Transkript
ERNÄHRUNG UND DERMATOLOGIE
Malnutrition, ein Störfaktor in der Wundheilung
RETO W. KRESSIG
Druckulzera sind mit einem vier- bis sechsfach erhöhten Mortalitätsrisiko verbunden. Aus der Perspektive der Lebensqualität sind dabei für Patienten Aspekte des Schmerzes, der Exsudation, des Körperbildes und der Heilung am wichtigsten. Malnutrition erhöht das Risiko und verzögert die Heilung von Druckulzera, bedingt durch die verminderte Nährstoffversorgung zu Erhalt und Reparatur von Gewebe. Der präventive Effekt oraler proteinreicher Nahrungssupplemente zum Schutz vor der Entstehung von Druckulzera ist erwiesen (Risikoreduktion um 25%). Die Studienlage zum Stellenwert solcher Supplemente in der Behandlung etablierter Dekubitusgeschwüre ist zurzeit noch unklar, zeigt jedoch tendenziell positive Effekte für Supplemente mit spezieller Anreicherung von Proteinen, Arginin und möglicherweise Antioxidanzien.
Malnutrition, definiert durch Gewichtsverlust, Eiweissmangel und spezifische Nährstoffdefizite, ist vor allem im höheren Lebensalter eine häufige, vielfach unterschätzte Krankheitsentität mit wesentlicher Konsequenz für Morbidität und Mortalität (1). Viele geriatrische Patienten leiden gleichzeitig an Malnutrition, einem krankheitsassoziierten Gewichtsverlust sowie Eiweissmangel und spezifischen Nährstoffdefiziten, sodass die oben genannte Differenzierung bei älteren Patienten häufig wenig sinnvoll und praktikabel ist. Der Begriff Malnutrition beschreibt in der Geriatrie die Tatsache einer defizitären Energie- und Nährstoffversorgung im Hinblick auf ungünstige klinische Konsequenzen (2). Malnutrition im Alter ist proportional zu Multimorbidität, Immobilität und Abhängigkeit von unterstützenden Personen. Da erstaunt es nicht, dass selbstständig lebende ältere Menschen relativ wenig betroffen sind (0–10%), hingegen 40 bis 60 Prozent der Senioren in Spitälern und Pflegeheimen an Malnutrition leiden (3). Das Vorliegen einer Malnutrition erhöht das Mortali-
tätsrisiko eines Patienten um das Dreifache (4).
Rolle der Malnutrition in der Ulkusentstehung
Die Malnutrition ist einer von fünf wesentlichen Risikofaktoren für Druckulzera (Tabelle 1), zu denen ausserdem die Immobilität, eine arterielle Hypotension sowie eine problematische Sauerstoffversorgung und ein problematischer Hautzustand gehören. Eine Hauptfolge der Malnutrition ist der Verlust von Muskelmasse (Sarkopenie), der zu Kraftverlust, zunehmender Immobilität und schliesslich Bettlägerigkeit mit konsekutiver Druckausübung auf Weichteilgewebe führt. Die Ulkusgefährdung wird verstärkt durch den parallel einhergehenden Polsterverlust über Knochentuberanzien (Sakralbein, Malleolarknochen etc.). Die Malnutrition führt jedoch auch zu Hautveränderungen (Widerstandsverlust, Risse, Rhagaden) sowie zu Immundefiziten, die lokale und systemische Infektionen begünstigen. Druckulzera erhöhen das Mortalitätsrisiko um das Vier- bis Sechsfache.
Screening- und Assessmentverfahren für Malnutrition Unter der Vielzahl der entwickelten Screening- und Assessmentverfahren stehen heute in der klinischen Anwendung vor allem 2 Verfahren zur Verfügung.
Take-Home-Messages
1. Malnutrition ist häufig bei älteren Menschen und muss mittels einfacher Screeninginstrumente wie MNA oder NRS 2002 aktiv gesucht werden.
2. Tiefer BMI, Gewichtsabnahme, verminderte Essaktivität und reduzierte Kalorienzufuhr sind unabhängige Risikofaktoren für Druckulzera.
3. Orale Ernährungssupplemente mit hohem Proteinanteil vermindern bei malnutritierten Patienten das Dekubitusrisiko um 25%.
4. Eine hohe Proteinzufuhr (angereichert mit Arginin und möglicherweise Antioxidanzien) beschleunigt die Heilung von Druckulzera.
25 3/08
ERNÄHRUNG UND DERMATOLOGIE
1. Mini Nutritional Assessment (MNA) Der MNA-Test (5) wurde spezifisch für ältere Menschen entwickelt und validiert, und besteht aus zwei Teilen: einer Kurzfassung, bestehend aus sechs Fragen, sowie einer ergänzenden Langfassung mit weiteren zwölf Fragen. Die gestellten Fragen umfassen Aspekte der Ernährung, der Selbsteinschätzung, der allgemeinen Lebensumstände sowie anthropometrische Grössen. Jede Antwort erhält einen Punktwert. Die Summe aller Antworten ergibt den Gesamtscore. Der Fragebogen ist in verschiedenen Sprachen im Internet unter www.mna-elderly.com verfügbar. Die Durchführung der Kurzfassung (Tabelle 2) empfiehlt sich vor allem im ambulanten Bereich oder als Vor-Screening in Institutionen. Wird ein Score von 12 unterschritten, schliesst sich die Langfassung an. Deren Ergebnis unterscheidet
Tabelle 1: Dekubitus: Risikofaktoren
Immobilität • komatöser Zustand • zerebrovaskulärer Insult • neurologische Erkrankung mit Paralyse • Operationen, Prämedikation, Anästhesie • akute schwere Depression • Sedativa und Neuroleptika
Arterielle Hypotension • Schock: hypovolämisch, septisch, kardiogen • Dehydratation
Problematische Sauerstoffversorgung • Anämie, Hb < 8 g/dl • Fieber > 38 °C, Hypermetabolismus • Infektionen
Malnutrition • vermindertes Körpergewicht • Kachexie • Lymphopenie
Problematischer Hautzustand • trockene und fissurierte Sakralhaut • feuchte schuppige Haut • chronisches Erythem der Sakralhaut (Druck-
stellen) • senile Hautatrophie (Pergamenthaut) • steroidinduzierte Hautatrophie • Mikroangiopathie bei diabetischen Patienten • Hautischämie bei peripherer arterieller Ver-
schlusskrankheit
Personen mit normalem Ernährungszustand (≥ 24 Punke) von solchen mit Gefährdung für Malnutrition (17–23,5 Punkte) und solchen mit manifester Malnutrition (< 17 Punkte). 2. Nutritional Risk Screening 2002 (NRS 2002) Das von Jens Kondrup et al. (6) entwickelte Verfahren basiert auf der Annahme, dass eine Ernährungsintervention klinische Endpunkte wie Komplikationsrate und Mortalität positiv beeinflussen kann. Es zielt daher in erster Linie auf Spitalpatienten, die von ihr nachweisbar profitieren. Der NRS-2002-Test besteht aus einem kurzen Eingangsteil mit lediglich vier Fragen zu BMI, Gewichtsverlust, Nahrungsmenge und Stress und dem nachfolgenden Screeningverfahren. Wird eine der vier Fragen des Eingangteils mit Ja beantwortet, erfolgt die Anwendung des Screenings, das aus zwei Hauptkomponenten besteht. Zum einen wird die Mangelernährung mittels BMI, Gewichtsverlust oder Umfang der Nahrungsaufnahme erfasst, zum anderen die Schwere der derzeitigen Erkrankung. Ein zusätzlicher Punkt wird bei einem Lebensalter über 70 Jahre vergeben. Da für die Ermittlung des NRS-2002-Scores nur drei Einzelwerte addiert werden, ist er schnell durchführbar. Der ins Deutsche übersetzte NRS 2002 findet sich auf www.dgem.de (2). Für Hausärzte, die noch Hausbesuche machen, mag auch die Studie von der Gruppe um Charles-Henri Rappin in Genf interessant sein. Anhand des Kühlschrankinhaltes («leer» versus «voll») konnte hier das Hospitalisationsrisiko innerhalb der nächsten 100 Tage bestimmt werden (7). Ernährung: Was ist anders im Alter? Bedingt durch altersbedingte Veränderungen der Körperzusammensetzung mit verminderter körperlicher Aktivität und reduziertem Energieverbrauch ist der minimale Energiebedarf im Alter um rund 25 Prozent vermindert und liegt bei etwa 20 kcal/kg Körpergewicht (8). Der Nährstoffbedarf bleibt dagegen gleich oder ist teilweise sogar erhöht (erhöhter Bedarf an Proteinen, Kalzium und den Vitaminen D, B6, B12 und C), sodass die Mahlzeiten eine höhere Nährstoffdichte enthalten sollten. Ein Hauptrisikofaktor für eine Mangelernährung im Alter ist der fehlende Appetit. Appetitlosigkeit führt bei vielen älteren Menschen dazu, dass sie weder die notwendigen Kalorien zuführen noch den erhöhten Nährstoffbedarf abdecken. Wohl ist fehlender Appetit im Alter teilweise mit altersassoziiert erhöhten Sättigungshormonen und einem verminderten Durstempfinden zu erklären. Allerdings wirken sich auch die im Alter häufigen sensoriellen Defizite in Geschmacks- und Geruchssinn appetitmindernd aus. Oft wird der fehlende Appetit sowie die daraus entstehende Malnutrition aber auch durch Medikamente (Digoxin, Sedativa, Antirheumatika, Diuretika) verstärkt, die allenfalls modifiziert oder abgesetzt werden könnten. Andere appetitmindernde psychologische Faktoren wie Depression, Isolation und Vereinsamung können mit Essgruppen in Kombination mit sozialen Aktivitäten angegangen werden. Ernährungsbasierte Beeinflussung des Dekubitusrisikos Als präventive Ernährungsmassnahmen hinsichtlich des Dekubitusrisikos gelten die Korrektur eines Protein- oder Kalorienmangels per os mit Verbesserung der Qualität und Energiedichte der eingenommenen Nahrung sowie einer Steigerung der Flüssigkeitsaufnahme (Tabelle 3). Falls die Verbesserung der normalen oralen Nahrungsaufnahme nicht möglich ist, sollten protein- und kalorienreiche Supplemente erwogen werden. Mehrere Studien haben den Effekt von Nahrungssupplementen auf die Entwicklung von Druckulzera bei Risikopatienten untersucht. Eine neuere Metaanalyse (9) zeigt, dass mittels oral verabreichten Nahrungssupplementen (250–500 kcal pro Tag während 2 bis 26 Wochen) die Inzidenz von Druckulzera in Risikopatienten um rund 25 Prozent gesenkt werden kann. Die dazu führenden direkten Ursachen sind weitgehend unbekannt. Als mögliche Mechanismen werden die durch Supplemente generell erhöhte Kalorienzufuhr, eine bessere Polsterung von Knochentuberantien, die Steigerung des 3/08 26 ERNÄHRUNG UND DERMATOLOGIE Hautwiderstands und mehr körperliche (Grad 3 u. 4) müssen der erhöhte Grund- Aktivität vermutet. Eine andere Hypothe- energieumsatz (z.B. Energiezufuhr bis 50 se ist, dass die durch die Nahrungssupple- kcal/ kg KG) sowie der erhöhte Flüssigkeits- mente bedingte zusätzliche Flüssigkeits- verlust berücksichtigt werden. Wenige zufuhr einem Dehydratationszustand kleine Studien deuten darauf hin, dass entgegenwirkt, der per se einen prädis- krankheitsspezifische orale Ernährungs- ponierenden Faktor für Druckulzera dar- supplemente (im Wesentlichen mit hoher stellt. Proteinkonzentration) einen Trend zu be- Ernährungsbasierte Beeinflussung der Dekubitusheilung schleunigter Heilung von Druckulzera zeigen. Randomisierte kontrollierte Studien fehlen allerdings. Inwieweit die zusätzliche Wichtig ist eine vorgängige Lösung von Gabe von Vitaminen und Spurenelemen- Problemen eingeschränkter Nahrungs- ten die klinische Heilung von Druckulzera aufnahme durch Wundgeruch, veränder- positiv zu beeinflussen vermag, ist auf- tes Körperbild, Schmerzen und Verlust an grund der Literatur unklar. Arginin scheint Selbstachtung. Bei schwerem Dekubitus über die Produktion des vasoaktiven Stick- oxids (NO) einen positiven Tabelle 2: MNA-Kurzfassung (www.mna-elderly.com) Einfluss auf die Hautdurchblutung und damit auf die A Hat der Patient einen verminderten Appetit? Hat er während der letzten 3 Monate wegen Appetitverlust, Verdauungsproblemen, Schwierigkeiten beim Kauen oder Schlucken weniger gegessen (Anorexie)? 0 = schwere Anorexie 1 = leichte Anorexie 2 = keine Anorexie ❑ Wundheilung zu haben. Die hilfreiche Wirkung von Antioxidanzien ist theoretisch denkbar, studienmässig aber nicht bewiesen. Korrespondenzadresse: B Gewichtsverlust in den letzten 3 Monaten 0 = Gewichtsverlust > 3 kg 1 = weiss es nicht 2 = Gewichtsverlust zwischen 1 und 3 kg 3 = kein Gewichtsverlust
❑
Prof. Dr. med. Reto W. Kressig Chefarzt Akutgeriatrie Universitätsspital Basel Petersgraben 4 4031 Basel E-Mail: rkressig@uhbs.ch
C Mobilität/Beweglichkeit 0 = vom Bett zum Stuhl
1 = in der Wohnung mobil 2 = verlässt die Wohnung
❑
Tabelle 3: Tägliche minimale Zufuhr zur Dekubitusprävention
• 30–25 kcal/kg/Körpergewicht (KG) • 1–1,5 g Protein/kg KG • 1 ml Flüssigkeit/kcal
Beispiel KG = 70 kg: 2100–2450 kcal 70–105 g Protein 2,1–2,5 l Flüssigkeit
Literatur: 1. De Groot CPGM, van Staveren WA. Undernutrition in the Euopean SENECA studies. Clin Geriatr Med 2002; 18: 699–708. 2. Bauer JM, Volkert D, Wirth R et al. Diagnostik der Mangelernährung des älteren Menschen. Dtsch Med Wochenschr 2006; 131: 223–7. 3. Nordenram G, Ljunggren G, Cederholm T. Nutritional status and chewing capacity in nursing home residents. Aging 2001; 13: 370–7. 4. Covinsky KE, Martin GE, Beyth RJ et al. The relationship between clinical assessments of nutritional status and adverse outcomes in older hospitalized medical patients. J Am Geriatr Soc 1999; 47: 532–538. 5. Guigoz Y, Vellas B, Garry PJ. Assessing the nutritional status of the elderly: The Mini Nutritional Assessment as part of the geriatric evaluation. Nutr Rev 1996; 54: S59–S65. 6. Kondrup J, Rasmussen HH, Hamberg O et al. Nutritional risk screening (NRS 2002): a new method based on an analysis of controlled clinical trials. Clin Nutr 2003; 22: 321–336. 7. Boumendjel N, Herrmann F, Girod V, Sieber C, Rapin CH. Refrigerator content and hospital admission in old people. Lancet 2000; 356: 563. 8. Eli M, Ritz P, Stubbs RJ. Total energy expenditure in the elderly. Eur J Clin Nutr 2000; 54: S92–103. 9. Stratton RJ, Ek AC, Engfer M, Moore Z, Rigby P, Wolfe R, Elia M. Enteral nutritional support of pressure ulcers: A systemic review and meta-analysis. Age Res Rev 2005; 4: 422–50.
D Akute Krankheit oder psychischer Stress während der letzten 3 Monate? 0 = ja 2 = nein
E Psychische Situation 0 = schwere Demenz oder Depression 1 = leichte Demenz oder Depression 2 = keine Probleme
❑
F Körpermassenindex (Body-Mass-Index, BMI)
Körpergewicht: (Körpergrösse)2, in kg/m2
0 = BMI < 19 1 = 19 ≤ BMI < 21 2 = 21 ≤ BMI < 23 3 = BMI ≥ 23 ❑ Ergebnis der Voranamnese (max. 14 Punkte) ❑ ❑ 12 Punkte oder mehr: normaler Ernährungszustand 11 Punkte oder weniger: Gefahr der Mangelernährung 27 3/08