Transkript
Nahrungsmittelintoleranz
Zöliakie: Aufklärungsarbeit in Europa und Schweizer Buchpremiere
Das Bewusstmachen der Zöliakie und der Bedürfnisse der Betroffenen standen im Zentrum der 18. Konferenz der Dachorganisation der europäischen Zöliakiegesellschaften (Association of European Coeliac Societies, AOECS). Der jährliche Erfahrungsaustausch der Delegierten fand dieses Jahr vom 16. bis 18. September im Hotel Continental-Park in Luzern statt. Gastgebergesellschaft war die IG Zöliakie der Deutschen Schweiz. Vertreten waren insgesamt 29 Zöliakiegesellschaften aus fast allen Ländern Europas sowie aus Russland, Südamerika und Australien.
Silvana Haag
Die AOECS-Konferenz 2004 stand unter dem Motto «Awareness of coeliac disease». Welches sind die vordringlichsten Anliegen, die in der Öffentlichkeit kommuniziert werden sollen?
In erster Linie muss die Häufigkeit der speziellen, genetisch vorgegebenen Bereitschaft, auf Gluten immunologisch zu reagieren, bekannter werden. Von einer Intoleranz gegenüber Gluten, das in Getreiden wie Weizen, Roggen, Dinkel und Gerste vorkommt, ist gemäss heutigen Studien mindestens jede 100. Person betroffen. Das Wort Zöliakie soll deshalb für eine Kondition stehen, die eine «Normalität» sein kann – so wie das zum Beispiel bei Diabetes der Fall ist. Als Konsequenz sollen die Leute wissen, dass die glutenfreie Ernährung als bisher einzige Therapie eine Lebensnotwendigkeit ist.
Unsere IGZ betreibt neben den Dienstleistungen für die Mitglieder auch Aufklärungsarbeit und sucht zu diesem Zweck die Zusammenarbeit mit verschiedenen Seiten, besonders mit Ärzten, Produktherstellern, Gastronomiebetrieben und den Medien. Unsere Aktivitäten sind von den personellen und natürlich auch von den finanziellen Ressourcen abhängig; wir finanzieren uns in erster Linie durch die Mitgliederbeiträge von Betroffenen. Unsere Mitglieder motivieren wir, in ihrem Umfeld über Zöliakie zu informieren.
Wo steht die Schweiz im europäischen Vergleich?
Unsere Selbsthilfeorganisation besteht seit 30 Jahren, und ich beobachte, dass wir vorbildliche Arbeit leisten. Je länger wir uns mit dem Thema auseinander setzen, desto weiter wird das Arbeitsfeld. Zöliakiebetroffene brauchen viel mehr als nur die Bezugsadresse für glutenfreies Brot!
In der Deklarationspflicht der Zutaten von Lebensmitteln ist die Schweiz im Moment führend.
Welche Zöliakiegesellschaften oder Länder haben für die Schweiz Vorbildcharakter?
Von Regula Patscheider
Rund 80 Konferenzteilnehmer waren als Delegierte, Jugenddelegierte, Gastreferenten oder Produkthersteller angereist. Die Jugenddelegierten machten fast die Hälfte der Teilnehmer aus. Hauptthemen waren Öffentlichkeitsarbeit, Leben mit Zöliakie, Senkung des Glutenfrei-Grenzwertes, praktische Umsetzung der Allergendeklarationspflicht in der Schweiz und Neues aus der medizinischen Forschung. Begleitend fand in der Richemont-Fachschule ein Fortbildungsworkshop für Produzenten glutenfreier Produkte statt.
Silvana Haag, Vizepräsidentin der IG Zöliakie der Deutschen Schweiz (IGZ), gab Auskunft über die Resultate der AOECS-Konferenz 2004:
An welchen Stellen herrscht der grösste Informationsbedarf?
Ein grosser Teil der Bevölkerung kennt weder die Bezeichnung Zöliakie noch deren Bedeutung: Wer käme von sich aus auf die Idee, dass bestimmte Menschen das grundlegendste aller Lebensmittel – Brot – nicht vertragen?
Viele unserer Mitglieder haben, obwohl sie in ärztlicher Behandlung waren, bis zur richtigen Diagnosestellung eine lange Leidensgeschichte hinter sich. Die individuell sehr verschiedenenartigen Symptome führen dazu, dass von Ärzten unterschiedlichster Fachrichtungen alles Mögliche abgeklärt und ausprobiert wird. Entscheidend ist aber, dass der Arzt frühzeitig im Rahmen von Abklärungen auch an das Vorliegen einer Zöliakie denkt!
Was können die Zöliakiegesellschaften, was können die Mitglieder zur Informationsverbesserung beitragen?
Patientenorganisationen: www.zoeliakie.ch; www.coeliakie.ch; www.celiachia.ch
Klub der Unter-30-Jährigen: www.zoeliakieclub.ch
Rezepte mit Beratung auf Anfrage: www.glutenfreie-rezepte.ch
Weiterbildung: 20. Jahrestagung der Gesellschaft für Pädiatrische Gastroenterologie und Ernährung GPGE: Universität Basel, 10. bis 12. März 2005; Zöliakie ist ein Hauptthema.
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Nahrungsmittelintoleranz
Schweizer Premiere: Kochbuch für glutenfreie Ernährung
Carine Buhmann: Glutenfrei kochen und backen. Ein praktischer Ratgeber mit über 130 Rezepten bei Zöliakie. 176 Seiten. AT Verlag Baden. ISBN 385502-815-X. Preis Fr. 38.–/Euro 22.90 (Bestellung direkt bei der Autorin möglich: c.buhmann@freesurf.ch).
Zöliakie bezeichnet eine durch das Klebereiweiss Gluten ausgelöste chronische Erkrankung des Dünndarms. Wer mit dieser Diagnose konfrontiert wird, muss seine gewohnte Ernährungsweise radikal umstellen und sich intensiv mit Ernährungsfragen und Nahrungsmittelangebot auseinander setzen. Denn die einzige ursächliche Therapie bei Zöliakie besteht darin, Gluten, das in Weizen, Roggen, Dinkel, Grünkern, Gerste und Hafer vorkommt, lebenslang konsequent zu vermeiden. Das praxisnahe, informative Buch von Carine Buhmann mit 30 ganzseitigen farbigen Rezeptfotos beruht auf genauen Recherchen und intensiver Zusammenarbeit mit Fachärzten, Ernährungsberaterinnen, erfahrenen Kochkursleiterinnen, Lieferanten von glutenfreien Produkten und der IG Zöliakie der Deutschen Schweiz. Das Buch liefert wichtige Informationen zum Krankheitsbild der Zöliakie bei Kindern und Erwachsenen und einen Antwortkatalog auf häufig gestellte Fragen zum Thema Glutenunverträglichkeit. Es enthält Angaben zu einer ausgewogenen glutenfreien Ernährung, eine Warenkunde mit Einkaufstipps, ein 10-Punkte-Programm für Ein-
steiger und ein Kapitel zu glutenfreien Getreidesorten wie Reis, Hirse und Mais, aber auch Buchweizen, Amaranth, Quinoa und Kiwicha. Nützliche Adressen und Bezugsquellen sind beigefügt. Alle Rezepte sind praxiserprobt. Da das Klebereiweiss Gluten die guten Backeigenschaften ausmacht, kann glutenfreies Backen zur Herausforderung werden. Die praktischen Tipps und präzisen Angaben zu den gebräuchlichen glutenfreien Mehlmischungen wird daher besonders der Anwender zu schätzen wissen, der einige frustrierende Versuche mit zu bröseligen oder klebrigen glutenfreien Pizza- und Brotteigen hinter sich hat. Das erste schweizerische Kochbuch für glutenfreie Ernährung bringt Einsteigern eine gute Starthilfe, inspiriert aber auch Routinierte zu neuen Kreationen. Einfache und raffinierte Rezepte bringen die nötigen Kohlenhydrate und Faserstoffe und auch Abwechslung in den kulinarischen Alltag. Eine reiche Auswahl an saisonalen Backwaren und Spezialitäten sowie Gerichte für festliche Anlässe werden präsentiert. Natürlich fehlen auch Mehlspeisen wie Gnocchi, Spätzli, Crêpes und Waffeln nicht. Das Buch ist als Standardwerk und Ratgeber nicht nur für Zöliakiebetroffene und Ernährungsberater bestens geeignet, sondern auch für alle privaten Gastgeber sowie Gastronomiebetriebe, die auch Gästen mit Zöliakie
vollwertige glutenfreie Menüs anbieten und sie nicht mit einem Salatteller abspeisen wollen.
Zur Autorin: Carine Buhmann ist diplomierte, an der UGB-Akademie in Giessen ausgebildete Gesundheitsberaterin, Fachfrau für Ernährungsfragen sowie Autorin zahlreicher erfolgreicher Koch- und Ernährungsbücher. Sie arbeitet seit bald 20 Jahren in der Aus- und Fortbildung von Fachleuten im Ernährungsund Gesundheitsbereich. Als Familienfrau ist sie heute vorwiegend als freiberufliche Journalistin im Bereich gesunde Ernährung für verschiedene Zeitschriften und Buchverlage tätig, hält Vorträge und gibt regelmässig Kochkurse.
Vorbildcharakter hat für uns England. Dort erfährt die Zöliakiegesellschaft berechtigterweise enorme Unterstützung durch das Gesundheitswesen und die Lebensmittelindustrie, sodass sie sich eine überaus feste Position aufbauen konnte. Auch in Italien ist man gut organisiert: Glutenfreie Produkte können wie Medikamente kassenunterstützt bezogen werden. In Finnland wurde das gesamte Personal im Gesundheitswesen ausgebildet, um eine Standardbehandlung bei Zöliakie landesweit zu gewährleisten.
Wie sieht es in der Schweiz mit der praktischen Umsetzung der neuen Allergende-
klarationspflicht in den Produktions- und Gastronomiebetrieben aus?
Einerseits wird den Lebensmittelherstellern bewusst, dass eine Kontamination mit glutenhaltigen Getreiden vermieden werden muss, und somit sorgfältig getrennte Verarbeitungswege gewährleistet sein müssen. Andererseits – und dies ist unser Nachteil – steht auf einer Zutatenliste zur Absicherung etwa «kann Spuren von Gluten enthalten».
Deckt sich ein Gastronomiebetrieb mit Halbfertigprodukten ein, so ist die Gefahr gross, dass aus technologischen Gründen Gluten, zum Beispiel als «Coating», eingesetzt wurde. Will man
als Gast wissen, warum die Pommes Frites so knusprig sind, so bedeutet das für das Servicepersonal, im Rummel der Essenszeit auf der Grosspackung im Tiefkühler X, Schublade Y nachschauen zu müssen. Da wird der Kundenwunsch schnell als Marotte eingestuft. Am meisten Arbeit haben die Kantonalen Laboratorien anlässlich ihrer Kontrollen bei den Kleinbetrieben und Take-aways, die zum Teil mit den neuen Anforderungen rund um die Allergendeklarationspflicht noch grosse Schwierigkeiten haben.
Die IGZ ist bemüht, zu Gastronomiebetrieben Kontakte zu schaffen, da eine vermehrte Schulung des Perso-
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nals wichtig wäre. Interesse ist vorhanden, ein langfristiger Austausch aufgrund der hohen Personalfluktuation in dieser Branche jedoch oft schwierig.
Als wichtiger Schritt hat sich die AOECS in Luzern geeinigt, eine Reduktion des Grenzwertes für glutenfreie Produkte von 200 ppm auf 20 ppm Gluten zu erreichen und die Lizenzvergabe des «Glutenfrei»Symbols der durchgestrichenen Ähre künftig an diese Bedingung zu knüpfen. Die IGZ wirkt bei der Umsetzungsarbeit aktiv mit. Welches sind die nächsten Arbeitsschritte?
Vertreter aus vier europäischen Ländern werden sich demnächst treffen, um einheitliche Verträge für die Symbolvergabe aufzusetzen. Gemeinsames Handeln ist von grösster Wichtigkeit, hat aber vorderhand Pioniercharakter, weil nicht alle AOECS-Mitglieder die praktische Umsetzung gewährleisten können. Das «Glutenfrei»-Symbol bedeutet für den Zöliakiebetroffenen Sicherheit und Qualität und ist ein begehrtes Garantiezeichen für den Produzenten. Das Produkt muss einer einheitlichen Analysemethode unterzogen werden, welche von der Prolamin Working Group als tauglichste Methode empfohlen wird. Die neuen Verträge sollen ab 2005 gültig sein.
An der Konferenz waren zwei Zöliakiegesellschaften aus der Schweiz vertreten: die IGZ als «Konferenz-Gastgeberin» und Vertreterin der Tessiner Gesellschaft und die Association Suisse Romande de la Coeliakie. Wie schaffen Sie es, den drei schweizerischen Gesellschaften gerecht zu werden und das Land europaweit dennoch effizient zu vertreten?
Die drei Zöliakiegesellschaften treffen sich jährlich und stehen miteinander in gutem Kontakt. Grosse Ziele und Anliegen auf Bundesebene gehen wir gemeinsam an, kleinere werden autonom, aber geprägt von der gemeinsamen Grundidee, entschieden. I
Herzlichen Dank für diesen Einblick in die Arbeit der Zöliakiegesellschaften!
Das Interview führte Regula Patscheider.
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