Transkript
DARMGESUNDHEIT
Der Beitrag der intestinalen Mikrobiota
Stephan C. Bischoff
Der Begriff Darmgesundheit wird immer populärer und hat inzwischen auch Einzug in die medizinisch-wissenschaftliche Fachliteratur gefunden. Der Ausdruck steht heute nicht mehr nur für die blosse Abwesenheit gastrointestinaler Erkrankungen, sondern wird zunehmend mit körperlichem und mentalem Wohlbefinden in Zusammenhang gebracht. Von besonderer Bedeutung für die Funktionsfähigkeit des Darmsystems sind dabei die intestinalen Bakterien, die den Organismus offenbar mehr beeinflussen als lange angenommen. Über den Stellenwert der sogenannten Mikrobiota und ihre vielfältigen Aufgaben sprachen wir mit Professor Stephan C. Bischoff, Direktor des Instituts für Ernährungsmedizin der Universität Stuttgart-Hohenheim.
SZE: Herr Professor Bischoff, der Begriff Darmgesundheit wird offenbar nicht nur als Synonym für ein gesundes Verdauungssystem verstanden, sondern hat eine weitreichendere Bedeutung. Woran liegt das, und wie definiert sich der Begriff heute? Prof. Stephan Bischoff (SB): Wir wissen seit einiger Zeit, dass ein funktionstüchtiger Darm nicht nur für das Organ selbst von grösster Bedeutung ist, sondern auch für den Gesamtorganismus und dass eine gestörte Darmbarriere auch Einflüsse auf Krankheiten hat, die nichts mit dem Darm oder dem Gastrointestinaltrakt im engeren Sinn zu tun haben. So könnte beispielsweise auch die Entwicklung von Lebererkrankungen durch endogene Bakterien erfolgen, die bei einer pathologisch erhöhten Darmpermeabilität aus dem Darm in die Pfortader gelangen und dort Entzündungsreaktionen verursachen. Wir sind zurzeit dabei, diese Arbeitshypothese zu überprüfen. Es gibt aber auch einen zweiten Grund, warum der Begriff Darmgesundheit in der Allgemeinbevölkerung zunehmend in den Vordergrund rückt: Immer mehr Menschen klagen über Befindlichkeitsstörungen im Darmbereich, ohne dass man dem einen eindeutigen Krank-
heitswert beimessen kann. Solche Fälle werden dann häufig als Reizdarmsyndrom bezeichnet. Für dieses Syndrom gibt es zwar definierte Kriterien, aber nicht alle Betroffenen erfüllen diese Kriterien. Dies könnte der zweite Grund sein, warum dieser Begriff zunehmend populär wird. Allgemeiner betrachtet lässt sich der Begriff Darmgesundheit durch folgende Kriterien beschreiben: eine gesunde Verdauung mit ausreichender Nährstoffresorption, das Fehlen gastrointestinaler Erkrankungen, eine normale, stabile intestinale Mikrobiota, ein funktionsfähiges Immunsystem und damit einhergehend ein Zustand des allgemeinen Wohlbefindens (1).
Es scheint, dass Signale aus dem Gastrointestinaltrakt auch die Gehirnfunktionen und somit das neuropsychiatrische Geschehen beeinflussen, wie neuere Publikationen berichten (2, 3). Das heisst, es gibt auch einen Zusammenhang zwischen mentalem Wohlergehen und einem gesunden Intestinaltrakt? SB: Dazu gibt es in Deutschland nicht allzu viel Forschung. Es gibt jedoch andere Teile auf der Weltkugel, wo man schon seit je davon überzeugt ist, dass das seeli-
sche Wohlbefinden auch mit dem Zustand des Darms zusammenhängt – beispielsweise in den asiatischen Ländern. Der Bauch wird dort schon seit Langem als Zentrum spiritueller sowie physischer Kraft und Sitz der Seele angesehen. Aus wissenschaftlicher Sicht gibt es hierzu allerdings noch viele offene Fragen.
Sie sprachen von einer normalen intestinalen Mikrobiota – lässt sich das definieren? Weiss man, was als normal zu bezeichnen ist? SB: Das ist eine berechtigte Frage – bisher konnten wir hier nur Vermutungen äussern. Seit Kurzem kennen wir jedoch die Sequenzen einiger menschlicher Mikrobiota. Wie eine 2011 in «Nature» publizierte Arbeit berichtet, könnten sich die menschlichen Darmbakterien drei verschiedenen Enterotypen zuordnen lassen: Den Gattungen Bacteroides, Prevotella oder Ruminococcus (4). Wir gehen derzeit davon aus, dass alle drei Typen Beispiele einer Normalflora darstellen – ob eine Gruppe Vorteile gegenüber der anderen hat, ist offen; offen ist auch, ob es noch eine vierte Gruppe gibt. Es stellt sich allerdings die Frage, ob die Menschen, die
25 1/12
DARMGESUNDHEIT
für diese Untersuchung ausgesucht wurden, tatsächlich repräsentativ sind für die gesamte Menschheit.
Welche gesundheitliche Bedeutung haben unsere endogenen Darmbakterien für die Funktionsfähigkeit des Gastrointestinaltrakts und den Gesamtorganismus? SB: Eine ganz entscheidende, denn unsere Mikrobiota übernimmt vielfältige Aufgaben: Sie unterstützt die Verdauungsarbeit des Darms und trägt so ganz essenziell zur Energie- und Nährstoffversorgung bei. In der Mikrobiota schlummern ja 3 Millionen Gene, die unsere Fähigkeit, Nahrung überhaupt zu verdauen, enorm erhöhen. Damit steigern sich die Verwertungsmöglichkeiten für den menschlichen Organismus erheblich. Ausserdem regulieren sie die verschiedenen Funktionen des Darmepithels, wie die Schleimbildung der Becherzellen beispielsweise, und sie sind an der Bildung der Zell-Zell-Verbindungen, den sogenannten Tight Junctions, beteiligt, die die Durchlässigkeit der Darmschleimhaut und damit auch die Funktionsfähigkeit der epithelialen Darmbarriere beeinflussen. Zudem verhindern unsere endogenen Darmbakterien die Ansiedlung pathogener Mikroorganismen im Darm und stehen in engem Informationsaustausch mit dem intestinalen Immunsystem (1). Insgesamt besteht also ein sehr ausgeklügeltes Gleichgewicht zwischen Mikrobiota, Darm und Organismus; wenn dieses in Schieflage gerät, sind diverse Erkrankungen vorprogrammiert. Insofern sind diese Bakterien sowohl für die Verdauung als auch für die Entwicklung des mukosalen Immunsystems überlebenswichtig. Auf der anderen Seite stellen sie aber auch eine potenzielle Gefahr dar.
Vor allem wenn die Funktionsfähigkeit der Darmbarriere gestört ist? SB: Das ist richtig! Voraussetzung für eine funktionsfähige Darmbarriere ist ein intaktes Darmepithel. Es ist ein wichtiger Teil der Darmbarriere und funktioniert einerseits als mechanischer Schutz, da sie gegenüber den im Darmlumen befindlichen Darmbakterien eine Art Wand bil-
det. Andererseits ist es viel mehr als eine mechanische Wand, denn das Darmepithel enthält zahlreiche Zellen, die besondere Funktionen aufweisen. So sind beispielsweise spezialisierte Epithelzellen (Becherzellen) für die Produktion von Schleim verantwortlich, der den unmittelbaren Kontakt zwischen Epithelzellen und Darmbakterien verhindert und so als zusätzlicher Schutzfaktor oder Wandbestandteil dient. Ausserdem gibt es zahlreiche endokrine Epithelzellen, die sich auf die Produktion gastrointestinaler Hormone spezialisiert haben, die sowohl in die Regulation verschiedener Darmfunktionen als auch zerebraler Funktionen eingreifen. Das Darmepithel nimmt also vielfältige Aufgaben wahr und ist integraler Bestandteil der Darmbarriere. Allerdings besteht die Barriere nicht nur aus dem Epithel. Vielmehr gehören hier auch die Immunzellen dazu sowie das enterale Nervensystem. Der Abwehrwall besteht also aus mehreren Elementen: Der erste Wall ist die (von den Epithelzellen produzierte) Schleimschicht, dann folgt die epitheliale Schicht. Den dritten Wall bildet das intestinale Immunsystem, den vierten das enterale Nervensystem. Eine intakte Darmbarriere ist nicht nur für die Funktionsfähigkeit des Darms, sondern auch für die Gesundheit des Organismus unerlässlich. Störungen der Barrierefunktion, zum Beispiel durch eine pathologisch veränderte Durchlässigkeit des Darmepithels, sind – wie man heute weiss – Auslöser zahlreicher chronischer beziehungsweise chronisch-entzündlicher Erkrankungen, die nicht nur den Gastrointestinaltrakt betreffen (1).
Wie beeinflussen die Darmbakterien das intestinale Immunsystem? SB: Tatsache ist, dass sich das intestinale Immunsystem ohne die Mikrobiota nicht richtig entwickeln würde. Das liess sich in Tiermodellen eindeutig nachweisen und trifft mit grösster Wahrscheinlichkeit auch auf den Menschen zu. Und das Zweite – was nicht ganz gesichert, aber sehr wahrscheinlich ist: Dieser bakterielle Stimulus spielt sowohl für die Entstehung des Immunsystems in der allerersten Phase unseres Lebens sowie für seine spätere Ent-
wicklung eine essenzielle Rolle. Wird die Zusammensetzung der Intestinalbakterien – unter anderem beispielsweise durch Fehlernährung, Stress oder Arzneimittel – über einen längeren Zeitraum massiv gestört, dann wird auch das Immunsystem erheblich in Mitleidenschaft gezogen.
Weiss man Genaueres über die Auswirkungen einer Antibiotikatherapie? SB: Mit den modernen Methoden, die zur Bestimmung der verschiedenen im Darm vorkommenden Bakterienarten eingesetzt wurden, konnte man feststellen, dass eine Antibiotikagabe – abhängig von der Dauer – die Zusammensetzung der Intestinalbakterien tatsächlich nachhaltig und messbar beeinflusst. Es hat sich gezeigt, dass diese Veränderungen selbst sechs Monate später noch nachweisbar sind, das heisst, die Intestinalbakterien können sich nach Absetzen des Antibiotikums nicht von heute auf morgen normalisieren. Man kann jedoch davon ausgehen, dass eine Regeneration der normalen Mikrobiota mit der Zeit erfolgt – allerdings muss man vermutlich damit rechnen, dass der häufige Einsatz von Antibiotika zu dauerhaften Störungen führt. Das wurde zwar bisher nicht bewiesen, eine Extrapolation vorhandener Daten stützt jedoch diese Hypothese.
Kann man solchen Beeinträchtigungen vorbeugen, lassen sie sich irgendwie beeinflussen oder «reparieren»? SB: Hier setzt man grosse Hoffnungen auf die Probiotika, wobei positive Wirkungen dieser Art bisher nicht in dieser globalen Form nachgewiesen werden konnten.
Würden Sie bei einer erforderlichen Antibiotikatherapie eine begleitende Probiotikaeinnahme befürworten? SB: Ja. Für diesen kurzfristigen Effekt haben wir sogar sehr gute, evidenzbasierte Studiendaten, die eindeutig belegen, dass die Probiotikagabe bei antibiotikaassoziiertem Durchfall wirksam und nützlich ist.
Wie lautet also Ihr Rat für solche Fälle? SB: Man tut sich zwar noch etwas schwer, jedem Menschen, der eine Antibiotika-
1/12
26
DARMGESUNDHEIT
therapie braucht, die Einnahme eines Probiotikums zu empfehlen – bei Risikogruppen setzt sich diese Empfehlung jedoch mehr und mehr durch. Als wichtigste Risikogruppe gelten ältere Menschen, die häufiger Antibiotika nehmen müssen. Hier ist eine Probiotikagabe sinnvoll. Allerdings sollte das Probiotikum nicht schon in den ersten Tagen der Antibiotikatherapie, sondern erst zwei bis drei Tage vor dem Ende der Antibiotikaphase eingesetzt und etwa zwei bis maximal vier Wochen beibehalten werden, wenn keine Beschwerden auftreten.
Was wäre aus Ihrer Sicht hier optimal: ein Multispezies- oder ein Monopräparat? SB: Die Frage lässt sich so nicht beantworten, da es hierzu keine Vergleichsstudien gibt. Die Entscheidung ist jedem Betroffenen oder jedem Arzt selbst überlassen. Sinnvoll wäre allerdings, solche Präparate einzusetzen, die sich in entsprechenden Studien bewährt haben. Ideal wäre, wenn die Wirksamkeit beider Behandlungskonzepte in entsprechenden Vergleichsstudien gegeneinander untersucht würde, aber solche Studien sind sehr aufwendig, langwierig und teuer.
Gibt es weitere Indikationen für den Einsatz von Probiotika? SB: Es gibt aus meiner Sicht weitere klare Indikationen für den Einsatz von Probiotika: Wissenschaftlich belegt ist ihre Wirkung zum Beispiel bei infektiösen Durchfallerkrankungen inklusive Reisediarrhö sowie beim Reizdarmsyndrom und in der Erhaltungsphase der Colitis ulcerosa. Ein weiteres Indikationsfeld ist die bei Frühgeborenen auftretende nekrotisierende Enterokolitis – eine schwere Form von Darmentzündungen mit schlechter Prognose, deren Auftreten durch die Gabe von Probiotika verhindert werden kann. Für diese Indikationen existieren mehrere grössere Studien, die vergleichbar positive Ergebnisse zeigen. Allerdings helfen die hier vorhandenen Daten und Studien nicht unbedingt den Joghurtherstellern, weil Joghurts keine Medikamente sind. Hier geht es also nicht um die Behandlung oder Prävention von Erkrankungen, sondern höchstens um Prävention im allgemeinen Sinn. Wie viel der Einsatz von Joghurt allerdings wirklich bringt, ist sehr schwer zu sagen, da hier auch zu wenige Studien existieren. Auf jeden Fall gibt es keine Hinweise dafür, dass ihre Einnahme für gesunde Menschen schädlich ist.
Wie erhält man sich seine Darmgesundheit? SB: Voraussetzung dafür ist meines Erachtens eine seelisch und körperlich gesunde Lebenweise. Dazu gehören eine im allgemeinen Sinn gesunde, ausgewogene Ernährung, regelmässige Bewegung, die Vermeidung der Einnahme schädlicher Substanzen und eine gute Stimmungslage. Das ist das Beste, was wir nach heutigem Kenntnisstand tun können, um unsere Mikrobiota und damit unseren Darm und unseren Organismus langfristig gesund zu erhalten.
Besten Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Claudia Reinke.
Weiterführende Literatur: 1. Bischoff SC; Gut health: a new objective in medicine? BMC Med 2011; 9: 24. 2. Fetissov SO, Déchelotte P. The new link between gut-brain-axis and neuropsychiatric disorders. Curr Opin Clin Nutr Metabol Care 2011; 14 (5): 477–482. 3. Bercik P, Denou E, Collins J et al. The intestinal microbiota affect central levels of brain-derived neurotropic factor and behaviour in mice. Gastroenterology 2011; 141 (2): 599–609.e1-3. 4. Arumugam M et al. Enterotypes of the human gut microbiome. Nature 2011; 474 (7353): 666.
27 1/12