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BARIATRIE
Schweizerische Politik und AdipositasBehandlung – eine unappetitliche Mixtur
Dr. med. Renward Hauser
Ab 1. Januar 2011 gelten chirurgische Eingriffe zur Behandlung des schweren Übergewichts (bariatrische Chirurgie) als Pflichtleistung der Krankenversicherer ab einer Adipositas Klasse II (BMI > 35 kg/m2) (1). Diese von unseren Medien als Neuerung und potenzieller Grund für weitere Kostensteigerungen im Gesundheitswesen gefeierte Entscheidung ist in Tat und Wahrheit die Wiedereinführung «alten Rechts», wie es international (2) seit Anbeginn immer und für die Schweiz bis 2000 auch Gültigkeit besass. Weshalb verfolgte die Schweiz während der letzten 11 Jahre einen einzelgängerischen und deutlich restriktiven Weg? Politik!
Nicht das Wohl oder gar die Heilung der adipösen Kranken waren Ende der Neunzigerjahre Anlass zu heftigem politischem Lobbying mit dem Endresultat einer verschärften Diskriminierung Adipöser und vorenthaltenen Hilfeleistungen. Die bariatrische Chirurgie hat nie behauptet, sie könne die chronische Krankheit Adipositas heilen. Vor mehr als 10 Jahren konnte sie jedoch beweisen, dass sie eine wirksamere, zweckmässigere und wirtschaftlichere Behandlung (3) der Adipositas ermöglicht als alle anderen bisherigen Therapien. Von den 2001 für die Behandlung der Adipositas und
ihrer Folgekrankheiten aufgewendeten nen Wertvorstellungen und mehrheits-
2,7 Milliarden Franken flossen nur 43 Mil- fähigen (emotional arbeitenden) Vorur-
lionen in die Behandlung der Grund- teile bestimmen die Richtung jeder Poli-
krankheit Adipositas. Davon wurden tik – ausgeprägt die der demokratisch
gerade noch 10 Millionen für die bariatri- legitimierten. An diesem Punkt wird
sche Chirurgie ausgegeben (4). Worin und selbst eine Krankheit wie die Adipositas
von wem konnte damals ein Mehrwert politisch.
erkannt werden, um das Begehen von
Straftatbeständen der Diskriminierung Dicke haben keine Lobby. Adipositas ist
und der unterlassenen Hilfeleistung zu nicht sexy. Ausgehend von einem vorauf-
rechtfertigen? Politik!
klärerischen Schuldgedanken spricht
eine Mehrheit der Bevölkerung den Adi-
Adipöse Menschen sind chronisch krank pösen ein schweres Selbstverschulden,
und sterben jünger als Normalgewich- charakterliche und intellektuelle Defizite
tige. Ihre Folgekrankheiten, die schliess- zu. Der Umgang der mittelalterlichen Ge-
lich zu Erwerbsunfähigkeit, Invalidität sellschaft mit dem Aussatz (Lepra) unter-
und verfrühtem Tod führen, tragen mass- schied sich nur punktuell von dem heute
geblich zur raschen Kostensteigerung mehrheitlich feindlichen Verhalten der
des Gesundheitswesens bei. Da die sich modern nennenden Gesellschaft ge-
Adipositas eine globale
genüber der Adipositas. Ist
Epidemie ist, wird das Gesundheitswesen vieler Schwellenländer, in denen sich die Adipositas be-
Dicke haben
« »keine Lobby.
der Schuldige erst einmal erkannt und benannt, scheinen Ablehnung, Ausgrenzung, Herabminde-
sonders rasch ausbreitet,
rung und die Verweige-
in wenigen Jahren an den
rung einer wirksamen,
Rand des Ruins geraten (5). Dieses Damo- aber Kosten verursachenden Hilfeleis-
klesschwert wurde von der Weltgesund- tung legitimiert zu sein. Verantwortungs-
heitsorganisation schon vor 20 Jahren er- volle Politik wäre gefordert. Stattdessen
kannt. Warum ging die offizielle Schweiz scheint sich die Politik einer unsäglich
gerade auf Tauchstation, als sich auch die vereinfachenden Volksmeinung zu bedie-
europäischen Minister der WHO 2006 in nen. Als ob allein die Festlegung eines
Istanbul zu derselben Erkenntnis durch- Schuldigen je ein bestehendes Problem
ringen mussten, und eliminierte das «alte gelöst hätte!
Recht»? Politik!
Unsere genetische Ausstattung zum
Politik ist nicht zwangsläufig gesunder Überleben chronischer Mangelsituatio-
Menschenverstand. Auch nicht ein un- nen – in der bisherigen Menschheits-
bändiger Wille zur Lösung anstehender geschichte ein unerlässlicher und erfolg-
Probleme. Schon in historischen Zeiten reicher Faktor – wurde erst durch die
wie auch heute bedient sie sich selten Überflussgesellschaft mit krankmachen-
neutraler, wissenschaftlich belegbarer der Übermobilisierung zu einem lebens-
Fakten. Auch eine demokratisch legiti- gefährdenden Element. Diese Entwick-
mierte Politik, das heisst Entscheidungs- lung der letzten 60 Jahre wurde bisher
findung und Durchsetzung der Meinun- aber von einer überwiegenden Bevölke-
gen einer Volksmehrheit, verhält sich so. rungsmehrheit begrüsst und getragen,
Denn der Zeitgeist, die daran gebunde- verhiess sie doch dem Einzelnen materiel-
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les Wohlergehen. Gegensteuer geben schaftlich Verfemten? Ergo findet das
wäre heute nicht nur kostenintensiv, es Lobbying der Krankenversicherer bei
wäre für jeden Politiker inopportun und politischen Entscheidungsträgern einen
garantierte seine Abwahl. Politiker bedie- bisher stets fruchtbaren Boden. Darauf
nen einfacher die simplifizierende Volks- können dann solch unerträglich diskri-
meinung. Oft aus eigener Überzeugung, minierende und realitätsverkennende
aber wohl ebenso häufig aus Eigennutz. Entscheidungen gedeihen, wie sie den
Umgang der Schweiz mit
« … eine Mehrheit der Bevölkerung »spricht den Adipösen ein schweres
Selbstverschulden zu.
der Adipositasbehandlung in den vergangenen 11 Jahren prägten.
Nervtötende und kräfte-
bindende Kleinkriege für
die Interessen Adipositas-
kranker im vergangenen Jahrzehnt ha-
Die Krankenversicherer leiden unter ben endlich das «alte Recht» wiederher-
wachsendem finanziellem und gesell- gestellt. Aber dieser «Sieg» ist keinesfalls
schaftspolitischem Druck im Gefolge der gesichert. Eine populistische Politik rüs-
steten Prämienanstiege. Wer würde nicht tet sich, unter Benutzung alter Vorurteile
Verständnis dafür aufbringen, dass sie und mit Beihilfe von mit medizinischem
sich weiterer Kostenpflichten zu entledi- Fachwissen wenig belasteten Ökonomen,
gen versuchen? Wo gelingt dies mit zur nächsten Schlacht. Dabei scheinen
geringerer Anstrengung als bei Leis- viele tatsächlich zu glauben, die Adiposi-
tungsverweigerungen gegenüber gesell- tas-Pandemie mache an Landesgrenzen
Halt. Ein geradezu unanständiger Euphemismus ist es, wenn mit Inbrunst verkündet wird, dies geschehe nur zum Schutze der Kranken vor einer gewissenlos geldgierigen Medizin. Ehrlicher wäre wohl das mit Verlaub etwas abgewandelte Zitat: «Wen wir lieben, den züchtigen (diskriminieren) wir zu seinem eigenen Wohl.»
Korrespondenzadresse: Dr. med. Renward S. Hauser Facharzt FMH Chirurgie Konsiliararzt klinische Ernährung und bariatrische Chirurgie Talstrasse 65, 8001 Zürich E-Mail: rshsurg.nutr@bluewin.ch
Literatur: 1. Krankenpflegeleistungsverordnung (KLV) Anhang 1.1. vom 1.1.2011 2. Surgery for Severe Obesity. NIH Consense Statement 1991 Mar 25–27; 9 (1): 1–20. 3. Bundesgesetz über die Krankenversicherung (KVG) von 18.3.1994, Art. 32. 4. H. Schneider, HealthEcon AG. Studie im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit (BAG): 2004. 5. Popkin, Barry (August 22, 2007). «The World Is Fat». Scientific American: p. 94. ISSN 0036-8733.