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Übergewicht und Essstörungen
Kognitive Verhaltenstherapie bei Essstörungen
Der Ausgangspunkt des therapeutischen Vorgehens bei Essstörungen ist in der Regel das Essverhalten. Zentrale Ziele sind der Abbau des problematischen und der Aufbau eines normalen Essverhaltens. Im Verlauf der Therapie verschiebt sich der Fokus auf andere Problembereiche. Es stehen verschiedene Therapiebausteine zur Verfügung, die inzwischen als Standardelemente in der Behandlung von Essstörungen gelten. Diese können also – abgesehen von geringfügigen Anpassungen – für die Behandlung von Anorexia nervosa, Bulimia nervosa und Binge Eating eingesetzt werden. Auch bei der Behandlung von Adipositas, mit oder ohne Essstörung, kommt ein Grossteil dieser Behandlungsmodule zur Anwendung. Bei den im Folgenden beschriebenen Therapiebausteinen handelt es sich vorwiegend um kognitiv-verhaltenstherapeutische Interventionen. Diese gehören im Bereich Essstörungen und Adipositas zu den bestuntersuchten Ansätzen und weisen bei erwachsenen Patientinnen* derzeit die günstigsten Behandlungsergebnisse auf.
Michèle Blank Gebre
Therapeutisches Vorgehen
Diagnostik und Indikation Vor Beginn einer Therapie steht
eine umfassende Eingangsdiagnostik. Diese dient der Abklärung der Diagnose, komorbider Störungen sowie der Therapie- und Veränderungsmotivation, um letztlich zu entscheiden, ob eine Indikation für eine Therapie überhaupt gegeben ist.
Bei anorektischen Patientinnen ist zu beachten, dass sie einer Behandlung oft sehr ambivalent gegenüberstehen. Dies hängt unter anderem mit starken Ängsten vor einer Gewichtszunahme und vor Kontrollverlust zusammen, wobei es wichtig ist, diese bereits in den ersten Gesprächen zu thematisieren (7). Aber auch bei anderen Essstörungen sowie bei Adipositas lohnt sich eine Motivationsanalyse. Häufig ist eine längere Motivationsphase nötig, die eine eingehende Exploration und Bearbeitung der Ambivalenz umfasst. Hierbei empfiehlt sich eine motivierende Gesprächsführung, wie sie von Miller und Rollnick, 2004 (11), vorgeschlagen wurde.
Erarbeitung eines individuellen Erklärungsmodells
Ein wichtiges Element der kognitivverhaltenstherpeutischen Behandlung ist das Erarbeiten eines individuellen Störungsmodells. Hierbei werden prädisponierende, auslösende und aufrechterhaltende Bedingungen unterschieden (Tabelle 1). Durch das Herausarbeiten von Faktoren, die zur Essstörung beigetragen haben, können Veränderungsmöglichkeiten von der Patientin leichter erkannt und nachvollzogen werden. Auch wirkt ein schlüssiges Erklärungsmodell motivierend und dient als Grundlage für die Planung des individuellen Therapievorgehens (7, 9).
* Da es sich bei der Mehrzahl der Betroffenen um Patientinnen handelt, habe ich die weibliche Form gewählt. Selbstverständlich sind damit auch männliche Patienten gemeint.
Normalisierung des Essverhaltens Der Ausgangspunkt des therapeuti-
schen Vorgehens ist in der Regel das problematische Essverhalten. Die Patientinnen ernähren sich oft restriktiv, einseitig und lassen sich nicht vom Appetit, sondern von diätetischen Gesichtspunkten leiten. Dies stört die Wahrnehmung von Hunger und Sättigung, intensiviert die gedankliche Überbeschäftigung mit dem Essen und trägt häufig zum Auftreten von Heisshungerattacken bei. Der Abbau dieses restriktiven Essverhaltens und der Aufbau eines «gesunden» oder «normalen» Essverhaltens sind deshalb zentrale Ziele in der Behandlung von Essstörungen (7).
Zum Einstieg in das Thema «Normalisierung des gestörten Essverhaltens» werden unter anderem Informationen zum Einfluss von Diäten auf das Körpergewicht und die Folgen von restriktivem Essverhalten dargestellt beziehungsweise zusammen erarbeitet (9).
Für die konkrete Veränderung des Essverhaltens stellt das Selbstbeobachtungsprotokoll (Tabelle 2) ein zentrales Hilfsmittel dar, anhand dessen die Veränderungen besprochen und neue Ziele gesetzt werden.
Ein wichtiger Schritt in Richtung Normalisierung des Essverhaltens erfolgt durch die schrittweise Einführung von regelmässigen und ausgewogenen Mahlzeiten. Angestrebt wird die tägliche Einnahme von drei Hauptund zwei Zwischenmahlzeiten, unabhängig von vorangegangenen EssBrech-Anfällen. Bisher gemiedene Nahrungsmittel werden schrittweise wieder in die alltägliche Ernährung integriert. Hierzu gehört auch die Wiedereinführung von warmen Mahlzeiten, die häufig ganz vermieden werden.
Im Weiteren spielt auch die Menge der aufgenommenen Nahrung eine wichtige Rolle. Vom exakten Kalorienzählen wird jedoch meist abgeraten, da dies die übermässige Beschäftigung mit dem Essen eher intensiviert. In einigen Fällen kann es hilfreich sein, einen Essplan für eine bestimmte Zeitspanne im Voraus zusammenzustellen. Das meist bei untergewichtigen Patientinnen typische aufwendige Abwägen
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und Verhandeln soll damit vermindert werden. Bei diesen Patientinnen ist bereits die kleinste Veränderung beim Essverhalten mit starken Ängsten verbunden. Die hier beschriebenen Veränderungen können deshalb nur in sehr kleinen Schritten angegangen werden (7, 9).
Bei der Anorexia nervosa stehen am Beginn der Therapie meist Massnahmen zur Gewichtssteigerung. Diese werden häufig im stationären Setting durchgeführt, können aber auch an einen ambulanten Rahmen angepasst werden. Zu Beginn der Therapie werden oft Verträge mit den Patientinnen geschlossen, die das Vorgehen bei der Gewichtszunahme festlegen. Bei der Erreichung einer Gewichtssteigerung
Tabelle 1:
Erklärungsmodell Beispiele möglicher Faktoren
Prädisponierende Bedingungen Familiäre Faktoren: • Interaktionsmuster
Individuelle Faktoren: • Trennungserlebnisse • Niedriger Selbstwert • Perfektionismus • Dysfunktionale Grundannahmen
Soziokulturelle Faktoren: • Schlankheitsideal • Geschlechtsrollenstereotyp • Familie und Peers
Biologische Faktoren: • Genetische Disposition für
Übergewicht
Auslöser Kritische Lebensereignisse: • Berufseintritt • Auszug von zu Hause • Trennung von einem Partner • Scheidung der Eltern
Weitere Belastungen: • Starke Belastung im Beruf • Stress • Gewichtszunahme
Aufrechterhaltende Bedingungen • Restriktives Essverhalten • Stress • Dysfunktionales Bewältigungs-
verhalten • Dysfunktionale Kognitionen • Lernerfahrungen
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sind operante Massnahmen zentral, wobei eine erwartungsgemässe Gewichtszunahme (z.B. wöchentlich 500–700 g) mit angenehmen Konsequenzen verknüpft wird. Im stationären Setting bedeutet dies meist eine Gewährung vorher eingeschränkter Freiheiten (7).
Umgang mit Heisshungeranfällen und Erbrechen
Die beschriebenen Massnahmen zur Normalisierung des Essverhaltens tragen in der Regel bereits zur Verminderung von Heisshungeranfällen bei. Die regelmässigen und ausreichenden Mahlzeiten verhindern die körperlichen Mangelzustände, die die Heisshungeranfälle bisher begünstigt haben. Daneben gibt es einige spezifische Interventionen zur Reduktion von Heisshungeranfällen:
Zu Beginn dieser Massnahmen sollte eine eingehende Analyse der Auslösesituationen stehen. Das bereits erwähnte Mahlzeitenprotokoll, das neben nahrungsbezogenen Angaben auch Angaben zu Situation, Gefühlen und Gedanken enthält, bietet wertvolle Hinweise zu möglichen Auslösern. Diese Analyse dient anschliessend als Grundlage zur Ableitung geeigneter Behandlungsstrategien.
Zu den spezifischen Strategien zur Reduktion von Heisshungeranfällen und Erbrechen gehören auch die sogenannten Stimuluskontrolltechniken: Hierbei werden Reizbedingungen, unter denen Überessen, Heisshungeranfälle und Erbrechen auftreten, systematisch beseitigt oder eingeschränkt. Typische Beispiele im Zusammenhang mit Überessen sind die Beschränkung des Ortes, wo gegessen wird, der Nahrungsvorräte zu Hause oder beim Einkauf. Diese Strategien sind eher vorübergehende Hilfen, um wieder mehr Kontrolle über das Essverhalten zu erreichen (Tabelle 3).
Eine weitere Technik ist eher ressourcenorientiert und fragt danach, wie es der Patientin gelungen ist, in bestimmten Situationen Heisshungerattacken zu verhindern. Es handelt sich auch da um mehrheitlich kurzfristige Strategien, wie beispielsweise Ablenkung oder der Versuch des Aufschiebens. Auch die konkrete Planung von Aktivitäten oder Verabredungen kann hilfreich sein.
Eine eher langfristige Strategie ist der Aufbau von Alternativverhaltensweisen zum Umgang mit problematischem Essverhalten. Die Essstörung
Tabelle 2: Beispiel eines Selbstbeobachtungsprotokolls Esstagebuch
Wann? Wie lange?
Wo? Mit wem?
Gefühle, Gedanken, Verhalten vor dem Essen
Was? Wie viel?
Gefühle, Gedanken, Verhalten nach dem Essen
Kompensation/ Bemerkungen
nimmt im Leben der Patientinnen häufig sehr viel Platz ein, und früher geschätzte und «genussvolle» Aktivitäten geraten in Vergessenheit. In der Therapie werden solche angenehme Aktivitäten reaktiviert beziehungsweise neu aufgebaut. Diese positiven Alternativverhaltensweisen können dann von den Patientinnen in kritischen Situationen gezielt eingesetzt werden.
Beim Umgang mit problematischem Essverhalten ist es wichtig, dass die Patientinnen sich immer wieder ihrer Verantwortung für und Kontrolle über das Problemverhalten bewusst werden. Die Patientinnen fühlen sich der Symptomatik oft ausgeliefert, nehmen ihre Kontrollmöglichkeiten nur noch ungenügend wahr und berichten, nichts dagegen tun zu können. Solche Opferhaltungen werden von Therapeuten hinterfragt und korrigiert, gleichzeitig werden Schuldzuweisungen oder Vorwürfe vermieden. Durch gezieltes Fragen können Kontrollmöglichkeiten aufgezeigt werden (7).
Manchmal werden aus der Analyse der Auslösebedingungen bestimmte Grundkonflikte und weitere bedeutende Probleme sichtbar (z.B. Partnerschaftsprobleme, Probleme der Abgrenzung von Eltern, berufliche Probleme). Deshalb sind die oben genannten Strategien möglicherweise nur kurzfristig oder ungenügend wirksam. Die genannten Techniken können aber dazu beitragen, das Gefühl von Ausgeliefertsein und Kontrollverlust zu vermindern und die Motivation zu steigern (7).
Bearbeitung der zugrunde liegenden Problembereiche
Neben der Behandlung des problematischen Essverhaltens ist die Bearbeitung der Problembereiche und Konflikte, die dem Essverhalten zugrunde liegen, ein zweiter und ebenso bedeutender Schwerpunkt in der Therapie von Essstörungen. Welche Problembereiche für die Patientin individuell relevant sind, lässt sich unter anderem aus dem zu Beginn erarbeite-
ten Entstehungsmodell ableiten. Weitere Hinweise können aus der Biografie, den familiären Konstellationen und Umgangsformen oder aus den Selbstbeobachtungsprotokollen (z.B. Stress bei der Arbeit oder Partnerschaftskonflikte führen regelmässig zu Heisshungeranfällen) gewonnen werden. Schliesslich bietet auch das Verhalten der Patientin in der Therapie und in der Gruppe Informationen zu möglichen zugrunde liegenden Themen (7).
Auch wenn die Themenbereiche individuell sehr unterschiedlich sein können, so kommen einige gehäuft vor. Hierzu gehören unter anderem geringes Selbstwertgefühl, starkes Kontroll- und Autonomiebedürfnis, Perfektionismus und starke Leistungsorientierung oder Probleme in sozialen Beziehungen (7, 9).
Nicht selten werden bei bulimischen Patientinnen die individuellen Problembereiche sichtbar, nachdem es ihnen gelungen ist, die störungsspezifische Symptomatik zu vermindern. Mit dem Wegfall der Ess-Brech-Anfälle verlieren die Patientinnen ein Mittel zur Spannungsregulation, und es besteht möglicherweise die Gefahr, dass die Patientinnen depressiv werden. Deshalb ist es wichtig, neue Bewältigungsstrategien zu erarbeiten. (7)
Die Bearbeitung kann je nach Konflikt oder Problembereich sehr unterschiedlich aussehen. So können verzerrte Gedanken zu Essen, Körper und Gewicht sowie allgemeine dysfunktionale Grundüberzeugungen durch kognitive Techniken bearbeitet werden. Hierbei werden Grundannahmen und die damit zusammenhängenden automatischen Gedanken identifiziert, überprüft und durch rationalere Kognitionen ersetzt. Kognitive Techniken beschränken sich aber nicht auf bestimmte Therapiephasen, sondern kommen während des gesamten Therapieverlaufs zur Anwendung.
Defizite im sozialen Bereich können im Rahmen eines Trainings sozialer
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Kompetenzen angegangen werden. Bei Schwierigkeiten im Bereich der Emotionsregulation hat sich beispielsweise die Erarbeitung entsprechender Strategien als hilfreich erwiesen. Sinnvoll kann auch eine Stärkung der Problemlösungsfähigkeit der Patientinnen sein. Bei konkreten Konflikten im Umfeld empfiehlt sich der Einbezug von Partnern oder Familienmitgliedern. In Anlehnung an das Modell von Fairburn, 2003 (6), das mangelnden Selbstwert als zentralen Aspekt bei der Entwicklung und Aufrechterhaltung von Essstörungen definiert, empfiehlt es sich, auch ressourcenorientierte, selbstwertfördernde Interventionen einfliessen zu lassen (7, 9).
Interventionen zur Veränderung des Körperbildes, der Körperwahrnehmung und -akzeptanz
Insbesondere anorektische und bulimische Patientinnen zeigen eine starke Unzufriedenheit mit ihrem eigenen Körper, die mit einer verzerrten Wahrnehmung ihres Erscheinungsbildes einhergeht. Diese negative Einstellung ihrem Körper gegenüber sowie die Abhängigkeit des Selbstwertgefühls von Figur und Gewicht spielen eine bedeutende Rolle in der Entstehung und Aufrechterhaltung von Essstörungen. Interventionen zur Veränderung des Körperbildes sollten daher nicht vernachlässigt werden (9).
Traditionelle Ansätze der Behandlung einer Körperschemastörung umfassen zum Beispiel Spiegel- und Videokonfrontationen (8). Das Ziel von Spiegelkonfrontationen ist unter anderem der Abbau von Angst- und Ekelgefühlen in Bezug auf den eigenen Körper sowie eine Aufmerksamkeitsumlenkung auf positive körperliche Aspekte (8, 9).
Bei anorektischen Patientinnen hat sich auch die Videokonfrontation als hilfreiche Intervention zur Veränderung der Körperschemastörung erwiesen. Hierbei filmt die Therapeutin mit einer Videokamera verschiedene Körperpartien der Patientin. Bei der anschliessenden Betrachtung erkennt eine Mehrzahl der anorektischen Patientinnen ihren abgemagerten Körper und ist nicht selten sogar darüber erstaunt. Diese Erkenntnis kann zur Gewichtszunahme und damit zur Weiterführung der Therapie motivieren (7).
Neben diesen Konfrontationstechniken werden auch affektiv-erlebnisorientierte Ansätze zur Behandlung der Körperschemastörung eingesetzt.
Diese umfassen unterschiedliche Aspekte wie Entspannung, Imaginationsverfahren und Körperwahrnehmungsübungen (9).
Stabilisierung und Rückfallprophylaxe In der letzten Phase der Therapie
geht es um die Stabilisierung der erarbeiteten Verhaltensänderungen, die eine Sensibilisierung für Rückfallsituationen sowie deren Bewältigung umfasst. Zur Herausarbeitung der Risikosituationen ist erneut das Selbstbeobachtungsprotokoll hilfreich. Die Auslöser für problematisches Verhalten haben sich im Vergleich zum Therapiebeginn oft verändert. Aufgrund der regelmässigen Mahlzeiten ist zum Beispiel Heisshunger als Auslöser in den Hintergrund getreten. Stattdessen spielen noch vorhandene Problembereiche eine wichtigere Rolle. Für die individuell erarbeiteten Risikosituationen werden mögliche hilfreiche Strategien zusammengestellt (7).
In dieser letzten Therapiephase sollte eine Bilanzierung des Therapieverlaufs erfolgen. Hierbei werden individuelle Erfolge herausgearbeitet, um so das Gefühl der Selbstwirksamkeit der Patientinnen zu stärken (9).
Therapieforschung
Bulimie Die kognitive Verhaltenstherapie hat
sich für die Behandlung der Bulimia nervosa am effektivsten erwiesen. Kognitive Verhaltenstherapie reduziert Essanfälle und Erbrechen relativ rasch in 30 bis 50 Prozent der Fälle, wobei die Normalisierung des Essverhaltens eine bedeutende Rolle spielt. Von den restlichen Patientinnen weist ein Grossteil eine Verbesserung der Symptomatik auf, einige jedoch brechen die Behandlung ab oder zeigen keine Effekte. Neben der Verminderung der bulimischen Symptomatik liessen sich auch Verbesserungen des Selbstwertgefühls und des sozialen Funktionierens nachweisen (13).
Gewisse empirische Unterstützung erhält auch die interpersonale Psychotherapie. (13). Das ambulante Setting erwies sich für die grosse Mehrheit der Patientinnen als ausreichend. Im Weiteren liegen Hinweise vor, dass eine BorderlinePersönlichkeitsstörung, Impulsivität, fortwährender Substanzmissbrauch oder Erfahrungen mit Übergewicht mit einem schlechteren Behandlungsergebnis einhergehen (12, 13).
Anorexia nervosa Zur Anorexia nervosa liegen nur we-
nig aussagekräftige Therapiestudien vor (2, 3). Es ist zu vermuten, dass dies mit bestimmten Eigenschaften des Störungsbildes zusammenhängt, wie etwa niedrige Prävalenzrate, häufige medizinische Komplikationen, ausgeprägte Ambivalenz gegenüber einer Verbesserung der Symptomatik sowie lange Behandlungsdauer (13). Diese ungenügende Datenlage erschwert Aussagen über die Wirksamkeit der Behandlung. Es gibt Hinweise, dass kognitive Verhaltenstherapie das Rückfallrisiko von Erwachsenen nach Gewichtserreichung vermindert. Bei Untergewicht hingegen ist die Wirksamkeit dieses Therapieansatzes noch unklar (2). Ernährungsberatung und Medikation ohne begleitende Psychotherapie scheinen jedoch für anorektische Patientinnen kontraindiziert zu sein (13).
Bei adoleszenten Patientinnen hat sich ein bestimmter Ansatz der Familientherapie, das Maudsley-Modell (4, 10), als effektiv erwiesen. Erwachsene Patientinnen mit längerer Krankheitsdauer hingegen konnten davon nur wenig profitieren (2, 13). Auch wenn im Alltag häufig praktiziert, so gibt es keine überzeugenden empirischen Grundlagen, die für eine Hospitalisation von anorektischen Patientinnen sprechen würden. Viele Kliniker ziehen eine Hospitalisation nur dann in Betracht, wenn ein medizinisches oder suizidales Risiko besteht (13).
Nicht näher bezeichnete Essstörung/ Binge-Eating-Störung
Die «nicht näher bezeichnete Essstörung» ist die häufigste Form der Essstörung in der Praxis (5). Trotz der Häufigkeit und der Schwere von nicht näher bezeichneten Essstörungen liegen mit Ausnahme der Binge-Eating-Störung keine kontrollierten Therapiestudien vor. Vorhandene Behandlungskonzepte scheinen aber auf diese Störungskategorie übertragbar zu sein (13).
In Bezug auf die Binge-Eating-Störung ist die manualbasierte kognitive Verhaltenstherapie der bestuntersuchte Ansatz mit den derzeit günstigsten Behandlungsresultaten (13). Die Studienergebnisse weisen darauf hin, dass kognitive Verhaltenstherapie, sowohl im Einzel- als auch im Gruppensetting, mit einer Verminderung der Essanfälle, der Hungergefühle und weniger Enthemmung einhergeht (1).
Empirische Unterstützung finden auch die interpersonale Psychothera-
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Tabelle 3:
Stimuluskontrolle: Umgang mit Überessen
• Essensplanung • Einkaufsplanung
– Einkaufsliste – nicht einkaufen, wenn man hung-
rig ist – beschränkte Geldmenge mitneh-
men • Essarrangement
– immer am selben Ort essen (nur am Tisch)
– eine Portion auf dem Teller anrichten
– keine weiteren Nahrungsmittel auf dem Esstisch
– Ablenkung ausschalten (kein TV, PC, Zeitung)
• Aufbewahren von Lebensmitteln: – fett- und kalorienreiche Lebensmittel ausser Sicht- und Reichweite oder gar nicht im Vorrat – gesunde, kalorienarme Snacks in Reichweite
• Planung sozialer Esssituationen
pie und die dialektisch behaviorale Therapie sowie – in etwas geringerem Masse – behaviorale Gewichtsreduktionsprogramme (13). Bei keinem der genannten Interventionsansätze ist es jedoch gelungen, sowohl eine Reduktion der Binge-Eating-Symptomatik als auch eine dauerhafte Gewichtsabnahme nachzuweisen (1).
Ausblick Obwohl in den vergangenen Jahren
bedeutende Fortschritte erzielt wurden, bleibt eine beträchtliche Zahl von Patientinnen, die von diesen Therapie-
angeboten bisher nur wenig profitie-
ren konnten. Künftige Forschungs-
bemühungen sollten sich daher einge-
hender mit Patientinnen befassen, die
einen chronischen, behandlungsresis-
tenten Verlauf zeigen. Auch sollten bis-
her entwickelte Interventionen erwei-
tert und auf ein breiteres Spektrum
von Essstörungen («nicht näher be-
zeichnete Essstörungen») angepasst
werden. Eine der vielversprechendsten
Entwicklungen in diesem Bereich ist
eine manualbasierte Behandlung für
das gesamte Essstörungsspektrum von
Fairburn und Mitarbeitern (6) Dabei
wurde das kognitiv-behaviorale Modell
der Aufrechterhaltung (oder Selbster-
haltung) der Bulimia nervosa auf alle
Essstörungen ausgeweitet. Die Arbeits-
gruppe spricht von der «transdiagnos-
tischen» Theorie und Behandlung
aller Essstörungen. Die konkrete Dia-
gnose nach DSM-IV tritt in den Hinter-
grund, da angenommen wird, dass
allen Essstörungen gemeinsame selbst-
erhaltende Mechanismen zugrunde
liegen. Ein zentraler Bestandteil der
Behandlung ist die Identifikation des
spezifischen Patientinnenprofils, um
das therapeutische Vorgehen entspre-
chend anzupassen. Diese transdiagnos-
tische Therapie wurde in der Arbeit
mit Patientinnen entwickelt, die mit
der bisherigen Behandlung keinen Er-
folg erzielten. Erste Berichte weisen
auf eine gesteigerte Wirksamkeit der
Behandlung hin (Fairburn 2004, 2006,
zitiert nach 13).
I
Korrespondenzadresse: lic. phil. Michèle Blank Gebre Poliklinik für Endokrinologie, Diabetologie und Klinische Ernährung, Interdepartementales Adipositasprogramm, Inselspital, Universitätsspital Bern, 3010 Bern E-Mail: michele.blank@insel.ch
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