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Mikroorganismen erobern unseren Darm und unsere Haut zurück – zum Vorteil des Menschen!
ULRICH ZEHNTNER
Der Mensch war und ist ein stark besiedeltes Wesen – nicht mit Krankheitserregern, sondern mit spezifischen Bakterienpopulationen, die sich mit der menschlichen Evolution mitentwickelt haben. Das spricht nicht gegen das Händewaschen, aber zur Population im Darm und auf der Haut sollten wir nach Jahrzehnten der Desinfektion mehr Sorge tragen.
Mikrobiologen mussten sich in ihrem Umfeld bisher immer gegen den schlechten Ruf von Bakterien wehren. Mikrobielle Krankheitserreger haben nicht nur in der älteren Menschheitsgeschichte mehr Todesopfer gefordert als alle von Menschen entwickelten Waffen zusammen. Der Bezug auf die «guten» Mikroben hat direkt und fast ausschliesslich mit fermentierten Lebensmitteln zu tun. Die schon früh entwickelte Verwendung von Mikroorganismen zur Herstellung von Nahrungsmitteln ist aus keinem Kulturkreis mehr wegzudenken. Nicht nur weil die Fermentation eine längere, sichere Lagerung der Lebensmittel und einen wirksamen Schutz gegen ihren Verderb bewirkt, sondern auch weil damit sensorisch neue und attraktive Nahrungsmittel geschaffen wurden. Das ist die traditionelle, gesicherte Seite, die jetzt durch ein neues Kapitel ergänzt wird: Mikroben – aufgenommen über die Nahrung, aufgenommen aber auch über Haut und Schleimhaut, scheinen zu verschiedenen Phasen unseres Lebens einen wesentlichen Einfluss zu haben, wie wir auf Krankheitserreger reagieren, direkt oder vermittelt über die Immunabwehr. Dies hat bereits einige Dogmen zu Fall gebracht.
Der Paradigmenwechsel in der Mikrobiologie
Auffallend oft werden in den letzten zehn Jahren Publikationen über die menschliche Darmflora damit eingeleitet, dass diese mit 100 Billionen Zellen die Zahl der Körperzellen um das Zehnfache übersteigt. Seit Eintritt in das genomische Zeitalter wird dieser Fakt noch mit dem Zusatz versehen, dass auch die Anzahl Gene der Darmflora weit höher ist als die des menschlichen Genoms. Wir haben es also mit einer Art Organ zu tun, das offenbar eine grössere Bedeutung hat und sich weit individueller entwickelt als früher angenommen und mit entsprechend grosser Sorgfalt behandelt werden müsste. Höchste Zeit auch, ihm einen korrekteren Namen als «Darmflora» zu geben: «Mikrobiom» respektive «Microbiome» ist der auch international einheitliche Begriff, der sich durchzusetzen beginnt. Eingeleitet wurde das Umdenken hinsichtlich Mikrobiologie durch einige auffällige Beobachtungen: • Allergien haben sich gerade bei Kin-
dern anteilmässig ausgebreitet, obwohl die Luft in den meisten Ländern weniger belastet ist als zur Zeit der Kohleheizungen und die Gewässer reiner
sind als vor der umfassenden Einführung der Abwasserreinigungsanlagen. • Kinder, die in der Nähe von Ställen aufwachsen, sind weniger allergieanfällig als Stadtkinder. • Gestillte Kinder entwickeln bessere Abwehrkräfte als Kinder, die mit steriler Flaschenmilch ernährt wurden. • Per Kaiserschnitt geborene Kinder scheinen anfälliger für Krankheiten zu sein als spontan geborene Kinder, bei denen Kontaminationen mit Mikroorganismen der Mutter unvermeidlich sind. Dazu gehört auch die Beobachtung, dass Kaiserschnittkinder längere Zeit ein anderes Mikrobiom aufweisen. • In einem Versuch hat sich bei Säuglingen eines afrikanischen Dorfs das gleiche Mikrobiom wie bei Stadtkindern von Florenz gezeigt, solange sie gestillt werden. Nach dem Abstillen gleicht sich das Mikrobiom jedoch der ortsüblichen Nahrung an. Beim afrikanischen Dorf kam dann die Überraschung dazu, dass entsprechend der vegetarischen Ernährung mit vielen Ballaststoffen mikrobielle Zelluloseverwerter im Darm auftauchten, die bisher nur bei Wiederkäuern gefunden wurden.
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Kapselform, die zur Behandlung von Darmerkrankungen eingesetzt wurde – mit unterschiedlichem Erfolg. Statt Colibakterien setzten Konkurrenten im Kielwasser dieses Aufschwungs Hefe- und Milchsäurebakterien-haltige Präparate ein. Später kamen Colibakterien auch in inaktivierter oder fragmentierter Form auf den medizinischen Markt. Heute kann aus rund zwei Dutzend solcher Kapsel-, Pulver- oder Tropfenpräparate ausgewählt werden.
E. Coli (Bild: checkdent.com)
• Eine Verschiebung der mikrobiellen Arten im Mikrobiom ist nach neueren Studien auch bei adipösen Kindern und Erwachsenen zu beobachten.
• Versuchstiere, die gezielt steril und ohne eigenes Mikrobiom aufgezogen werden (sog. Gnotobionten), haben eine kürzere Lebenserwartung und sind anfälliger für spätere Kontaminationen mit Krankheitserregern.
Diese Beobachtungen werden in Bezug gebracht mit einer Neueinschätzung des «darmassoziierten Lymphgewebes», in der englischen Schreibweise kurz GALT (gut-associated lymphoid tissue) genannt. Es scheint zumindest quantitativ die weitaus meisten Immunzellen zu liefern. Im Vergleich zu unserem bisherigen Bild des Blutimmunsystems zeigen sich folgende Unterschiede: • Das GALT wird durch alle Substanzen
aktiviert, die in den Dünndarm gelangen. Es muss also öfter aktiv sein als das Blut, das letztlich nur auf invasive Unregelmässigkeiten reagiert. • Das GALT wird über die Lebensmittel prinzipiell mit körperfremden Stoffen konfrontiert und muss in der Folge notwendigerweise die harmlosen Teile davon tolerieren, die ja aufgenommen werden müssen. • Das GALT reagiert nicht nur in Form erhöhter Alarmbereitschaft, sondern
kann umgekehrt Immunreaktionen auch dämpfen.
Der Beginn der Probiotikaära
Die Basis für die Anerkennung der wichtigen Rolle der Mikroorganismen auf und im Menschen wurde schon Anfang des letzten Jahrhunderts gelegt, als Ilja Metschnikow den Verzehr von lebendigen Joghurtbakterien als Therapie gegen eine Reihe von Infektionserkrankungen und Alterungsprozessen propagierte. Sein Einsatz für Milchsäurebakterien kann als Beginn der Ära der Probiotika angesehen werden. Metschnikow wurde 1908 für die Entdeckung der Phagozytose zusammen mit Paul Ehrlich mit dem Nobelpreis für Physiologie oder Medizin gewürdigt. Mit der Entdeckung der zellulären Immunabwehr ist er ein Begründer der modernen Immunologie. Eine praktische Umsetzung und Erweiterung der Metschnikowschen Theorie führte der Arzt und Wissenschaftler Alfred Nissle nach dem Ersten Weltkrieg durch: 1917 isolierte er einen E.-coli-Stamm aus dem Darm eines Unteroffiziers des Balkankrieges, der im Gegensatz zu vielen Kameraden nicht an Durchfall erkrankt war. Dieser sogenannte Escherichia-coli-Stamm Nissle 1917 diente als Grundlage für eine kommerziell vertriebene Zubereitung vermehrungsfähiger Mikroorganismen in
Das japanische FOSHU-Label
Im Lebensmittelsektor wurden Probiotika erst wieder attraktiv, als Japans Gesundheitsbehörde in den Achtzigerjahren das FOSHU-Label (Food for Specified Health Uses) einführte, das in beschränktem Mass Gesundheitsanpreisungen für Lebensmittel zuliess, wenn entsprechende wissenschaftliche Daten vorgelegt werden konnten. Hintergrund dieser kontrollierten Aufweichung der bisher starren Grenze zwischen Medikamenten und Lebensmitteln waren die auch in Japan explodierenden Gesundheitskosten. Man hoffte auf die präventive Wirkung täglich verzehrter Probiotika in breiten Bevölkerungskreisen. Diese Idee des Probiotikaeinsatzes wurde Mitte der Neunzigerjahre von grossen Lebensmittelkonzernen aufgenommen und in proprietären Produkten mit hauseigenen Stämmen verwertet. Die Diskussionen mit Forschern und Behörden über Wirksamkeit und wissenschaftlich begründete Aussagen haben die Anforderungen an probiotische Stämme allmählich ausgeweitet. So standen anfänglich die Resistenz gegenüber Magensäure und Gallenenzymen, die Einnistung in die Darmschleimhaut sowie antagonistische Effekte gegenüber Krankheitserregern im Vordergrund. Neu dazugekommen sind in den letzten Jahren Sicherheitsaspekte wie das Fehlen von AntibiotikaresistenzFaktoren und die Ausdehnung auf Wirkungen bei gewissen Autoimmunerkrankungen (chronische Allergien, bestimmte chronische Darmbeschwerden). Leichter geworden ist die Kommunikation von Gesundheitsanpreisungen damit nicht. Manche Konzerne liefern sich mit den
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Bewilligungsbehörden der USA und EU nach wie vor eine Dauerfehde um den erlaubten Wortlaut ihrer Werbeaussagen. Was in den aktuellen Werbesendungen als Botschaft übrig bleiben darf, ist angesichts der wissenschaftlichen Publikationen relativ nichtssagend («fördert ihr Wohlbefinden»). Andere Firmen verzichten im Voraus auf amtliche Anerkennung oder ziehen ihre Bewerbungen zurück. Interessant ist, dass sich der probiotische Gedanke auch ohne massive Werbung durchzusetzen beginnt. So sind nun nach Jahrzehnten sterilisierter Flaschenmilch für Babys auch solche mit definierten Bakterienstämmen erhältlich. Bis anhin sterile Kosmetika und Hygieneprodukte werden teilweise ebenfalls mit Milchsäurebakterien versetzt.
Entscheidung im genomischen Zeitalter
Entscheidend für den Durchbruch der Probiotika wird letztlich der Nachweis einer ununterbrochenen Kausalkette ihrer Wirkungen und Effekte sein. Dies verlangt umfassende Kenntnisse des Mikrobioms und seiner Wechselwirkung mit dem GALT. Laut Schätzungen haben wir bestenfalls die Hälfte unserer Darmbakterien auf Speziesebene identifiziert. Viele der noch unbekannten Keime hinterlassen zwar sequenzierbare DNA-Fragmente, lassen sich aber als lebensfähige Zellen bisher weder isolieren noch kultivieren. In Anlehnung an die Erfolge des «Human Genome»-Projekts (alias HUGO, Sequenzierung aller Gene der Menschen) wurde 2008 das «Human Microbiome Project» gestartet, das alle noch unbekannten Mikroorganismen des Darmes erfassen und erforschen will. Einen weiteren methodischen Durchbruch bieten RNA-Chips, die es erlauben,
in einem einzigen Ansatz bis zu 50 000 Genreaktionen (Genaktivierungen und Genabschaltungen), beispielsweise nach Verzehr eines Nahrungsmittels, zu messen. Blutproben von menschlichen Freiwilligen sind verständlicherweise leichter zu fassen als Darmzellen. Daher schien es zuerst fraglich, ob sich die Reaktion der Darmzellgene noch im Blut messen liesse. Erste Versuche zeigen jedoch tatsächlich Unterschiede in den Genreaktionen, ob mit der Milch beispielsweise auch Laktobazillen aufgenommen wurden oder nur Milch allein (bei Maus und Mensch). Es ist nicht auszuschliessen, dass generell jeder Darmkontakt mit allen über die Nahrung aufgenommenen Mikroorganismen zu einer immunmodulatorischen Antwort führt. Dies würde einer Aufwertung all jener Lebensmittel dienen, die fermentationsbedingt grössere Mengen an Mikroorganismen enthalten wie Joghurt oder Käse.
Lebensmittel oder Medikament?
Es gibt gute Gründe, Probiotika auch weiterhin als Lebensmittel anzusehen und nicht zu Medikamenten zu mutieren: 1. Probiotika sollten, um wirksam zu
werden und zu bleiben, über längere Zeit, wenn nicht gar lebenslang eingenommen werden. Dieser Punkt allein widerspricht unserer Sichtweise von Medikamenten, deren Absetzen ein wesentliches Thema in der Rekonvaleszenz ist. 2. So individuell das Mikrobiom und die darmassoziierte Immunabwehr gestaltet sind, so individuell zeigt sich auch die Reaktion des Körpers und seines Mikrobioms auf die Einnahme von Probiotika und ihre nachfolgende Wirkung. Seit Beginn der probiotischen Kampagnen wird Wert darauf gelegt,
diese Produkte auszuprobieren und je nach Wirkung die Produkte zu favorisieren oder darauf zu verzichten. Ein solches Verhalten passt nicht zur klassischen Medikamenteneinnahme, wo wir mit hoher Wahrscheinlichkeit eine schnelle direkte Hilfe erwarten, gewisse unangenehme Nebenwirkungen tolerieren, aber nach der Genesung das Medikament gern wieder absetzen. 3. Werden die zukünftigen Probiotika noch besser der individuellen Entwicklung des Mikrobioms angepasst, drängen sich Vielstammkulturen (= Multispeziespräparate) auf, die dem jeweiligen Lebensalter (des Mikrobioms und des Individuums) optimal angepasst sind.
Fazit
Als Konsumenten können wir uns glücklich schätzen, mit fermentierten Produkten oder Probiotika über eine Alternative zur Unterstützung der Krankheitsprävention zu verfügen, die bekömmlicher und wesentlich billiger ist als Medikamente. Die Frage ist noch offen, ob die Prägung der korrekten Nahrungstoleranz und Erregererkennung nur auf die erste Zeit der Kindheit begrenzt ist und nachträglich nur in bescheidenem Rahmen korrigiert werden kann. Man darf auf die Erkenntnisse des «Human Microbiome Project» und anderer Netzwerke gespannt sein.
Korrespondenzadresse: Ulrich Zehntner Milch- und Fleischverarbeitung Eidgenössisches Volkswirtschaftsdepartement EVD , Forschungsanstalt Agroscope Liebefeld-Posieux ALP Schwarzenburgstrasse 161, 3003 Bern E-Mail: ulrich.zehntner@alp.admin.ch
Literatur auf Anfrage beim Verfasser erhältlich.
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