Transkript
EDITORIAL
Lebensmittelqualität hat viele Facetten
Während Jahrtausenden musste die Menschheit für das Überleben kämpfen. Die Produktion von genügend Nahrungsmitteln war stark von ertragsarmen Sorten und wechselhaften klimatischen Bedingungen abhängig. Auch Pflanzenkrankheiten hatten verheerende Folgen für die Erträge einzelner Kulturen. Die Qualität vieler Nahrungsmittel war bis vor einigen Jahrzehnten noch sehr variabel. Durch die Verbesserung von Prozessen und den gezielten Einsatz sicherer Starterkulturen liess sich die Qualität der Nahrungsmittel nachhaltig verbessern und optimieren. Vielfältige Hygiene- und Konservierungsverfahren haben zusätzlich zu einer besseren Haltbarkeit vieler Produkte geführt. Die gezielte Züchtung verschiedener Pflanzen hinsichtlich Ertrag, Resistenz und Qualität für den Anbau in der Schweiz ist deshalb ein wichtiger Forschungsschwerpunkt. Darüber hinaus leisten aber auch neuartige Lagerungsmethoden – zum Beispiel eine kontrollierte Atmosphäre bei der Aufbewahrung pflanzlicher Lebensmittel – einen wichtigen Beitrag zu einer deutlichen Verbesserung der Lebensmittelqualität. In dieser Ausgabe mit dem Schwerpunkt «Lebensmittelqualität» stellen einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aktuelle Arbeiten aus der vielfältigen Forschungstätigkeit von Agroscope vor. Die Forschungsarbeiten unterstützen die Produktion gesunder, sicherer und qualitativ hochwertiger Lebensmittel schweizerischer Herkunft und sind im Programm NutriScope koordiniert. Marie-Therese Fröhlich erklärt in ihrem Beitrag die Wichtigkeit von Kochsalz bei der Käsefabrikation. Salz ist für die Käseherstellung und Reifung unabdingbar und erfüllt wichtige technologische Funktionen. Neben Geschmack und Aroma werden auch die Struktur und die Rindenbeschaffenheit beeinflusst. Ganz zentral ist aber der Einfluss auf die Zusammensetzung und Aktivität der Mikroflora und der Enzyme. Eine Reduktion der Salzkonzentration ist bei den meisten Käsesorten nur in einem kleinen Bereich möglich. Aus Ernährungssicht besonders hervorzuheben ist Emmen-
taler Käse mit einem sehr tiefen Salzgehalt von nur 0,4 Prozent. Eva Arrigoni, Maria Ceymann und Constance Reif beschreiben in ihrem Artikel neue Erkenntnisse zu sekundären Pflanzenstoffen in Früchten und Gemüse. In zwei Doktorarbeiten wurden leistungsfähige Methoden für die quantitative Bestimmung von Polyphenolen und Carotinoiden entwickelt und bei Früchten und Gemüse angewendet. Dabei hat sich gezeigt, dass die grössten Gehaltsunterschiede zwischen den verschiedenen Sorten auftreten; der Einfluss des Produktionsjahrs auf die Gehalte an Polyphenolen in Äpfeln war dagegen viel geringer. Insgesamt wurden rund 100 Gemüse und Salate auf ihren Gehalt an den sechs wichtigsten Carotinoiden sowie Chlorophyll a und b untersucht. Dabei fiel auf, dass die Carotinoidgehalte von Asia-Salaten vergleichbar hoch sind wie bei Spinat. Spinat leistet in der Schweiz den grössten Beitrag zur Luteinaufnahme. Die klassischen Blattsalate wie Eisberg oder Kopfsalat weisen nämlich deutlich geringere Luteinkonzentrationen auf. Der Gehalt an Lutein ist abhängig von der Photosynthese und korreliert sehr gut mit der Summe von Chlorophyll a und b. Äpfel und grünblättrige Salate können somit einen wesentlichen Beitrag zur Aufnahme sekundärer Pflanzenstoffe leisten. In dem Artikel von Barbara Walther, Doreen Gille und Guy Vergères wird das junge Forschungsgebiet Nutrigenomik vorgestellt. Nutrigenomik vereint die Disziplinen Molekularbiologie, Genetik, Bioinformatik und Ernährungsforschung. Um individuelle Unterschiede zu erklären, kann die Kenntnis über die Funktion der Gene und deren Wechselwirkungen mit der Ernährung einen wichtigen Beitrag leisten. Die Nutrigenomik soll helfen, die Wirkung definierter Ernährungsformen auf die Entstehung bestimmter, nichtübertragbarer Krankheiten auf Gen- und Molekularebene zu verstehen.
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EDITORIAL
Ueli Zehntner entführt uns in die Welt der Mikroorganismen. Es ist überraschend, dass die Anzahl der menschlichen Darmkeime die Körperzellen um den Faktor zehn übertrifft. Das Mikrobiom der Darmflora passt sich nach der Stillphase kontinuierlich der individuellen Ernährung an. Es gibt gute Gründe für die Annahme einer grösseren Bedeutung der über die Nahrung aufgenommenen Mikroorganismen für die frühe Prägung des Darmimmunsystems. Das würde den Probiotika nicht nur eine Rolle in der Konkurrenz zu Krankheitserregern zuteilen, sondern auch eine vorbeugende Wirkung bei chronischen Beschwerden und Krankheiten, die mit Autoimmunkrankheiten zusammenhängen. Die Wirkung der Probiotika auf das menschliche Mikrobiom ist allerdings sehr individuell. Die grösste Herausforderung wird die Ernährungssicherung von mehr als 9 Milliarden Menschen in wenigen Jahrzehnten sein. Vor allem in Asien und in Afrika wird ein erheblicher Zuwachs der Bevölkerung erwartet. Damit wird auch die Nachfrage nach Nahrungsmitteln tierischer Herkunft in den Schwellenländern enorm ansteigen. Parallel dazu wird die Lebenserwartung steigen und die Sterblichkeit weiter sinken. Pro Jahr müssen in naher Zukunft rund 75 Millionen Menschen zusätzlich ernährt werden. Neben dem landwirtschaftlich nutzbaren Boden ist die Verfügbarkeit von Wasser der limitierende Faktor für die Produktion pflanzlicher Rohstoffe. Rund 70 Prozent des weltweit genutzten Süsswassers
werden heute für die landwirtschaftliche Produktion verwendet. Zurzeit kann das Nahrungsmittelangebot auf den Weltmärkten noch knapp der steigenden Nachfrage folgen. Mittelfristig werden die Preise für Rohstoffe und Nahrungsmittel jedoch deutlich ansteigen. Um diesen Trend umzukehren, sind künftig grosse Investitionen in die Landwirtschaft und in Entwicklungsländern vor allem auch in die Verarbeitung und die Infrastruktur notwendig. Die Bekämpfung von Nachernteverlusten in Entwicklungsländern wegen schlechter Transportwege, unkoordinierter Logistik und fehlender Kühlhäuser ist von zentraler Bedeutung. In Industrieländern könnten die Verluste von Nahrungsmitteln bei den Konsumenten durch einen sorgsameren Umgang deutlich reduziert werden. Die Schweizer Land- und Ernährungswirtschaft strebt eine nachhaltige Nahrungsmittelproduktion an, die auf die Bedürfnisse der Konsumenten ausgerichtet ist. Forschung, Bildung, Beratung und Wirtschaft werden die dazu notwendigen Beiträge leisten.
Ueli Bütikofer Programmleiter Agroscope-Forschungsprogramm NutriScope
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