Transkript
BARIATRIE
Bariatrische Chirurgie
Indikationen und präoperative Abklärungen
NIKLAUS KAMBER
Die Adipositas, von der WHO als chronische Krankheit definiert, bedeutet für die Betroffenen ein erhebliches gesundheitliches Risiko. Menschen mit krankhaftem Übergewicht sind nicht nur mit zahlreichen Begleiterkrankungen (Hypertonie, Typ 2-Diabetes, kardiovaskuläre Erkrankungen) konfrontiert, sondern leiden oft zusätzlich unter einem Verlust an Lebensqualität und Selbstwertgefühl. Während konservative Massnahmen häufig kaum langfristige Erfolge zeigen, hat die bariatrische Chirurgie auch langfristig positive Effekte aufzuweisen, was Gewichtsabnahme, Komorbiditätsrisiko und Lebensqualität betrifft. Allerdings erfordern Indikationsstellung und präoperative Abklärungen jeweils besondere Sorgfalt.
Die Adipositas-Epidemie
In einer Begrüssungsansprache zum kürzlich zu Ende gegangenen jährlichen EASD (European association for the study of Diabetes)-Kongress in Lissabon fiel mehrmals der Begriff «Tsunami» als Metapher für die weltweite «Adipositas-Epidemie» (WHO). Auch Publikationen zum Thema bariatrische Chirurgie verweisen häufig auf epidemiologische Eckdaten zur steigenden Prävalenz der Adipositas gefolgt von Kostenberechnungen, die diese Epidemie belegen. Die Zahlen sind tatsächlich eindrücklich: Gemäss der vierten Gesundheitsbefragung in der Schweiz (1) von 2007 waren 37,3 Prozent (1992: 30,3%) der über 15-jährigen Schweizerinnen und Schweizer zu schwer; das heisst, sie wiesen einen BMI (Body-Mass-Index) von mehr als 25 kg/m2 auf. Beim überwiegenden Teil dieser «zu schweren» Mitbürger (29,2% aller Untersuchten) wurde ein BMI zwischen 25 und 30 gemessen; sie fallen damit in die Kategorie «Übergewicht», 8,1 Prozent waren adipös (BMI > 30 kg/m2). In der hier zitierten Studie nicht aufgeführt sind die morbid adipösen Menschen, deren Anteil
auf etwa 1 Prozent der Bevölkerung geschätzt wird. Aufgrund der erhobenen Daten gehen die Autoren davon aus, dass bei den Frauen in der Schweiz bereits ein Gewichtsplateau erreicht wurde (bei 29% der weiblichen Population wird ein BMI von > 25 gemessen). Bei den Männern wird der Anteil vermutlich noch leicht ansteigen (von 46,4 auf 48,7% zwischen 2007 und 2022). Allerdings soll die Zahl der adipösen Männer (BMI > 30) nach dieser Projektion in den nächsten Jahren bereits wieder sinken. Die adipositaskorrelierten Kosten stiegen gemäss der zitierten Studie zwischen 2001 und 2006 von 2648 auf 5755 Mio. Franken oder 0,38 Prozent des BIP. Interessant ist die Spannbreite von geschätzten 0,09 bis 0,61 Prozent des BIP in den untersuchten westeuropäischen Ländern. Diese ausserordentlich grosse Spannbreite wirft die Frage auf, ob die Berechnungen auch auf einer einheitlichen Basis beruhen. Adipositas ist häufig und oft mit schwerwiegenden gesundheitlichen Problemen vergesellschaftet; der Begriff «Epidemie»
scheint mir dennoch kein geeigneter Ausdruck, um das Phänomen zu beschreiben. Er weckt Assoziationen, die die Diskussion über ein emotional belastetes Thema zusätzlich erschweren. Auch der «Tsunami» ist kein geeignetes Bild, um ein sehr komplexes, wissenschaftlich schwer fassbares Problem zu illustrieren. Zudem kann kaum von einer Springflut gesprochen werden, wenn die Prävalenz von hohem Übergewicht zumindest in der Schweiz – gemäss den publizierten Daten – inzwischen wahrscheinlich bereits auf hohem Niveau plafoniert ist. Thema des vorliegenden Beitrags sind zwar Indikation und präoperative Abklärungen bei bariatrischer Chirurgie. Dieser einleitende Exkurs scheint mir dennoch gerechtfertigt, weil in der medizinischen Diskussion der Therapieindikationen von Kollegen und Kostenträgern, aber auch seitens der Patienten epidemiologische Daten und Kostenargumente vorgebracht werden, um der Operationsindikation zusätzliche Dringlichkeit zu verleihen.
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Indikationen
Die Veränderungen der Anforderungen
Zum 1. Januar 2011 wurden die Indi- für eine bariatrische Operation werden
kationen für die Leistungsübernahme medizinisch mit einer verringerten Mor-
bariatrischer Operationen durch die Kran- bidität und Mortalität, ökonomisch mit
kenkassen ausgeweitet. Die Operations- den errechneten Begleitkosten der «Adi-
indikationen sind schnell aufgezählt. Sie positasepidemie» begründet. Nachfol-
beinhalten im Wesentlichen zwei Aspek- gend soll auf die Argumentation und ihre
te: Übergewicht sowie den Nachweis Problematik eingegangen werden.
eines begleiteten und dokumentierten konservativen Gewichtsabnahmever- Mortalitätsraten, Komorbiditäten suchs. Zusätzlich wird eine Reihe von und bariatrische Chirurgie
Kontraindikationen aufgeführt. Zudem Der statistische Zusammenhang zwi-
sind Massnahmen vorgesehen, die die schen Krankheiten wie Diabetes oder Hy-
Zahl der Zentren limitieren sollen, an de- pertonie und Adipositas ist gut belegt
nen bariatrisch operiert wird. Derzeit lau- und unbestritten, ebenso der Anstieg der
fen entsprechende Verhandlungen mit allgemeinen Mortalität mit zunehmen-
den betroffenen Spitälern. Mit den revi- dem Übergewicht (4). Unbefriedigend ist
dierten Richtlinien passt sich die Schweiz hingegen die Datenlage zu den Verände-
hinsichtlich des für bariatrische Eingriffe rungen der Mortalitätsrate nach bariatri-
geforderten BMI von ≥ 35 kg/m2 (Tabelle scher Chirurgie. Die genauere Lektüre ei-
1) anderen europäischen Ländern und ner wichtigen und oft zitierten Studie (5)
den USA an (2). Die Indikation kann je- illustriert einige der ungeklärten Aspekte.
doch noch liberaler gestellt werden als Hier wurden etwa 10 000 Patienten, die
beispielsweise in Deutschland, wo Patien- sich zwischen 1984 und 2002 einer Ma-
ten mit einem BMI zwischen 35 und 40 genbypassoperation unterzogen hatten,
nur operiert werden, wenn bereits Adipo- retrospektiv untersucht und mit einer
sitas-assoziierte Komorbiditäten beste- Kontrollgruppe gleich schwerer, nicht
hen (3).
operierter Patienten verglichen. Die Mor-
talitätsdaten wurden mit
Hilfe eines nationalen Re-
Tabelle 1: Voraussetzungen für bariatrische Eingriffe (gültig ab 01.01.2011)
gisters erfasst. Bei den stark Übergewichtigen (BMI > 45) konnte ein deutlich positi-
(angelehnt an Swiss study group for morbid obesity (SMOB; www.smob.ch)
ver Effekt der Operation auf die Überlebensrate gezeigt werden, wobei die gewon-
Indikationen
nenen Lebensjahre vor
1. Body-Mass-Index (BMI) ≥ 35 kg/m2.
allem auf die Reduktion
2. Nachvollziehbare zweijährige adäquate konservative Therapie zur Gewichtsreduktion (BMI v ≥ 50 kg/m2 einjährige Therapie)
koronarer Ereignisse, Diabetes-mellitus-assoziierter Todesfälle und Krebser-
Kontraindikationen 1. Internistische Leiden: Schwere Niereninsuffizienz, instabile
Angina pectoris, Status nach kürzlichem Herzinfarkt, fortgeschrittene Leberzirrhose, Morbus Crohn, Status nach
krankungen zurückzuführen waren. Bei den weniger stark Übergewichtigen (also BMI < 45!) war die Reduk- Lungenembolie innerhalb 6 Monaten vor Operation, Krebspatienten (nicht kontrolliert oder in Remission innerhalb von 2 Jahren). Für die meisten internistischen Leiden können (fachärztlich) begründete Ausnahmen zugelassen werden. 2. Ernsthaftes, nicht auf das Übergewicht zurückzuführendes behandlungsbedürftiges psychisches Leiden, das in den letzten zwei Jahren zu rezidivierenden Dekompensationen geführt hat; chronischer Substanzabusus, mangelnde Compli- tion der Mortalitätsrate immer noch nachweisbar, erreichte jedoch nur noch ein p-Niveau von 0,05 Prozent. Nicht adipositasassoziierte (nondisease causes) Todesfälle wie beispiels- ance u.a. weise Suizide, Unfälle oder unklare Zwischenfälle mit Medikamenten waren teilweise für den Verlust des positiven Trends verantwortlich. Diese Arbeit wird häufig zitiert als Argument «pro» bariatrische Chirurgie. Aus verschiedenen Gründen haben diese Daten 2011 jedoch bestenfalls noch eingeschränkte Gültigkeit und können nur mit Vorbehalten für eine differenzierte Argumentation beigezogen werden. Die Medizin hat sich seit 1984 wesentlich verändert. Zum einen sind die bariatrischen Eingriffe effektiv sicherer geworden, die postoperative Morbidität und Mortalität dementsprechend kleiner (6). Gleichzeitig haben sich aber auch die Behandlung der koronaren Herzkrankheit, des Diabetes mellitus und die Krebstherapien wesentlich geändert. Es gibt beispielsweise gute Hinweise für die verbesserte Prognose kardiovaskulärer Erkrankungen durch die effizienteren Therapiemöglichkeiten (7). Dass Diabetes mellitus Typ 2 1984 (also 14 Jahre vor der ersten grossen Publikation der United Kingdom Prospective Diabetes [UKPD]-Studie) als Krankheit ganz anders erfasst und behandelt wurde als heute, bedarf vermutlich keines ausführlichen Kommentars. Auch die sicher bahnbrechende Swedish Obese Subjects-(SOS-)Studie hat positive Mortalitätsdaten geliefert (8). Wir sollten aber auch sie im zeitlichen Kontext lesen. Affirmative Aussagen zum Überlebensgewinn durch die moderne bariatrische Chirurgie lässt die SOS nicht zu. Die Studie war nicht randomisiert; zudem war der Anteil der Probanden, die einen Bypass erhielten, in der Gruppe der operierten Patienten klein (265 von 2010; die übrigen erhielten ein Magenband oder eine Gastroplastik, beides Techniken, die inzwischen mehr und mehr verlassen werden). Schliesslich starben in der SOS-Studie insgesamt wenig Teilnehmer, nämlich 129 in der Kontrollgruppe und 101 der operierten Patienten. Die Zahl der Todesfälle war also zu klein für eine aussagekräftige Subgruppenanalyse (es zeichnete sich allenfalls eine Tendenz zu grösserem Überlebensgewinn für die schwereren Studienteilnehmer ab). Insgesamt sprechen die bestpublizierten Studien eher für einen positiven Effekt der Eingriffe auf die Mortalität. Die Zahlen 9 4/11 BARIATRIE sind allerdings – wie oben geschildert – keineswegs eindeutig. Für die etwas leichteren Patienten besonders mit BMI < 40, ist die Datenlage sogar ausgesprochen dürftig. Evidenzbasiert kann deshalb für diese Gruppe nicht mit einem Überlebensgewinn argumentiert werden; entsprechend werden die Operationen hier auch eher mit dem günstigen Einfluss auf assoziierte Erkrankungen, besonders auf Diabetes mellitus, legitimiert. Bereits in den Neunzigerjahren wurden hohe Diabetes-Remissionsraten nach bariatrischer Chirurgie beschrieben (9), das Interesse an diesem Aspekt hat zugenommen. Inzwischen werden experimentell verschiedene Operationstechniken mit besser kontrolliertem Diabetes mellitus als Endpunkt selbst bei Patienten mit einem BMI unter 35kg/m2 angewandt (10). Diabetes mellitus Typ 2 ist meistens mit konservativen Behandlungsmethoden kontrollierbar, die jedoch einem schnellen Wandel unterliegen. Eine randomisierte Studie mit dem Endpunkt «Kontrolle des Diabetes mellitus», die bariatrische Eingriffe (welche Operationsmethode?) mit medikamentöser Therapie (welche Medikamente?) vergleicht und aussagekräftige Resultate zeitigt, wird schwer zu entwerfen sein. Wir werden uns noch lange mit Surrogaten behelfen müssen. Dennoch wird die bariatrische Chirurgie ihren Platz in der Behandlung des Diabetes mellitus Typ 2 in Zukunft festigen. Ich würde mich jedoch der Meinung von Herrn Prof. M. Brändle anschliessen, der diese Indikation am ehesten für stark übergewichtige Patienten mit schlechter Blutzuckerkontrolle unter hohen Insulindosen sieht (11). Eine Reihe weiterer Komorbiditäten, wie sie bis Ende 2010 zur Operationsindikation gefordert wurden, wird durch die Bariatrie verbessert, sodass sie bei grossem Leidensdruck auch mit einer gewissen Berechtigung als Begründung, in Einzelfällen sogar als Hauptbegründung, für eine Operation beigezogen werden können. Zu diesen Komorbiditäten gehören beispielsweise Beschwerden des Bewegungsapparats durch degenerative Veränderungen der grossen Gelenke der un- teren Extremität, unter de- Tabelle 2: Vorschlag zu präoperativen Abklärungen nen adipöse Patienten sehr häufig leiden. Gelegentlich fordern die Orthopäden vor einer prothetischen Versorgung einer Gonarthrose eine substantielle • Ausführliche internistische Anamnese inklusive Gewichtsverlauf. Bei Hinweisen für anormale Tagesmüdigkeit Epworth Sleepiness Scale (ESS) • Körperliche Untersuchung • Labor (maschinell differenziertes weisses Blutbild, Na, K, Krea, GPT, GOT, Alk Phosph, GGT, Bili, Ca, INR, Glukose und Gewichtsreduktion, die evtl. HbA1c; 25 [OH]-Vitamin D; besonders bei älteren Patien- dann nur mit Hilfe bariatrischer Chirurgie erreicht werden kann. Diese Patienten sind gefangen in einem Teufelskreis von Übergewicht und Schmerzen; bei drohender Immobilität ten Lipidstatus zur besseren Abschätzung des kardiovaskulären Risikos). Weiteres Labor nur bei Hinweisen auf Probleme (bspw. Vitamin B12, Folsäure, Ferritin) • Eventuell kardiologische Beurteilung. Die kardiologische Abklärung wird durch das Übergewicht oft erschwert (Gewichtslimiten für Ergometer, Computertomografen, MRI und Szintigrafien; schwere Einsehbarkeit bei transthorakaler Echokardiographie); besonders bei sehr schweren Patienten kann eine Operation sicher gut begründet werden. Auf die problematische Diagnose des Syndroms der polyzystischen Ovarien soll hier nicht weiter eingegangen werden. Für stark und erheblichem Risiko muss gelegentlich invasiv abgeklärt werden • Als Screeninguntersuchung bei ESS > 9 eventuell nächtliche Oxymetrie gefolgt von Polygrafie. Bei schwerem obstruktivem Schlafapnoesyndrom sollte eine CPAP-Behandlung evaluiert werden, zur besseren präoperativen Vorbereitung und vereinfachten unmittelbar postoperativen Oxygenierung • Psychiatrische Begutachtung
adipöse Frauen mit erhöh- • Obere Panendoskopie inklusive Frage nach Helicobacter ten Androgenspiegeln und pylori.
unerfülltem Kinderwunsch
kann die Gewichtsabnahme jedoch ein dass vor allem «gesunde übergewichti-
wichtiger therapeutischer Schritt sein. ge» Patienten in fortgeschrittenem Alter
Alterslimite und Indikation
von der Operation profitieren würden. Wie sinnvoll bei diesen Patienten eine
Die zuvor strikt eingehaltene Alterslimite Operation ist, kann evidenzbasiert aller-
von 65 Jahren wurde durch die neuen dings nicht argumentiert werden.
Richtlinien per 01.01.2011 aufgehoben. Mit zunehmendem Alter wird die Assozia- Lebensqualität und Indikation
tion von Mortalität und BMI schwächer. In Als Kliniker sind wir gewohnt, Therapien
der bereits zitierten Kohortenstudie aus zuerst durch Studien mit «harten» End-
den Vereinigten Staaten (4) wurde, wie punkten zu begründen. Im Falle von Adi-
bereits erwähnt, eine klare Mortalitäts- positas spielen diese Argumente für die
zunahme bei ansteigendem BMI doku- Betroffenen selbst eine kleine Rolle. Für
mentiert. Die Kurve zeigte einen U-förmi- sie ist der Wunsch entscheidend, durch
gen Verlauf, mit den höchsten den operativen Eingriff ihre einge-
Sterberaten für untergewichtige Patien- schränkte Lebensqualität zu verbessern.
ten und jenen mit sehr hohem BMI. Mit Wie gross diese Einschränkung ist, wurde
zunehmendem Alter verlief sie jedoch fla- in vielen Studien gut belegt (12). Gut be-
cher, das heisst, bei älteren Patienten war legt ist auch der positive Effekt der bari-
der Anstieg des Sterberisikos in Abhän- atrischen Chirurgie – beziehungsweise
gigkeit vom BMI geringer als bei den jün- des nachfolgenden Gewichtsverlusts –
geren. Dies galt vor allem für jene, die auf verschiedene Dimensionen der Le-
rauchten oder geraucht hatten. Die Kor- bensqualität (13). Eine interessante Beob-
relation von Sterberisiko und hohem BMI achtung, die wahrscheinlich auf unter-
(zum Zeitpunkt der Erhebung) war am schiedlichen psychosozial wirksamen
stärksten für Nichtraucher. Extrapoliert Druck zurückzuführen ist, ist die Tatsache,
man von dieser Untersuchung auf mögli- dass weitaus mehr Frauen als Männer
che Effekte der bariatrischen Chirurgie, bariatrisch operiert werden (14), obwohl
kann paradoxerweise postuliert werden, Männer vergleichsweise deutlich häufi-
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ger übergewichtig und adipös sind (siehe Einleitung). Als Arzt, der bariatrische Patienten mitbetreut, kann ich diese Eingriffe mit der selbst beobachteten und in Studien belegten Verbesserung der Lebensqualität viel eher begründen als mit den unbefriedigenden Daten zur Mortalität und Kosteneffektivität.
Psychiatrische Erkrankung und Indikation
Ein wichtiges «Caveat» betrifft Patienten mit vorbestehender psychiatrischer Pathologie. Diese Patienten sind häufig. Adipositas ist assoziiert mit verschiedenen psychiatrischen Leiden (z.B. Schizophrenie und Depressionen) und ihren pharmakologischen Therapien. In den Richtlinien der Swiss Study Group for Morbid Obesity (SMOB) wird ein «ernsthaftes, nicht auf das Übergewicht zurückzuführendes, behandlungsbedürftiges psychisches Leiden, das in den letzten zwei Jahren zu rezidivierenden Dekompensationen geführt hat» als Kontraindikation aufgeführt. Damit wird keine spezifische psychiatrische Diagnose ausgeschlossen. In anderen Ländern sind definierte psychiatrische Diagnosen ohne Zeitlimite gelistet. Patienten mit Krankheiten wie Schizophrenie oft nicht mehr in Betracht kommen. Die schweizerische Formulierung lässt einen gewissen Spielraum für Interpretationen zu (was heisst beispielsweise «rezidivierende Dekompensationen»?). Auch psychiatrisch belastete Patienten können bei glaubhaftem Leidensdruck mit grosser Dringlichkeit und Insistenz eine Operation fordern; sie abzulehnen ist oft schwierig. Ein zuverlässiges präoperatives psychiatrisches Screening gibt es nicht. Wir müssen uns auf unsere eigene und vor allem auf die klinische Beurteilung durch die obligatorisch beigezogenen Psychiater verlassen. Falls eine Operation bei psychisch kranken Patienten erwogen wird, muss nach dem psychiatrischen Gutachten auch das Umfeld einbezogen und die engmaschige Betreuung postoperativ sichergestellt werden. Falls Zweifel über die langfristigen psychiatrischen Betreuungsmöglichkeiten bestehen, sollten die Betroffenen nicht ope-
riert werden. Gerade in diesem Bereich fehlen wissenschaftliche Daten weitgehend. Grössere prospektive Studien, die den Verlauf bei präoperativ bekannten definierten psychiatrischen Diagnosen untersuchen, wären von grossem Nutzen.
Präoperative Abklärungen und Vorbereitung
In Vorbereitung auf diesen Beitrag habe ich Kollegen aus verschiedenen Zentren über ihre Abklärungsalgorithmen befragt. Es gibt erhebliche Unterschiede. Solide Evidenz, wie die präoperative Abklärung erfolgen soll, gibt es nicht. Unser Vorgehen ist kompatibel mit den Vorschlägen der SMOB, die recht offen formuliert sind. Alle Patienten werden in unserem Zentrum mit einem gewissen zeitlichen Abstand (meistens einige Wochen) vom Chirurgen und dem Endokrinologen gesehen (im SMOB-Papier wird von einem «standardisierten interdisziplinären Assessment» gesprochen). Sie absolvieren zudem 9 physiotherapeutische Einheiten in einer Gruppe zur besseren Abschätzung des Trainingszustandes (in den SMOB-Richtlinien nicht vorgesehen) und erhalten eine präoperative Ernährungsberatung (zwei Sitzungen) mit Fokus auf die postoperativ zu erwartenden Probleme bei der Nahrungsaufnahme.
Zusammenfassung
Die bariatrische Chirurgie ist die derzeit erfolgversprechendste Massnahme zur Reduktion von massivem Übergewicht. Es gibt Hinweise, dass die Eingriffe Mortalitätsraten reduzieren können. Eindeutig bewiesen ist dies jedoch nicht. Der häufigste Grund, eine Operation anzustreben, ist der Leidensdruck der Betroffenen, der bei guter Selektion in der Mehrzahl der Fälle günstig beeinflusst werden kann, mit deutlicher Verbesserung der Lebensqualität. Der positive Effekt der Eingriffe korreliert mit dem BMI; der grösste Gewinn kann bei sehr schweren Patienten erwartet werden. Der «Ertrag» sinkt mit tieferem BMI; der Anteil an «gesunden Adipösen» unter den Operierten wird mit der Senkung der BMI-Limite grösser. Besondere Vorsicht bei der Operationsindi-
kation ist damit in der Gruppe mit BMI zwischen 35 und 40 angebracht. Dasselbe gilt für Patienten in höherem Alter, die kaum einen Überlebensgewinn erwarten können. Über die erfolgreiche «metabolische Chirurgie» mit der Behandlung des Diabetes mellitus als Ziel gibt es beeindruckende Berichte. Allerdings fehlen hier noch Langzeitdaten. Ein sonst nicht kontrollierbarer Diabetes mellitus Typ 2 kann in Einzelfällen zur Hauptindikation für einen bariatrischen Eingriff werden. Ein grosses und ungelöstes Problem sind Patienten mit schwerwiegender psychiatrischer Erkrankung. Wenn man sich hier für eine Operation entscheidet, muss eine engmaschige psychiatrische und soziale Betreuung prä- und postoperativ unbedingt garantiert sein. Das Hauptgewicht der präoperativen Abklärungen liegt auf der Anamnese und der klinischen Untersuchung. Labortests sind in aller Regel nicht aufwändig; über weiterführende Untersuchungen wird im Einzelfall entschieden. Vielen Patienten geht es nach der Gewichtsabnahme, die sie durch die bariatrischen Eingriffe erreichen, unzweifelhaft besser. Wenn mit den neuen Richtlinien allerdings die Sorgfalt nachlassen sollte, laufen wir Gefahr, den Nutzen für die von Adipositasbetroffenen zu schmälern. Zurückhaltung sollte besonders für Indikationen in der Grauzone ein Leitthema sein.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Niklaus Kamber Leitender Arzt Endokrinologie/Diabetologie und Innere Medizin Kantonsspital Graubünden Loëstrasse 170, 7000 Chur E-Mail: niklaus.kamber@ksgr.ch
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