziele erreicht hat, also auch selbst davon überzeugt ist, das Ziel hundertprozentig erreicht zu haben. Die Ziele können zwischen Personen stark variieren. Dem einen kann es wichtig sein, im Betrieb bessere Arbeitsleistungen zu erbringen, dem anderen, die Mitglieder eines Vereins beim Namen zu kennen. Gemeinsam kann dann überlegt werden, welche Aktivitäten zu diesem Ziel am besten beitragen. Der Gedächtnistrainer (oder besser: Gedächtnisberater) verfügt dabei über umfassende Kenntnisse möglicher Strategien, die in die Beratung eingebracht werden. Die Aktivitäten lassen sich im besten Fall so in den Alltag integrieren, dass für das Training keine zusätzliche Zeit aufgewendet werden muss, sondern der Alltag selbst sozusagen zum Trainingsumfeld wird. So wie man unter Umständen durch die Velonutzung (anstelle des Autos) gleich lang zu einem Ort unterwegs ist, dadurch aber gleichzeitig körperlich aktiv ist, so lässt sich auch der Alltag kognitiv stärker «aufladen» und so lassen sich im besten Fall zusätzliche Übungseinheiten ohne Zeitverlust generieren. Hier bieten in Zukunft auch die neuen Technologien wie leicht portable Computer die Möglichkeit zum Training unterwegs. Interessanterweise ist das Ziel eines solchen Trainings weniger die Veränderung oder Verbesserung, sondern die Stabilität der erreichten Ziele, die sich durch varia-
ble Nutzung verschiedener kognitiver und nicht kognitiver Prozesse realisieren lässt. Das Ziel eines sinnvollen Gedächtnistrainings kann daher auch bei verringerten Ressourcen erreicht werden; Gegenstand ist dabei vor allem die Unterstützung der Orchestrierung, nicht nur die Verbesserung einzelner Teilleistungen. Übertragen auf das Gedächtnistraining heisst das, dass das Training einzelner Fähigkeiten in einem ganzheitlichen Kontext gesehen werden muss. Einzelne Fähigkeiten zu verbessern, erleichtert zwar die Orchestrierung, da Personen dadurch über bessere Instrumente oder Werkzeuge zur individuellen Zielerreichung verfügen. Aber erst die individuelle Orchestrierung stabilisiert das Wohlbefinden. Die Auswahl von Instrumenten und die Orchestrierung selbst müssen für eine optimale Trainingswirkung Bestandteil des Trainings sein. In diesem Sinn werden nicht mehr nur einzelne Gedächtnisleistungen trainiert, sondern man bildet durch das Training Personen ganzheitlich als ihre eigenen Memory-Manager aus.
Fazit
Lernen findet nicht in einem sinnfreien, bedeutungs- oder emotionslosen beziehungsweise zeit- und kulturunabhängigen Kontext statt, sondern ist Bestandteil des Lebenszusammenhangs einer Person. Lernen, das nicht in einem sinnvollen Zusammenhang erlebt werden kann, und Lernen, das keinerlei Freude bereitet, hat keine nachhaltige Wirkung. Die individuelle Gestaltung des eigenen Lebens, die Suche nach sinnvollen Lebensinhalten und -rollen, die Kenntnis eigener Wünsche und Interessen ist daher die Grundlage der individuellen wie der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Lernen.
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Mike Martin Psychologisches Institut – Gerontopsychologie Binzmühlestr. 14, 8050 Zürich E-Mail: m.martin@psychologie.uzh.ch
Literatur: 1. Martin M, Kliegel M (2010). Psychologische Grundlagen der Gerontologie, 3. Aufl. In C Tesch-Römer, HW Wahl, S Weyerer, S Zank (Reihenhrsg.), Grundriss der Gerontologie: Band 3. Stuttgart: Kohlhammer. 2. Wilkening F, Freund AM, Martin M (2008). Entwicklungspsychologie. Weinheim: Beltz Verlag. 3. Reischies FM, Lindenberger U (1996). Grenzen und Potentiale kognitiver Leistungsfähigkeit im Alter. In KU Mayr, PB Baltes (Hrsg.), Die Berliner Altersstudie: Das höhere Alter in interdisziplinärer Perspektive (S. 351–378). Berlin: Akademie Verlag. 4. Schaie KW, Baltes PB (1996). Intellectual development in adulthood: The Seattle Longitudinal Study. Cambridge: Cambridge University Press. 5. Weinert FE (1995). Gedächtnisdefizite und Lernpotentiale: Diskrepanzen, Differenzen und Determinanten des geistigen Alterns. In A Kruse & R SchmitzScherzer (Hrsg.), Psychologie der Lebensalter (S. 209–216). Darmstadt: Steinkopff. 6. Baltes PB (1997). On the incomplete architecture of human development: The fourth age. Psychologische Rundschau, 48 (4), 191–210. 7. Oswald WD, Fleischmann UM (1995). Nürnberger Altersinventar (NAI). Göttingen: Hogrefe. 8. Bäckman L (1989). Varieties of memory compensation by older adults in episodic remembering. In LW Poon, DC Rubin, BA Wilson (Hrsg.), Everyday Cognition in Adulthood and Late Life (S. 509–544). Cambridge, MA: Cambridge University Press. 9. Martin M, Clare L, Altgassen AM, Cameron MH, Zehnder F (2011). Cognition-based interventions for healthy older people and people with mild cognitive impairment. Cochrane Database of Systematic Reviews 2011, Issue 1. Art. No.: CD006220. DOI: 10.1002/14651858.CD006220.pub2. 10. Deisinger K, Markowitsch HJ (1991). Effectiveness of memory retraining programs in the treatment of memory disorders. Psychologische Rundschau, 42 (2), 55–65. 11. Knopf M (1993). Gedächtnistraining im Alter: Müssen ältere Menschen besser lernen können oder ihr Können besser kennenlernen? In KJ Klauer (Hrsg.), Kognitives Training (S. 319–342). Göttingen: Hogrefe. 12. Martin M, Schneider R, Eicher S, Moor C (2012). The functional Quality of Life (fQOL)-model. A new basis for quality of life-enhancing interventions in old age. GeroPsych. The Journal of Gerontopsychology and Geriatic Psychiatry, 25 (1), 33–40. 13. Martin M, Moor C (2012). How psychology as a discipline can profit from focusing psychological research on the individual. European Psychologist, 17 (1), 31–32. 14. Zöllig J, Eschen A, Martin M (2010). Lebenslanges Lernen: Vom Gedächtnistraining zur Ausbildung als Memory Manager. In H Schloffer, E Prang, A FrickSalzmann (Hrsg.), Gedächtnistraining: Theoretische und praktische Grundlagen (S. 4–12). Heidelberg: Springer.
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