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LEBENSMITTELQUALITÄT
Nutrigenomik – State of the Art
BARBARA WALTHER*, DOREEN GILLE*, GUY VERGÈRES*
Barbara Walther
Doreen Gille
Als Nutrigenomik bezeichnet man ein junges Forschungsgebiet, das verschiedenste wissenschaftliche Disziplinen wie Molekularbiologie, Genetik, Bioinformatik, Medizin und Ernährungsforschung miteinander vereint. In diesem Zusammenhang fokussiert dieser Wissenschaftszweig vor allem auf die Regulation von zellulären Stoffwechselwegen durch spezifische Nährstoffe beziehungsweise Lebensmittel unter Berücksichtigung des Ernährungs- und Gesundheitszustandes des Individuums. Dabei geht es aber nicht nur darum, einem Menschen entsprechend seiner genetischen Veranlagung eine optimale, auf ihn abgestimmte Ernährung anzubieten. Vielmehr soll Nutrigenomik helfen zu verstehen, wie eine definierte Ernährungsform das Auftreten/Entstehen bestimmter Krankheiten (beispielsweise Diabetes, Herz-Kreislauf-Krankheiten, Krebs, Übergewicht usw.) auf Gen- und Molekularebene beeinflussen kann. Ein weiterer Fokus liegt auf der Gesundheit des Menschen und dem Einfluss der Nahrung auf den Erhalt dieses Zustandes. Ausserdem sollen mithilfe der Nutrigenomik neue molekulare Biomarker sowie bioaktive Lebensmittelinhaltsstoffe identifiziert und deren Wirkungsgrad validiert werden (1, 2).
In der Vergangenheit legten zwei Entdeckungen den Grundstein für die Entwicklung und Etablie-
Guy Vergères
rung der modernen Biologie beziehungsweise der funktionellen Genomik: zum einen die Isolierung der DNA durch den Schweizer Mediziner Friedrich Miescher im Jahre 1869, zum andern die Aufklärung der Doppelhelix-Struktur der DNA im April 1953 durch James Watson und Francis Crick. Diese Ereignisse hatten im eigentlichen Sinne mit Ernährung noch nicht viel zu tun – Lebensmittel waren vor allem dafür bestimmt, den genialen Entdeckern Energie für ihre Überlegungen zu spenden. Die Erkenntnis jedoch, dass Nahrungsmittel und Nährstoffe auf eine bestimmte Art und Weise das menschliche
*Forschungsanstalt Agroscope Liebefeld-Posieux ALP
Genom beeinflussen, entwickelte sich rasant, denn nur 50 Jahre nach der Aufklärung der DNA-Struktur begann sich der Ausdruck «nutrigenomics» – abgeleitet von «nutritional genomics» – in der wissenschaftlichen Gemeinde zu festigen. Somit waren die Voraussetzungen für den Aufstieg der «omic»-Technologien gegeben; in Verbindung mit der Bioinformatik ermöglichen diese Technologien heute einen ganzheitlichen Blick auf die biologischen Systeme, sei es Pflanze, Tier oder Mensch, in deren Umwelt im Allgemeinen und die Ernährung im Speziellen.
Ziel der Nutrigenomik
Es ist generell von Bedeutung und Interesse, die Interaktionen zwischen dem Menschen und seiner Umwelt zu verstehen. In diesem Zusammenhang kommt man nicht umhin, den Phänotyp, also das Erscheinungsbild, genauer zu betrachten, beispielsweise ob die betreffende Person
männlich oder weiblich ist, gesund oder krank und über welche charakteristischen Merkmale sie verfügt. Diese Merkmale werden bestimmt durch den individuellen Genotyp sowie die Umwelteinflüsse, denen der Mensch ausgesetzt ist. Phänotyp, Genotyp und Umwelt beeinflussen sich also gegenseitig. Einer der wichtigsten Umwelteinflüsse für den Menschen ist seine Ernährung; schliesslich nehmen wir während unseres gesamten Lebens zirka 60 000 kg Nahrungsmittel zu uns. In der Vergangenheit bestand jedoch das Ziel der Ernährungswissenschaften vor allem darin, den Effekt dieser Nahrungsmittel oder ihrer Inhaltsstoffe auf den Stoffwechsel und den Phänotyp zu untersuchen, also ob sie zum Beispiel zur Ausprägung bestimmter Krankheiten beitragen oder diese gar lindern beziehungsweise die Gesundheit fördern. Die verschiedenen Methoden der Nutrigenomik ermöglichen jetzt die Fokussierung
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Beispiel kann die Transkrip-
Phänotyp
z.B. Krankheit, Geschlecht
tomik-Technologie nach der Aufnahme eines Lebensmittels eine Moment-
aufnahme dieser kurzlebi-
gen RNA machen und so
herausfinden, welche mo-
lekularbiologischen Prozes-
se in der Folge aktiviert
Genotyp
Gene
Umwelt
z.B. Ernährung, Drogen
oder gehemmt werden (6, 7). Für diese Art der Messung wurden in den ver-
gangenen Jahren vor allem
sogenannte Microarrays
Abbildung: Interaktionen von Phänotyp, Genotyp und der Umwelt.
(auch Genchips genannt) eingesetzt. Seit Neustem
erlauben aber auch mo-
auf die Interaktion zwischen Genotyp derne Sequenzierungstechnologien eine
und Ernährung im Hinblick auf den Phä- direktere und sensitivere Quantifizierung
notyp. Dieser ganzheitliche Blick kann der der Genexpression. Nach diesem biologi-
Schlüssel dafür sein, in Zukunft Nah- schen Prozess, der Transkription genannt
rungsmittel gezielt als Mittel der Präven- wird, kommt es zum zweiten Teilschritt
tion oder sogar der Therapie zu nutzen der Genexpression: der Translation, also
(2–4).
zur Bildung spezifischer Proteine. Die Pro-
Methoden der Nutrigenomik
teomik-Technologie kann diese Proteine, deren Bildung nach der Aufnahme defi-
Im Hinblick auf die Methoden der nierter Nahrungsmittel und Nährstoffe in-
Nutrigenomik unterscheidet man 1. Ge- duziert wurde, identifizieren. Ausserdem
nomik-Technologien, insbesondere die untersucht sie die Menge der hergestell-
Genotypisierung; 2. Transkriptomik-Tech- ten Proteine sowie ihre Verteilung und In-
nologien; 3. Proteomik-Technologien so- teraktionen mit anderen biologischen
wie 4. Metabolomik-Technologien.
Molekülen. Für diese Technologie kom-
Um zu verstehen, an welchen Punkten die men besonders die bidimensionale Poly-
verschiedenen Technologien ansetzen, acrylamid-Gelelektrophorese und spe-
ist es zunächst wichtig zu erklären, was zielle Massenspektroskopie-Methoden
sich genau im menschlichen Körper auf zum Einsatz (1, 2). Im letzten Schritt des
molekularer Ebene abspielt, wenn Nah- zellulären Informationsflusses wird
rungsbestandteile auf Zellen treffen. Die schliesslich untersucht, welchen Einfluss
zentralen Begriffe in diesem Zusammen- die synthetisierten Proteine auf den Stoff-
hang sind DNA, Transkription, RNA, Trans- wechsel haben, das heisst: Welche Stoff-
lation, Proteine, Metabolismus und Meta- wechselwege interagieren miteinander,
bolit (5).
welche Metaboliten oder Zwischenpro-
Die DNA-Sequenzierung ist die Grundlage dukte entstehen durch den Einfluss der
für die individuelle Genotypisierung und Proteine? Die Metabolomik-Technologie
erlaubt uns, genetische Polymorphismen nutzt für ihre Analysen verschiedenste
und epigenetische Modifikationen zu Verfahren wie zum Beispiel die Massen-
identifizieren. Die menschliche DNA in je- spektroskopie (8).
der Zelle unseres Körpers dient als Vorlage Die Herausforderungen, die diese «omik»-
für die Synthese der RNA. Je nachdem, wie Technologien mit sich bringen, sind an-
ein Nährstoff direkt oder indirekt wirkt, spruchsvoll, insbesondere aufgrund ihrer
kommt es zu einer erhöhten oder abge- ganzheitlichen Natur, die darauf beruht,
schwächten Herstellung spezifischer RNA- möglichst alle Moleküle einer Art in einer
Moleküle, also einer Hoch- oder Herunter- einzigen Messung zu identifizieren und
regulierung der Genexpression. Zum zu quantifizieren. Die Auswertung ist da-
her meist aufwendig, und Standards sowie neue Methoden müssen etabliert werden. Trotzdem entwickelt sich dieser Fachbereich sehr schnell, da Wissenschaftler erkannt haben, dass diese Technologien eine grosse Chance sind, den Menschen und den Einfluss verschiedenster Umweltfaktoren auf seine Gesundheit besser zu verstehen.
Nutrigenetik
Neben dem Wissenschaftszweig Nutrigenomik gibt es auch noch ein anderes Fachgebiet, das sich mit dem Effekt genetischer Variationen auf die Interaktionen zwischen Ernährung und Krankheiten beschäftigt – die sogenannte Nutrigenetik (9). Seit Langem ist bekannt, dass viele Krankheiten eine genetische Komponente haben. Es wurden bisher mehrere hundert Gene identifiziert, die zum Beispiel mit Brustkrebs, Muskelerkrankungen, Taubheit und Blindheit in Verbindung stehen. Durch Genotypisierung und Sequenzierungstechnologien lassen sich die Gene identifizieren, die für die verschiedenen Krankheiten verantwortlich sind. So können Individuen mit erhöhtem Risiko für eine bestimmte Krankheit erkannt und entsprechend behandelt werden. In Fällen, wo ernährungsbedingte Faktoren bekannt sind, kann die Behandlung oder Prävention auch die Ernährungsweise des Betroffenen beeinflussen. Ein Beispiel dafür ist die Phenylketonurie, eine genetisch bedingte Krankheit, die es dem Betroffenen unmöglich macht, die Aminosäure Phenylalanin abzubauen. Für diese Personen wurden spezielle Lebensmittel entwickelt, da die Mengen an Phenylalanin, die normalerweise in der Nahrung vorkommen, für sie toxisch sind. Weitere Beispiele sind Laktoseintoleranz, Galaktosämie und Aldehyd-Dehydrogenase-Mangel (10). Die aufgeführten Beispiele sind sogenannte monogene Erkrankungen, das heisst, mit dem Variantengen wird meist ein 100-prozentiger Phänotyp, zum Beispiel ein bestimmtes Krankheitsrisiko, vererbt. Die meisten Krankheiten sind jedoch polygenen Ursprungs – sie beruhen auf der komplexen Wechselwirkung mehrerer verschiedener mutierter Gene/Alle-
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le sowie auf exogenen Faktoren, wie beispielsweise der Ernährung. Ein Beispiel dafür ist Diabetes mellitus Typ 2: Das Risiko zu erkranken ist zwar erblich, allerdings wird es auch sehr stark von äusseren Faktoren bestimmt wie Ernährung, Körpergewicht und Aktivität. Zudem wird die Wirkung dieser Faktoren vom Genotyp beeinflusst (10). Das ernährungsbedingte Krankheitsrisiko könnte potenziell durch eine Genotypisierung oder Sequenzierung bestimmt werden. Die Schwierigkeit liegt jedoch darin, mithilfe klinischer Studien zu ermitteln, wie gross der Einfluss bestimmter Genotypen auf ein definiertes Krankheitsrisiko ist. Um die genetische Heterogenität und den grossen Einfluss exogener Faktoren auf die Entstehung und den Verlauf der Krankheiten zu erfassen, wären sehr grosse Studienpopulationen erforderlich. Daher werden nach wie vor klassische Parameter wie das Körpergewicht für Diabetes Typ 2 oder Serumlipide für die Bestimmung des Herz-Kreislauf-Risikos herangezogen. Die Aufklärung solcher polygen verursachter Krankheiten wie Diabetes Typ 2 oder Adipositas ist sehr schwierig, da hier einzelne genetische Varianten kaum eine Rolle spielen. An diesem Punkt stösst die Nutrigenomik an ihre Grenzen. Die Forschung ist aktiv damit beschäftigt, solche Genkombinationen zu finden, die zusammen die Wechselwirkungen mit der Ernährung signifikant beeinflussen könnten.
Nutriepigenetik
Vor Kurzem hat ein weiterer Zweig der Ernährungsforschung die Nutrigenomik und Nutrigenetik ergänzt, nämlich die Nutriepigenetik. Laut wissenschaftlichen Publikationen wird der Begriff «Epigenetik» folgendermassen definiert: «Der Begriff Epigenetik definiert alle meiotisch und mitotisch vererbbaren Veränderungen in der Genexpression, die nicht in der DNA-Sequenz selbst kodiert sind.» (11) Vereinfacht heisst das, dass sich bei Zellteilungen das Erbgut an und für sich nicht verändert, sondern dass biochemische Modifikationen zu einer abgeänderten Genexpression führen. So werden zum Beispiel bestimmte Regionen eines Chro-
mosoms durch DNA-Methylierung ruhiggestellt, sodass an dieser Stelle keine Transkription mehr stattfinden kann. Die Ernährung ist besonders interessant für die Epigenetik, da Nährstoffe wie beispielsweise Folat, Methionin und Cholin Methylgruppen liefern, die zur DNA-Methylierung führen, auch die DNATranskription beeinflussen können. Finden solche Modifikationen in somatischen Zellen statt, wird das Leben der betroffenen Individuen von der Embryogenese über das Wachstum bis hin zur Alterung beeinflusst. Treten diese Veränderungen bereits in Keimzellen und/oder noch unmittelbar vor oder während der aktiven Reproduktionsphase des Menschen auf, können sogar die nachfolgenden Generationen diese epigenetischen Merkmale tragen! Diese Entdeckungen können für Menschen in Extremsituationen (Hungersnöte, Kriege, Krankheiten …) wichtige Konsequenzen haben (12). Solche Erkenntnisse stellen die ersten Schritte der Epigenetikforschung dar; es wird jedoch noch viel Zeit vergehen, bis die meisten Rätsel in diesem Zusammenhang gelöst werden können.
Möglicher Nutzen und Anwendungsbeispiele
Wir alle wissen, dass jeder unterschiedlich auf Nährstoffe und Ernährungsweisen reagiert. Der eine kann essen, was er will, ohne irgendwelche gesundheitlichen Probleme zu entwickeln. Andere reagieren auf die gleiche Ernährungsweise mit Allergien, Übergewicht, Diabetes oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Um diesen Unterschieden auf den Grund zu gehen und diese widersprüchlichen Reaktionen erklären zu können, kann die Kenntnis über die Funktion der Gene und deren Wechselwirkungen mit Umwelteinflüssen, zu denen auch die Ernährung gehört, einen wichtigen Beitrag leisten. Die Erkenntnis, dass Populationen mit einer stärkereichen Ernährungsweise eine höhere Kopienzahl des Amylasegens (AMY1) im Speichel haben als solche, die sich stärkearm ernähren, ist ein Beispiel für diese Wechselwirkungen (13). Diese Kenntnisse können zur Entwicklung von Lebensmitteln beitragen, die speziel-
le Bedürfnisse einzelner Bevölkerungsgruppen oder sogar Individuen besser abdecken können. Es ist bekannt, dass Frauen genetisch bedingt einen höheren Bedarf an Eisen haben als Männer und deshalb auf eine genügende Eisenversorgung durch die Ernährung achten müssen. Die Resultate aus gemischtgeschlechtlichen klinischen Studien weisen zunehmend darauf hin, dass Männer und Frauen unterschiedlich auf gleiche Nährstoff- oder Ernährungsinterventionen reagieren. So reagierten zum Beispiel nur Frauen auf eine erhöhte Zufuhr von Transfettsäuren aus natürlichen Quellen mit einem signifikanten Anstieg von LDL und HDL im Serum, nicht aber die Männer (14). Ein Feld, das zunehmend intensiv beforscht wird, ist das Altern und dessen Auswirkungen. Auch dieser Prozess wird stark durch die genetische Veranlagung gesteuert. Dem Wunsch, möglichst alt zu werden, steht oft die Angst gegenüber, dass die Langlebigkeit durch verschiedene Krankheiten und Einschränkungen beeinträchtigt werden könnte. Da viele dieser Krankheiten und deren Vorstufen von chronischen Entzündungen begleitet sind, liegt es nahe, Lebensmittel zu suchen, die eben diese Inflammationen vermindern oder verhindern können. Eine aktuelle Studie von Agroscope in Zusammenarbeit mit der ETH zeigt, dass die Expression von Genen, die in Entzündungsprozesse involviert sind, nach der Einnahme von Milch und Milchprodukten herunterreguliert wird (15). Ein Aspekt, der beim Studium der Wechselwirkungen zwischen Nährstoffen beziehungsweise Lebensmitteln und dem menschlichen Genom nicht vergessen werden sollte, ist die Darmflora. Sie spielt nicht nur eine wichtige Rolle bei der Verdauung, sondern trägt wesentlich zur Gesundheit und zum Wohlbefinden des Wirtes bei. Bekannt ist zum Beispiel ihr Beitrag zur Stärkung der Immunfunktion (16, 17); aber auch bei der Gewichtsregulation (18, 19) sowie bei Diabetes (20) scheinen die Darmbakterien und ihre Zusammensetzung eine essenzielle Rolle zu spielen. Neuste Erkenntnisse weisen sogar darauf hin, dass die Darmflora das Verhalten des Wirts beeinflussen kann (21).
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Da die Darmbakterien in ihrer Ausprägung und Zusammensetzung von Individuum zu Individuum massiv variieren können, liegt der Schluss nahe, dass die Ernährungsweise des Wirts für die Zusammensetzung der Darmflora wiederum von grösster Bedeutung ist. Wenn bestimmte Lebensmittel oder deren Inhaltsstoffe auf die Expression der Gene im Menschen einen Einfluss haben können, so ist der Gedanke nicht abwegig, dass auch Wechselwirkungen zwischen der Ernährung des Wirts und der Genexpression der Darmbakterien bestehen könnten. Die daraus resultierenden Stoffwechselantworten der darmeigenen Mikroorganismen könnten ihrerseits durch die entstehenden Proteine oder andere Stoffwechselprodukte (z.B. Vitamine) wiederum die Genexpression im Wirt steuern (22). Auch hier könnte die Wissenschaft der Nutrigenomik mit ihren Technologien viel dazu beitragen, das komplexe Wechselspiel zwischen Ernährung, Darmflora und der Gesundheit des Wirts (Mensch) besser zu verstehen und mit entsprechenden Ernährungsmassnahmen zu verbessern. Die heutigen Referenzwerte und Ernährungsempfehlungen werden für eine Durchschnittsbevölkerung angegeben. Obige Beispiele zeigen jedoch, dass die verschiedenen Subgruppen, wie Männer und Frauen, Erwachsene und Kinder, verschiedene Ethnien oder weitere Gruppierungen, spezielle Ernährungsbedürfnisse haben. Dank der Technologien der Nutrigenomik können solche unterschiedlichen Wechselwirkungen erkannt und die verschiedenen Gruppen definiert werden. Dies würde es ermöglichen, Ernährungsempfehlungen zu differenzieren und den gruppenspezifischen Bedürfnissen entsprechend zu optimieren. Letztes Ziel könnte eine personalisierte Ernährung sein, das heisst, die aufgenommene Nährstoffkombination würde genau dem aktuellen Genomstatus des Einzelnen entsprechen (9).
Mögliche Risiken
Nutrigenomik ist eine junge Wissenschaft mit viel Potenzial, das Wissen über die Beziehung von Biologie und Ernährung zu
verbessern. Die kommerzielle Anwendung kann profitabel sein, sei es mit Gentests oder aber mit Functional Food. Dies birgt aber auch gewisse Risiken sozialer, ethischer und juristischer Natur. Es gibt noch sehr wenige bekannte Interaktionen zwischen Ernährung und Genetik, die genügend Informationen bieten, damit man gezielte Empfehlungen abgeben könnte. Diese Beziehungen sind meist sehr komplex und vielfältig und können je nach Alter oder anderen individuellen und physiologischen Zuständen variieren. Die bereits vorhandenen Tests, durch die sich das persönliche Risiko für die Entwicklung verschiedenster Krankheiten auf Genebene ermitteln lässt, werden von Fachleuten kritisch beurteilt, da sie meist nur wenige Gene berücksichtigen. Um personalisierte Ernährungsempfehlungen abgeben zu können, reicht es eben nicht, nur Gene zu identifizieren; vielmehr muss dazu das Gesamtbild betrachtet werden: Phänotyp, Genotyp und Umwelteinflüsse (10, 23). Zudem sind solche Gentests oft nur für besser gestellte Personen, die meist ohnehin einem gesunden Lebensstil folgen, erschwinglich. Unausgewogene Ernährungsweisen und damit verbundene Krankheitsrisiken sind jedoch eher in der ärmeren, weniger gebildeten Bevölkerung verbreitet. Ausserdem kann das aus Gentests resultierende Wissen über ein mögliches Krankheitsrisiko die Betroffenen in Angst und Stress versetzen. Die Interpretation der Ergebnisse einer solchen Untersuchung ist nicht einfach, kann die Ärzte überfordern und zu falschen Behandlungen verleiten. Die Lebensmittelindustrie wird animiert, eine Fülle von FunctionalFood-Produkten zu entwickeln, die wiederum nur von den besser Verdienenden genutzt werden könnten. Bis jetzt gibt es keine gesetzlichen Grundlagen, die die Nutrigenomik-Industrie reguliert. Das Risiko der Konsumententäuschung könnte zunehmen. Zwar ist ein Grossteil der Bevölkerung mit Recht überzeugt, dass die Ernährung ein wichtiger Aspekt der Gesundheit und des Wohlbefindens ist und dass sie Einfluss nehmen kann auf Gesundheit, Krankheiten und den Alterungsprozess sowie da-
mit verbundene Einschränkungen. Wie die Akzeptanz der Konsumenten für diese neuen Technologien und dadurch entwickelte Konsumgüter sein wird, ist unsicher. Wichtig für die Anerkennung werden die Qualität der Forschung und der klinische Nutzen sein (24, 23).
Fazit
Die Nutrigenomik verfügt über die Möglichkeit, die komplexen Wechselwirkungen zwischen Genom und Ernährung zu verstehen. Sie ist eine extrem transdisziplinäre Wissenschaft, die eine vertiefte Ausbildung und Sensibilisierung der professionellen Akteure wie Ernährungsfachleute, Lebensmittelwissenschaftler, Molekularbiologen, Genetiker, Mediziner und Bioinformatiker verlangt. Trotz des grossen Potenzials stösst auch die Nutrigenomik in gewissen Bereichen an ihre Grenzen, einerseits wegen der Komplexität gewisser Interaktionen zwischen Genetik, Ernährung und Gesundheit, andererseits fehlen einfach genügend Studien sowie die Wissenschaftler, die diesen Fragen auf den Grund gehen könnten. Seit wenigen Jahren gibt es in der Schweiz öffentliche Institutionen (Uni Lausanne, ETHZ, Agroscope), die auf dem Gebiet der Nutrigenomik forschen und Ausbildungen anbieten.
Korrespondenzadresse: Barbara Walther Forschungsanstalt Agroscope Liebefeld-Posieux ALP Schwarzenburgstr. 161, 3003 Bern E-Mail: barbara.walther@alp.admin.ch
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