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ERNÄHRUNG UND DERMATOLOGIE
Hautveränderungen bei Essstörungen
PETER ITIN
Eine regelmässige und vielseitige Ernährung ist notwendig für Gesundheit, Lebensenergie und Lebensfreude. Eine gesunde Nahrungsaufnahme ist rhythmisch in den Tagesablauf eingebaut und gehorcht physiologischen und sozialpsychologischen Anforderungen. Bei normalem Essverhalten wird die Nahrungsaufnahme vorwiegend durch den Hunger und den Sättigungsmechanismus gesteuert. Gerät dieser Regelkreis ausser Kontrolle, kann es zu einer qualitativen oder quantitativen Fehlernährung kommen, die ebenso zu Nährstoffdefiziten führt wie Malabsorptionssyndrome. Länger dauernde Ernährungsstörungen wirken sich auf den Gesamtorganismus aus und führen somit auch zu Hautveränderungen [1]. Dies gilt in hohem Masse auch für Essstörungen, die nicht als Ernährungsstörung definiert werden, sondern vielmehr Ausdruck einer vielschichtigen psychosomatischen Störung sind.
Ein gesunder Mensch, der sich normal er- sem Phänomen stehen nicht selten Essverhalten (2). Quantitative Essstörun-
nährt, weist ein Körpergewicht auf, das in Angstzustände, Zwangsgedanken, Min- gen führen einerseits zu Marasmus, also
einem klaren Verhältnis zur Körpergrösse derwertigkeitsgefühle, eine gestörte zu einer Reduktion des Körpergewichts
steht. Als Referenzwert für das Normal- Mutter-Tochter-Beziehung und Suizidali- auf unter 60 Prozent der Norm, anderer-
gewicht gibt die WHO unabhängig von tät. In der Regel braucht es eine geneti- seits zu Adipositas, die durch einen Body-
Geschlecht und Alter einen
Mass-Index (BMI) von ≥ 30
Body-Mass-Index (Körpermasse in kg dividiert durch
«Die Kenntnis der charakteristischen Haut-
(kg/m2) definiert ist. Daneben unterscheiden wir
das Quadrat der Körper- veränderungen bei Essstörungen ermöglicht eine
»grösse in Meter) von 20 bis frühzeitige Diagnose.
25 an (2).
qualitative Essstörungen, die beispielsweise zu Kwaschiorkor durch Hypo-
Unter dem Begriff Essstörungen ver- sche Prädisposition, damit es überhaupt proteinämie führen oder durch besonde-
stehen wir insbesondere die anfallsweise zu Essstörungen kommen kann. Mitver- re Diäten induziert werden, die mit einem
auftretende Esssucht ohne anschliessen- ursacher sind aber auch gesellschaftliche Vitamin- und Spurenelementmangel ein-
des selbstinduziertes Erbrechen (Binge- Einflüsse und/oder Schönheitsideale, die hergehen können.
Eating-Störung), die selteneren Anore- häufig im Zusammenhang mit familiären xia-nervosa-Zustände und die Bulimia Konfliktsituationen zu einer Veränderung Binge-Eating-Syndrom
nervosa. Die genannten Essstörungen des Körperschemas und damit zu einer Beim Binge-Eating-Syndrom besteht ein
sind stets ein Spiegel schwerer psychi- Störung der Körperempfindung führen. zeitweiser Kontrollverlust des Essverhal-
scher Probleme, die sich durch ein verän- Diese komplexe Konstellation resultiert tens, der sich in regelmässigen Fress-
dertes Essverhalten manifestieren. Ess- schliesslich in einem veränderten Essver- attacken manifestiert, ohne Bedürfnis
störungen sind so alt wie die Menschheit halten, das bei Anorexie zu Gewichts- nach selbstinduziertem Erbrechen. Meist
– in den industrialisierten Ländern haben verlust führt und beim Binge-Eating- sind komplexe seelische Konflikte auslö-
sie allerdings in den letzten Jahrzehnten Phänomen in Fettleibigkeit enden wird. send. Das Lebensrisiko in der westlichen
erheblich zugenommen, wobei vor allem Die körperlichen Folgezustände haben Bevölkerung beträgt 3,5 Prozent. Eine sol-
junge Frauen betroffen sind. Hinter die- ihrerseits wieder Rückwirkungen auf das che Essattacke ist definiert dadurch, dass
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Abbildung 1: Anorexie mit Kachexie
Abbildung 2: Anorexie mit generalisierter Hypertrichose
Abbildung 3: Russell-Zeichen bei Bulimie
innerhalb von Minuten bis zu zwei Stunden ungewöhnlich grosse Mengen an Nahrungsmitteln konsumiert werden, die vorwiegend reich an Kohlenhydraten und Fetten sind, jedoch arm an Vitaminen und Mineralstoffen. Aus diesem Grund können langfristig Mangelerscheinungen auftreten. Betroffene sind nicht mehr in der Lage zu kontrollieren, wie viel sie essen oder wann sie mit dem Essen auf-
Tabelle: Hautveränderungen bei Patientinnen mit Anorexia nervosa/Bulimie in absteigender Häufigkeit
• Trockene Haut • Faziale Purpura nach Erbrechen • Cheilitis • Hypertrichose • Diffuses Effluvium/Alopezie • Akrozyanose • Russell-Zeichen • Gingivitis/Aphthen • Nagelveränderungen • Hungerödeme • Trichotillomanie • Artefakte • Parotisschwellung • Aurantiasis (Hyperkarotenämie)
Adaptiert nach (3)
hören müssen – die meisten sind, beziehungsweise werden daher übergewichtig. Das Binge-Eating-Syndrom wurde erstmals 1959 als solches geprägt, und die eigenständige Diagnose ist in den USA erst seit 1994 akzeptiert.
Anorexia nervosa: Die Anorexia nervosa ist eine verbreitete Essstörung bei weiblichen Jugendlichen und jungen Frauen und ist meist Ausdruck erheblicher psychischer Konflikte. Die Betroffenen sind davon überzeugt, dass sie mit einem Körper, der dem heutigen Schönheitsideal entspräche, von ihrer Umgebung mehr Liebe und Anerkennung erwarten könnten. Seelisch sind sie am Verhungern und leben dies körperlich aus. Heute sind bereits 35 Prozent der an Magersucht erkrankten Patienten Männer – deren Zahl nimmt stetig zu. Die Chance, im Laufe des Lebens eine Anorexie zu entwickeln, beträgt für die westliche Gesamtpopulation 0,9 Prozent. Die Anorexia nervosa ist charakterisiert durch bewusste Verweigerung genügender Kalorienaufnahme, was zur Kachexie sowie zu metabolischen und endokrinologischen Veränderungen führt, die lebensbedrohlich sein können. Die Diagnose
wird erst erstaunlich spät gestellt und die Behandlung somit stark verzögert begonnen.
Charakteristische Hautveränderungen bei magersüchtigen Patientinnen
Zur Identifizierung charakteristischer dermatologischer Marker, die eine für die Prognose entscheidende Früherkennung der Anorexia nervosa erlauben würden, untersuchten wir 21 magersüchtige junge Patientinnen (im Alter von 19 bis 24 Jahren) in einem retrospektiven und einem prospektiven Studienanteil (2). 7 von ihnen wiesen eine zusätzliche Bulimie auf. Als Kontrollgruppe dienten 7 gesunde weibliche Jugendliche derselben Altersgruppe. Im Vergleich zur Kontrollgruppe (29%) wiesen 71 Prozent der Anorektikerinnen eine deutliche Xerodermie auf, 76 Prozent eine Cheilitis, bei 62 Prozent fiel eine allgemein verstärkte Körperbehaarung auf. Bei 67 Prozent der Anorexie/Bulimie-Patientinnen liessen sich hyperkeratotische Läsionen über den Fingergrundgelenken beobachten (sog. Russell-Zeichen), die durch selbstinduziertes Erbrechen ausgelöst werden. Weitere auffällige Befunde waren trockenes
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Abbildung 4: Zahnschmelzerosionen bei Bulimie
Abbildung 5: Striae distensae
Abbildung 6: Ulcus cruris bei Adipositas
Kopfhaar und Periungualerytheme (je 48%), kalte Akren (38%), Akrozyanose (33%), Zahnfleischveränderungen (37%) und Nagelveränderungen (29%). Die Studie dokumentiert erstmals, dass ein BMI ≤ 16 (kg/m2) als kritischer Wert betrachtet werden muss, da hier vermehrt dermatologische Veränderungen zu beobachten sind. Die Kenntnis der geschilderten und für die Erkrankung typischen Hautbefunde erleichtern es Dermatologen und Hausärzten, eine vorliegende Anorexia nervosa frühzeitig einer angemessenen Therapie zuzuführen, was die Prognose wiederum signifikant verbessert. Ein Teil der Patientinnen mit Anorexia nervosa weist zudem eine ausgeprägte Hyperkarotinämie auf, bedingt durch die exzessive Aufnahme karotinreicher Gemüsesorten, die, obwohl kalorienarm, dennoch ein Völlegefühl vermitteln können. Darüber hinaus zeigen anorektische Patienten häufig auch eine Trichotillomanie; 30 Prozent dieser Patienten weisen eine Trichophagie auf, 1 Prozent hat eine persistierende Trichophagie, sodass die Gefahr eines sogenannten Trichobezoar mit abdominaler Raumforderung besteht (Rapunzel-Syndrom). Im Rahmen einer ungewöhnlichen Essstörung haben Grimalt und Happle die Trichorhizophagie beschrieben, bei der eine betroffene Patientin lediglich die Haarwurzeln kontinuierlich gegessen hat [3]. In unserer Studie hatten 3 von 21 Patienten eine Trichotillomanie.
Bulimia nervosa: Bei der Bulimia nervosa handelt es sich um eine Essstörung mit attackenweiser, übermässiger Nahrungsaufnahme, mit nachfolgendem selbstinduziertem Erbrechen. 1,5 Prozent der Bevölkerung wird eine Bulimie erleiden. Manchmal ist die Bulimia nervosa kombiniert mit einer Anorexia nervosa. Sichtbare Markerveränderungen bei der Bulimie sind eine ausgeprägte Speicheldrüsenvergrösserung, durch Magensäure induzierte Zahnschmelzdefekte wegen des rezidivierenden Erbrechens, eine anguläre Stomatitis, Gingivitis, Perlèche und das sogenannte Russell-Zeichen. Manchmal fallen auch pharyngeale Würghämatome auf als Phänomen eines wiederholten selbstinduzierten Erbrechens. Patienten mit einer Anorexie weisen häufiger als Kontrollkollektive eine Thrombopenie auf und leiden unter Vitamin-K-Mangel, der ebenfalls mit einer erhöhten Blutungstendenz assoziiert ist.
Adipositas: Während Übergewicht durch einen BMI von > 25 definiert wird, spricht man bei BMI-Werten > 30 von Fettleibigkeit (Adipositas). 30 Prozent der Amerikaner, 32 Prozent der Brasilianer, 7 Prozent der Franzosen und 4,3 bis 17 Prozent der Chinesen leiden an einer Adipositas. Die übermässige Gewichtszunahme führt zu zahlreichen dermatologischen Folgeerscheinungen wie Striae distensae,
Intertrigo, plantare Hyperkeratosen, Pseudoacanthosis nigricans, Skin tags, Hyperhidrose und im Extremfall zu Ulcus cruris und Lipodermatosklerose (Abbildung 5 und 6) (4). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Essstörungen eine Zeiterscheinung darstellen und in der industrialisierten Welt eine besonders hohe Prävalenz aufweisen. Sie sind Ausdruck komplexer psychischer Konfliktsituationen und müssen ernst genommen werden. Es gibt zahlreiche Hautveränderungen, die auf das Vorliegen von Essstörungen hinweisen und eine frühzeitige Diagnose ermöglichen (5).
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Peter Itin Chefarzt Dermatologie Universitätsspital Basel Petersgraben 4, 4031 Basel
Literatur 1. MacDonald A, Forsyth A: Nutritional deficiencies and the skin. Clin Exp Dermatol 2005; 30: 388–390. 2. Hediger C, Rost B, Itin P: Cutaneous manifestations in anorexia nervosa. Schweiz Med Wochenschr 2000; 130: 565–575. 3. Grimalt R, Happle R: Trichorhizophagia. Eur J Dermatol 2004;14: 266–267. 4. Scheinfeld NS: Obesity and dermatology. Clin Dermatol 2004; 22: 303–309. 5. Strumia R: Dermatologic signs in patients with eating disorders. Am J Clin Dermatol 2005; 6: 165–173.
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