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EDITORIAL
Hirnabbau: Vorbeugen ist besser als Heilen …
Die Generation der Babyboomer kommt langsam, aber sicher in die Jahre, was in den nächsten zwei Dekaden mit rund einer Verdoppelung der über 80-Jährigen einhergehen wird. Heute leidet etwa jeder dritte Senior über 80 an einer demenziellen Entwicklung, wobei die Alzheimer-Erkrankung die häufigste Ursache ist. Entsprechend wird die Anzahl der heute rund 100 000 Demenzkranken in der Schweiz massiv zunehmen, was versorgungsmässig, aber auch sozioökonomisch für die Gesundheitspolitik und das Gesundheitswesen eine massive Herausforderung bedeutet! Trotz intensivster Forschung sind in den nächsten Jahren keine neuen und insbesondere keine heilenden Ansätze in der Demenztherapie zu erwarten. Der therapeutische Schwerpunkt der heute eingesetzten Antidementiva wird also auch in naher Zukunft im längeren Erhalt der Unabhängigkeit bei unveränderter Lebensdauer liegen. In dieser schwierigen Situation ist es kein Wunder, dass immer mehr präventive Ansätze zum Erhalt der Hirnleistung bis ins hohe Alter erforscht und getestet werden. In der vorliegenden SZE-Ausgabe wird die bis heute bestehende Evidenz zu diesem Thema vorgestellt. Aufgrund epidemiologischer Daten gibt es viele Hinweise, dass B- und D-Vitamine, Proteine, Folsäure, Antioxidanzien und Omega3-Fettsäuren (typische Ingredienzen der Mittelmeerdiät) die Kognition und Hirnleistung positiv beeinflussen. Aber auch regelmässige körperliche Aktivitäten, das Pflegen sozialer Kontakte sowie der Umstand, nicht zu rauchen, wurden mit einem deutlich reduzierten Demenzrisiko assoziiert. In einer amerikanischen «Einstein Aging»-Kohortenstudie reduzierte eine regelmässige Tanz-Freizeitaktivität die Demenz-RisikoAssoziation um rund 80 Prozent*. Die Epidemiologie spricht eine klare Sprache: Der Lifestyle spielt für den Erhalt einer guten Hirnleistung eine zentrale Rolle. Nach dem Motto «use
it or lose it» scheinen Hirnplastizität und Hirnreserven durch verschiedenste Verhaltensmassnahmen beeinflussbar. Die Demenzerkrankung wird damit nicht verhindert, aber dank besserer Nutzung vorhandener Hirnreserven deutlich länger kompensiert. Neueste Interventionsstudien zu diesem Thema sind lanciert und zum Teil bereits am Laufen: Die FINGER-Studie in Finnland untersucht in randomisiert-kontrolliertem Design, inwieweit körperliche Aktivitätsprogramme und Ernährung die kognitive Fitness im Langzeitverlauf beeinflussen. Das ab Herbst 2012 auch in der Schweiz (Basel, Genf und Zürich) anlaufende EU-Projekt «DO-HEALTH» wird untersuchen, inwieweit die mentale und funktionelle Gesundheit im Alter durch verschiedene einfache Interventionen wie die Gabe von Vitamin D und Omega-3-Fettsäuren, in Kombination mit verschiedenen Bewegungsprogrammen, verbessert werden kann! Die in einigen wenigen Jahren hoffentlich vorliegenden Resultate werden es ermöglichen, Senioren evidenzbasierte Empfehlungen für den Erhalt ihrer kognitiven und funktionellen Fitness zu geben; es ist zu erwarten, dass diese die heutigen Epidemiologie-basierten Annahmen an Aussagekraft übertreffen!
Prof. Dr. med. Reto W. Kressig Akutgeriatrie, Universitätsspital Basel E-Mail: rkressig@uhbs.ch
*Verghese J et al. Leisure activities and the risk of dementia in the elderly. N Engl J Med 2003; 348: 2508–2516.
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