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KONGRESSBERICHT IAGG
Mangelernährung vermeiden:
Beweglichkeit und Unabhängigkeit im Alter erhalten
CLAUDIA REINKE
Die Funktionsfähigkeit und – eng gekoppelt damit – die Unabhängigkeit älterer Menschen hängen entscheidend davon ab, inwieweit die altersbedingten Veränderungen in der Körperzusammensetzung sowie die damit verbundene Abnahme der körperlichen Leistungsfähigkeit und die nachlassenden Bedürfnisse hinsichtlich Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme durch eine energie- und nährstoffreiche Kost und regelmässige Bewegung kompensiert werden können. Unter dem Titel «Ernährung und Funktionalität» stand dieses Thema im Mittelpunkt eines Satellitensymposiums, das anlässlich des XIXth IAGG World Congress of Gerontology and Geriatrics im Juli 2009 in Paris stattfand.
Die mit fortschreitendem Alter zunehmenden physiologischen Veränderungen, zu denen unter anderen auch nachlassender Appetit, fehlendes Durstgefühl und ein vermindertes Geruchs- und Geschmacksvermögen gehören, erschweren auf Dauer die ausreichende Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme älterer Menschen. Die dadurch bedingte mangelnde Versorgung mit essenziellen Nährstoffen, insbesondere Eiweiss sowie Vitaminen, Spurenelementen, essenziellen Fettsäuren und sekundären Pflanzenstoffen, erhöht allerdings das Risiko für akute und chronische Erkrankungen und ist mit steigenden Mortalitätsraten assoziiert. Ein schlechter Gesundheitszustand sowie die daraus folgende medikamentöse Behandlung tragen zusätzlich zum Appetitverlust bei. Die zunehmende Unterversorgung mit lebenswichtigen Nährstoffen verstärkt jedoch die körperlichen Beeinträchtigungen. Die auftretenden funktionellen, psychischen und mentalen Einbussen erfordern früher oder später eine dauerhafte pflegerische Unterstützung – Eigenständigkeit und Unabhängigkeit sind damit endgültig Vergangenheit.
Mangelernährung begünstigt Sarkopenie und Frailty
In seinen Ausführungen betonte der Geriater und Gerontologe Dr. Luigi Ferrucci vom National Institute on Aging, Baltimore, USA, dass eine qualitativ hochwertige Ernährung, die insbesondere ausreichend Gemüse und Früchte enthalten sollte, für den Erhalt der Gesundheit bis ins hohe Alter lebenswichtig ist. Durch die nährstoffreiche pflanzliche Kost werde der Organismus vor allem auch mit zahlreichen hochpotenten Antioxidanzien versorgt. In verschiedenen Studien habe sich gezeigt, dass eine Unterversorgung mit diesen Substanzen auf Dauer mit einer Abnahme der physischen Funktionen und zunehmendem Verlust körperlicher und geistiger Leistungsfähigkeit verbunden ist. Ferrucci erinnerte hier an die RadikalTheorie des Alterns, die davon ausgeht, dass ungebremster oxidativer Stress über Mutationen in der mitochondrialen DNA mit Dysfunktionen im Elektronentransport der Atmungskette zur Entstehung verschiedener Krankheiten beiträgt. Die multiplen Schädigungen in Nukleinsäuren sowie Lipid- und Zellstrukturen sind über chronische Entzündungen und Hor-
mondysregulationen eng mit dem Auftreten von Sarkopenie und dem Frailty-Syndrom assoziiert. Dem lässt sich nur entgegenwirken, wenn entstehende freie Radikale frühzeitig durch ausreichend hohe Spiegel von endogenen sowie mit der Nahrung zugeführten antioxidativen Substanzen neutralisiert werden. Noch sei diese Hypothese zwar nicht endgültig bewiesen, so Ferrucci, verschiedene Studien hätten inzwischen jedoch gezeigt, dass niedrige Serumkonzentrationen von Mikronährstoffen wie den Vitaminen A, D, E, B6 und B12 sowie von Carotinoiden, Folsäure und Selenium signifikant mit dem Auftreten von Sarkopenie und Frailty assoziiert sind (s. dazu 1–3). Wenn immer möglich sollte die Nährstoffzufuhr durch obst- und gemüsereiche Ernährung erfolgen, da so die Aufnahme einer ausgewogenen und harmonischen Vielfalt dieser Substanzen mit entsprechender Breitbandwirkung garantiert sei (s. Seite 25).
Stürze und Frakturen – bessere Vitamin-D-Versorgung erforderlich
Evidenzbasierte Daten zur Prävention von Stürzen und Frakturen bei älteren Menschen sind bisher nur für Vitamin D
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und Kalzium vorhanden, erklärte die Leiterin der klinischen Forschung des Departements für Rheumatologie an der Universität Zürich, Professor Heike Bischoff-Ferrari. Andere Mikronährstoffe wie die Vitamine C und B12 wurden mit besserer Knochengesundheit assoziiert, während eine ausreichende Proteinaufnahme für den Aufbau und möglicherweise auch die Funktion der Muskelmasse unentbehrlich ist. Vitamin D moduliert dagegen nachweislich das Frakturrisiko, und zwar auf zwei verschiedene Arten: Es erhöht zum einen die Knochendichte (über seinen Einfluss auf den Kalziumstoffwechsel) und ist zum anderen in der Lage, das Sturzrisiko signifikant zu reduzieren. Diese Fähigkeit wird durch die Präsenz eines spezifischen intrazellulären Vitamin-D-Rezeptors in der Muskulatur erreicht, der nach Bindung des Vitamins die intramuskuläre Proteinsynthese anregt und so die Muskelkraft und das Gleichgewicht verbessert – Effekte, die auch der Sarkopenie und Frailty entgegenwirken. In verschiedenen, qualitativ hochwertigen Studien hat sich inzwischen gezeigt, dass Vitamin D das Sturzrisiko älterer Menschen signifikant zu reduzieren vermag; dabei schwanken die Prozentangaben bei der Sturzreduktion – je nach Studiendauer und Metaanalyse, jeweils verglichen mit Plazebo und Kalzium – von 20 bis 46 Prozent. Voraussetzung für diesen Effekt ist eine ausreichend hohe Vitamin-D-Zufuhr von mindestens 700 IU bis 1000 IE Vitamin D pro Tag. Da ältere Menschen ohnehin eine Vitamin-D-Unterversorgung aufweisen, empfiehlt BischoffFerrari aufgrund der bestehenden Evidenz eine generelle Vitamin-D-Supplementierung von mindestens 800 IE Vitamin D pro Tag für alle über 60-jährigen Personen. Da Wirbel- und insbesondere Hüftfrakturen
häufig Anlass zur Einweisung in Altersund Pflegeheime sind, trägt eine effektive Sturz- und Frakturprävention nicht nur zur Kostensenkung im Gesundheitswesen bei, sondern auch zur besseren Lebensqualität und Eigenständigkeit älterer Menschen (s. Seite 22).
Was Nährstoffsupplemente leisten können
Aufgrund der veränderten Körperzusammensetzung und nachlassender körperlicher Aktivität reduziert sich der tägliche Energiebedarf älterer Menschen im Vergleich zu jüngeren Erwachsenen. Geringere Nahrungsmengen reichen zwar in der Regel aus, um den verringerten Energiebedarf zu decken, gleichzeitig muss jedoch eine ausreichende Versorgung mit Eiweiss, essenziellen Fettsäuren sowie Vitaminen, Mineralstoffen und Spurenelementen gewährleistet sein, denn der Bedarf an diesen essenziellen Nährstoffen ist im Alter unverändert hoch, wenn nicht sogar höher als in jüngeren Jahren, so der Geriater Dr. David Thomas vom Saint Louis Hospital Medical Center, USA. Die Nährstoffdichte der zugeführten Lebensmittel bekommt im Alter also mehr Bedeutung. Unter diesen Aspekten reicht bereits eine geringfügige Abnahme der zugeführten Nahrungsmengen, damit es zu einer Verschlechterung des Ernährungszustands kommt. Typischer Indikator für die Anzeichen einer Mangelernährung und gleichzeitig prädiktiv für erhöhte Morbidität und Mortalität im Alter ist die Gewichtsabnahme. Obwohl die Nährstoffversorgung durch eine adäquate Ernährung zu bevorzugen ist, sollte zusätzlich auch an die Gabe protein- , energie- und nährstoffreicher oraler Supplemente gedacht werden, um drohender Mangelernährung und Gewichtsverlust vorzubeugen. In verschiedenen
randomisierten Studien zum Einsatz solcher Supplemente bei hospitalisierten, in Alters- oder Pflegeheimen beziehungsweise im eigenen Heim lebenden älteren Menschen hat sich gezeigt, dass damit das Körpergewicht wieder zunimmt (ca. 2–3%) und sich die Mortalitätsrate untergewichtiger Personen um bis zu 28 Prozent reduzieren lässt. Hinsichtlich der Morbidität und des funktionellen Status hätten die Studien allerdings keine Verbesserungen gezeigt, fraglich sei jedoch, ob die Studiendauer jeweils ausreichend gewesen sei, meinte Thomas, denn mit einer kurzfristigen Einnahme sei es nicht getan. Von Nährstoffsupplementen profitieren insbesondere über 75-jährige Personen, die täglich weniger als 1000 kcal aufnehmen und somit ein erhöhtes Risiko für Mangelernährung besitzen. Empfohlen wird eine rechtzeitige und längerfristige Einnahme, die jeweils zwischen den Mahlzeiten erfolgen sollte, damit der ohnehin geringe Appetit noch für den Verzehr der Hauptmahlzeiten reicht.
Claudia Reinke
Quelle: «Nutrition and Functionality: Key partners in Ageing»; Satellitensymposium des Nestlé Nutrition Institute anlässlich des XIXth IAGG World Congress of Gerontology and Geriatrics, Dienstag, 7. Juli 2009, Paris.
Literatur: 1. Semba RD, Lauretani F, Ferrucci L: Carotenoids as protection against sarcopenia in older adults. Arch Biochem Biophys 2007; 458 (2): 141–145. 2. Beck J, Ferrucci F et al.: Low serum selenium concentrations are associated with poor grip strength among older women living in the community. Biofactors 2007; 29 (1): 37–44. 3. Semba RD, Bartali B et al.: Low serum micronutrient concentrations predict frailty among older women living in the community. J Gerontol Biol Sci Med Sci 2006; 61 (6): 594–599.
Interessenlage: Keine
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