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Ernährung und Alter
Mangelernährung und ihre Folgen: die Bedeutung der klinischen Ernährung
Die Ernährung ist unabdingbar für das Leben. «Lebensmittel» dienen der Zufuhr von Energie, Baustoffen sowie essenziellen Nahrungsbestandteilen, die der Körper nicht selbst synthetisieren kann. Die Ernährung hat auch medizinisch-therapeutische Bedeutung, was schon Hippokrates (460–377 v.Chr.) wusste: «Ernährung ist Medizin, also lasst Ernährung unsere Medizin sein.» Damit ist auch der Bezug zum modernen Begriff der «Pharmakonutrition» gelegt. Darunter versteht man den therapeutischen Einsatz von höher dosierten Ernährungsbestandteilen, die neben der ernährungsphysiologischen Bedeutung auch dosisabhängige, pharmakologisch nachweisbare Effekte vermitteln.
Stefan Mühlebach
(Abbildung 1), die auch bei Erkrankungen von grosser Bedeutung sind.
Der Intermediärstoffwechsel erlaubt die Energie- und Baustoff-Bereitstellung im Organismus. Glukose als wichtigstes Energiesubstrat ist nur begrenzt speicherbar (Glykogen), kann aber alternativ aus Proteinen respektive Aminosäuren über die Glukoneogenese (N-Verlust) generiert werden. Beim Erwachsenen besteht bei Hungern eine obligate Glukoneogenese von etwa 37 g Eiweiss pro Tag. Die verwertbare Proteinmasse bestimmt daher die Dauer einer möglichen Nahrungskarenz, die bei einem gut Ernährten bei zirka zehn Wochen liegt.
Der Postaggressionsstoffwechsel tritt nach Trauma oder schwerer Erkrankung (Stress, systemische Entzündungsreaktionen [«SIRS»]) auf als Folge der Einwirkung verschiedener verstärkt ausgeschütteter Hormone und Entzündungsmediatoren, wie Adrenalin, Kortisol, Interleukine (IL-1), TumornekroseFaktor (TNF-α), Prostaglandine sowie Leukotriene. Der Postaggressionsstoffwechsel ist gekennzeichnet durch eine extreme Proteinolyse zur Energiebereitstellung. Diese Katabolie führt zu einem massiven Muskelverlust (Atemmuskulatur!), zu Störungen der Antikörperbildung bis hin zu multiplem Organversagen mit tödlichem Ausgang.
Unterernährung im Spital
In unserer Gesellschaft ist trotz des riesigen Nahrungsangebots die Fehl-
ernährung von grosser gesundheitlicher und daher auch ökonomischer Bedeutung. Fehlernährung beinhaltet einerseits die Mangel- oder Unterernährung sowie andererseits die Überernährung; beide Phänomene sind der Gesundheit abträglich und tragen erheblich zu den steigenden Gesundheitskosten bei.
Die Unterernährung im Spital ist von besonderer Bedeutung, da bei Akuterkrankungen, Traumata und chirurgischen Interventionen der Stoffwechsel und der Ernährungszustand (BMI) überlebenswichtig betroffen sind. Eine klinische Ernährung, das heisst eine medizinisch indizierte (Zusatz-)Ernährung, kann die Auswirkungen und damit den Gesundungsprozess günstig beeinflussen (Abbildung 2). Exemplarisch zeigte eine amerikanische Untersuchung (1) aus dem Jahr 2000, dass rund 50 Prozent der Patienten bereits bei Spitaleintritt mittelstark oder schwer unterernährt waren. Die Mangelernährung nahm während des Spitalaufenthaltes auf rund 60 Prozent zu, wobei nicht nur der Anstieg der Unterernährung bei Patienten mit initial gutem Ernährungszustand, sondern auch die Verschlechterung der Patienten mit bereits deutlich ungenügendem Eintritts-Ernährungsstatus – ein Drittel derselben – auffällig war. Die Komplikationen nahmen deutlich zu, und die durchschnittlichen Behandlungskosten stiegen um fast 60 Prozent. Ähnliche Ergebnisse aus Deutschland wurden 2003 publiziert
Nahrungsassimilation, Postaggressionsstoffwechsel
Die Nahrungsassimilation beginnt mit der mechanischen Zerkleinerung (Kauen und Zerbeissen) der Nahrung, gefolgt von der Verdauung (Digestion) im Magen-Darm-Trakt und der Aufnahme der verdauten Nahrungsbestandteile ins Blut; sie sind damit verfügbar für den Intermediärstoffwechsel. Die Nahrungsassimilation und der Intermediärstoffwechsel werden durch viele Faktoren moduliert
Abbildung 1: Nahrungsassimilation
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Abbildung 2: Postaggressionsstoffwechel – Ansatz der klinischen Ernährung
*NRF = Nutritional Risk Factors
*
Nutritional Risk Factors*
• BMI (kg/m2) < 18,5 • Unbeabsichtigter
Gewichtsverlust ≥ 5% (3 Monate?) • Reduzierte Nahrungsaufnahme im
letzten Monat? • Stressfaktoren
Risiko-Scoring
0 = kein Risiko 1 = moderat 2 = hoch
Screening
0–2: ø 3–4: cave! ≥ 5: Klin.Ern.
*Nottingham Screening Tool, in: Basics in Clinical Nutrition, 2nd edition, ESPEN 2000 Abbildung 3: Erfassung des Ernährungszustand
(2); sie zeigten eine Zunahme der Länge des Spitalaufenthaltes bei Unterernährten um 40 Prozent sowie eine signifikant erhöhte Prävalenz von Unterernährung bei Tumorpatienten (40–60%). Patienten ernähren sich im Spital schon ungenügend, ohne dass dafür spezifische Krankheitsumstände verantwortlich sind (3). Auch übergewichtige Patienten haben ein erhöhtes Risiko. Anlässlich einer Untersuchung bei Patienten, die wegen eines Tumors im Gastrointestinaltrakt operiert werden mussten, zeigten sich sowohl bei moderater (BMI 25–30), als auch starker Überernährung (BMI > 30) signifikant höhere Infektionskomplikationen (4).
Die Zusammenhänge zwischen Mangelernährung, erhöhter Morbidität, Mortalität und Kosten sind seit langem bekannt (5, 6). Trotzdem hat das Erkennen, Verhindern oder Behandeln einer Unterernährung im Spital in den letzten Jahrzehnten nicht die notwendige Beachtung gefunden, obwohl die Häufigkeit aufgezeigt und die Evidenz sinnvoller Interventionen auf vielfache Weise belegt wurde (7). Der Europarat hat deshalb 2002 eine Resolution verfasst unter dem Titel «Prevention of undernutrition and nutritional support in hospitals» (8). In der Folge wurde auch in der Schweiz ein Projekt gestartet, in dem in sieben Spitälern mit einem einheitlichen Vorgehen der Ernährungszustand und die (klinische) Ernährung der Spitalpatienten prospektiv untersucht wird (9). Die Er-
fassung des Ernährungszustandes bei Klinikeintritt und dessen Verlauf erlaubt, den Bedarf und die Art der klinischen Ernährung festzuhalten (Abbildung 4); sie ist zentral, um die Patienten mit einem risikobehafteten Ernährungszustand der notwendigen Ernährungsbetreuung inklusive der klinischen Ernährung zuzuführen (10).
Die klinische Ernährung
Je nach Zustand und Funktionalität des Oropharynx und des Gastrointestinaltraktes sind unterschiedliche Formen der klinischen Ernährung angezeigt. Die Verordnung einer klinischen Ernährung erfordert eine Ernährungsanamnese, eine Abschätzung des Bedarfs an Nährsubstraten, die Berücksichtigung eines allfällig veränderten Stoffwechsels (Diabetes etc.) sowie die Auswahl des entsprechenden enteralen und/oder parenteralen Ernährungsregimes.
Auch wenn noch viele Fragen zur richtigen klinischen Ernährung und zu derem Ausmass offen sind (11), können für die Ernährung des kranken Erwachsenen folgende Berechungsgrundlagen angewendet werden: G Energiebedarf (Nichtstickstoff-Kalo-
rien) 20–25 (–30) kcal/kg in Form von Kohlenhydrat und Fett (kalorischer Fettanteil 25–[50]%) G Eiweissbedarf: 0,8–1,5 (–1,75) g/kg (0,12–0,25 g Stickstoff (N)/kg) G Flüssigkeitsbedarf 30 ml/kg (zusätzlich Kompensation Verlust)
G Elektrolyte bedarfsgerecht G Vitamine und Spurenelemente ent-
sprechend den Empfehlungen (RDA). In erster Linie wird die klinische Ernährung als enterale Ernährung (EN) verabreicht. Eine breite Palette von industriellen Produkten erlaubt eine weitgehend individualisierte Therapie. Die parenterale Ernährung (PE) kann partiell oder total erfolgen. Sie erfordert in der Regel einen zentralvenösen Zugang. Die Zufuhr als Mehrflaschensystem mit den einzelnen Komponenten ist heute durch industrielle oder individuell hergestellte Mischbeutel (Compounding) abgelöst worden. Die so genannten All-in-one (AIO) Mischungen (Abbildung 4) haben Vorteile betreffend infektiöser (Hygiene), metabolischer und mechanischer Stabilität und Kompatibilität sowie im Komfort für Patient und Pflege. Anwendungsfertige «ready-touse»-Kombinationen mit allen notwendigen Bestandteilen für einen Tagesbedarf sind nur sehr eingeschränkt haltbar (10, 12).
Der Apotheker im
Ernährungsteam
Die Zubereitung der PE aus stabilen Komponenten oder deren Vervollständigung aus kommerziellen Mehrkammerbeuteln geschieht unter den Vorgaben der aseptischen Zubereitung unter pharmazeutischer Verantwortung, zum Beispiel in Spitalapotheken. Ebenso obliegt dem Apotheker die Dokumentation und Qualitätssicherung dieser Produkte. Von Bedeutung ist dabei die analytische Kontrolle der Stabilität. AIO-Mischungen enthalten 50 und mehr Komponenten, die sich gegenseitig beeinflussen und die für die chemisch-physikalische Kompatibilität und Stabilität entscheidend sind. Bei der physikalischen Stabilität fetthaltiger Mischungen ist die Dispersität der Emulsion für die parenterale Anwendung häufig entscheidend. Um die Untersuchungen zeitgerecht und angepasst an den Bedarf durchzuführen, sind einfache und schnell durchzuführende Methoden erwünscht. Bei der Emulsionsbeurteilung kann das mit einer mikroskopischen Methode (Abbildung 5) gut erfolgen (13). Diese Daten sind vor allem dort wichtig, wo eine individualisierte PE erfolgen muss, wie in der Neonatologie/Pädiatrie und bei Langzeitpatienten zu Hause (14, 15).
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Glukose
1.
Na, K, Ca, P
Aminosäuren 2. Na, K, Mg
Lipide
3.
Spurenelemente 4.
Vitamine
PE 1850 kcal-16 g N 121 kcal/g N 2000 mosm/kg
LCT Fett
25 g
Glukose
350 g
Aminosäuren 100 g
Na+
K+
Ca++
Mg++
Phosphat
(Spurenelement)
Haltbarkeit: 10 Tage bei 2–8 °C
Abbildung 4: «All in one» (AIO)-PE-Mischung (ready to use)
1950 ml
450 kcal 1400 kcal
16 g N 100 mmol
60 mmol 4 mmol 5 mmol
24 mmol
Abbildung 5: FettemulsionDestabilisierung: mikroskopische Fetttröpfchenanalyse
Kritisch sind sowohl in der parenteralen wie auch in der enteralen Ernährung die Fragen zur Kompatibilität mit Arzneimitteln. Während die PE als Trägermischung für Medikamente meist nicht geeignet ist (16), ist die Verabreichung von Arzneimitteln über die Sonde unter Berücksichtigung definierter Regeln möglich. Neben der Verfügbarkeit geeigneter galenischer Formen sind die Wechselwirkungen zwischen Medikament und Sondennahrung, Sorptionsphänome am Sondenmaterial und die spezifische Lage der Sondenspitze (duodenal, jejunal, gastral) für die Beurteilung der Stabilität (pH) und Verträglichkeit (Tonizität) wichtig. Der Sondendurchmesser hat wesentlichen Einfluss auf das Verstopfen durch pulverisierte Tabletten.
Diese Hinweise zeigen, dass die Apotheker im Ernährungsteam interdisziplinär wichtige Aufgaben haben zur G Produkteevaluation G Herstellung (PE) G Dokumentation (Kompatibilität, Sta-
bilität,Handhabung) G Instruktion.
Sie sind daher neben den Ärzten, der
Pflege und den Ernährungsberaterinnen obligate Mitglieder der Ernährungsteams, die durch ihre Interdisziplinarität einen wichtigen Beitrag zur Erkennung, Vorbeugung oder Behandlung der Unterernährung leisten (5, 8).
Ausblick
Unterernährung ist als unabhängi-
ger Risikofaktor bei Erkrankungen an-
erkannt. Die negativen Auswirkungen
auf Morbidität und Mortalität (und da-
mit auch auf die Kosten) sind doku-
mentiert. Um das Ausmass und die Art
der klinischen Ernährung im Sinne ei-
ner ausgewogenen Unterstützung der
normalen Ernährung aufzuzeigen,
sind gut konzipierte Studien mit ent-
sprechenden Kontrollgruppen nötig.
Sie fehlen heute noch in vielen Berei-
chen (11). Gleichzeitig müssen der
Stellenwert und die Kenntnis der klini-
schen Ernährung im medizinischen
Umfeld verstärkt werden, um die Ak-
zeptanz und den Nutzen der Ernäh-
rung im Gesundheitswesen einzubrin-
gen und dieser Behandlung den
richtigen Platz zuzuweisen.
I
Vortrag, gehalten vor der Pharmazeutischen Gesellschaft Basel am 13. November 2003
Autor: Professor Dr. pharm. Stefan Mühlebach Chefapotheker Apotheke Kantonsspital Aarau AG 5001 Aarau E-Mail: stefan.muehlebach@ksa.ch
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