Transkript
Nahrungsmittelallergie
Nahrungsmittelallergien im Kindesalter
Leiden alle Kinder unter Allergien?
Diese provozierende Frage ist durch-
aus berechtigt, stellt man auf Medien-
berichte, Diskussionen unter Eltern
und die Besorgnis weiter Bevölke-
rungskreise ab. Tatsächlich kommen
eine grosse Anzahl Patienten mit All-
ergiebeschwerden und einer häufig
unsicheren Diagnose in die Diät-
sprechstunde.
Philippe Eigenmann
Die eingangs erwähnte Frage muss freilich negativ beantwortet werden. Das Wort «Allergie» taucht zwar im Zusammenhang mit zahlreichen, nicht weiter präzisierten Verdauungsbeschwerden auf, doch bezeichnet es in Wirklichkeit eine ganz bestimmte Art von Krankheiten. Die Allergie ist definiert als übermässige Reaktion des Immunsystems gegen ein bestimmtes Nahrungsmittel oder gegen gewisse Pollen, also gegen Substanzen, die eigentlich unschädlich sind und vom Körper toleriert werden sollten. Die Vielzahl der Mahlzeiten, die täglich eingenommen werden, sowie die Suche nach dem «Schuldigen», sobald irgendetwas in unserem Körper nicht stimmt, erklären das häufige Anprangern von Nahrungsmitteln. In Wirklichkeit haben wir es viel öfter mit Intoleranzerscheinungen zu tun, die bei der erschwerten Verdauung bestimmter Nahrungsmittel auftreten. Solche Intoleranzerscheinungen, die bei Kindern häufiger sind als bei Erwachsenen, sind zumeist vorübergehend, während sich Allergien über einen Zeitraum von Monaten bis mehreren Jahren manifestieren. Man schätzt den Anteil von Allergikern im Kindesalter auf 2 bis 5 Prozent; bei Erwachsenen sinkt die Zahl der Betroffenen auf etwa 1 bis 2 Prozent.
Wie manifestieren sich
Nahrungsmittelallergien bei
Kindern?
Bei Kindern unterscheidet man Nahrungsmittelallergien, die vor allem im ersten Lebensjahr auftreten, von solchen, die sich erst später manifestieren und stark den Allergien der Erwachsenen ähneln. Säuglinge mit einem familiären Allergierisiko beginnen gewöhnlich ihre Allergikerlaufbahn mit einem atopischen Ekzem (auch Neurodermitis genannt). Während die allergische Prädisposition die primäre Ursache der Krankheit darstellt, kommt bei etwa 30 Prozent dieser Kinder eine Nahrungsmittelallergie hinzu, die das Ekzem noch verschlimmern kann. Zwar verbessert sich der Zustand des Kindes, sobald das allergisierende Nahrungsmittel aus seinem Speiseplan gestrichen wird, doch ganz wird das Ekzem nicht verschwinden, da die allergische Disposition des Kindes nicht zu ändern ist. Bei solchen Patienten sollte die Diagnose einer assoziierten Nahrungsmittelallergie sehr sorgfältig gestellt werden, bevor ein Diätplan ausgearbeitet wird. Häufig wird aber die Diagnose fälschlicherweise einzig und allein aufgrund einer Sensibilisierung gestellt (positiver Test bei Fehlen einer Allergie). Bei anderen Säuglingen äussert sich eine Nahrungsmittelallergie zunächst in Anfällen von Urtikaria, beispielsweise nach Einnahme eines Milchschoppens. Bei Auftreten schwerer
Symptome mit gelegentlicher Übelkeit und Atembeschwerden ist eine anaphylaktische Reaktion im Spiel, die die sofortige Einlieferung in eine Intensivstation erfordert. Schliesslich kann eine Nahrungsmittelallergie bei Säuglingen ausschliesslich Verdauungsbeschwerden verursachen, die mit Brechdurchfall und blutigem Stuhl einhergehen können. Beim Kind im Vorschulalter sowie beim Schulkind stellen sich die Symptome einer Nahrungsmittelallergie, wie eine Urtikaria oder eine anaphylaktische Reaktion, sehr rasch nach Einnahme des betreffenden Nahrungsmittels ein. Dies erleichtert häufig die Identifizierung des verantwortlichen Nahrungsmittels durch den Patienten oder seine Eltern.
Häufige Auslöser der Nahrungsmittelallergien
Beim Kleinkind sind meist Eier oder Milch für die allergische Reaktion verantwortlich. Die Allergieprognose ist günstig: Innerhalb von zwei bis drei Jahren bildet sich die Allergie oft spontan zurück. Grössere Kinder reagieren häufiger allergisch auf Erdnüsse, Nüsse, Fische – solche Allergien bestehen in der Regel über längere Zeiträume.
Diagnose und Behandlungsmöglichkeiten
Jeder Allergieverdacht sollte Anlass zu einer präzisen Diagnosestellung sein. Zahlreiche Reaktionen auf Nah-
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rungsmittel sind auch durch Unver-
träglichkeitserscheinungen bedingt,
deren Verlauf auf einen kürzeren Zeit-
raum beschränkt ist. Sie sind kein
Grund, auf den Genuss kleiner Men-
gen des betreffenden Nahrungsmittels
zu verzichten, was eine ganze Reihe
von Diätvorschriften überflüssig
macht, die das Kind sonst allzu sehr be-
lasten und sogar zu ausgesprochenen
Defiziten führen können. Bei seiner Er-
stuntersuchung leitet der behandelnde
Arzt aus der Anamnese die Möglichkeit
einer allergischen Reaktion ab; die Dia-
gnose wird dann durch Blut- und Haut-
testung erhärtet. Bei Kindern mit star-
ker atopischer Prädisposition können
falschpositive Testergebnisse schwer zu
deuten sein. Ein oraler Provokations-
test schafft hier Klarheit; manchmal
muss dieser unter klinischen Bedin-
gungen erfolgen.
Da es bei Nahrungsmittelallergien an
eigentlichen (ursächlichen) Behand-
lungsmöglichkeiten fehlt, ist eine stren-
ge Eliminationsdiät zu empfehlen.
Damit werden erneute allergische Re-
aktionen verhindert, und prognostisch
positive Allergien (Milch, Eier) können
schneller ausheilen, da das Immunsy-
stem schlicht «vergisst», auf unerwar-
tete Weise zu reagieren. Eine Diätassi-
stentin kann dabei den Eltern alle
erforderlichen praktischen Ratschläge
erteilen. Die Hyposensibilisierung als
klassische, definitive Behandlungsmög-
lichkeit bei einer Inhalationsallergie,
ist bei Nahrungsmittelallergien leider
nicht nur unwirksam, sondern in der
aktuellen Form wegen möglicher Ne-
benwirkungen in Form starker aller-
gischer Reaktionen auch gefährlich.
Immerhin verheissen zahlreiche im
Gange befindliche Studien in absehba-
rer Zeit eine wirksame Therapiemög-
lichkeit für unsere kleinen Patienten.
Zur Betreuung eines kindlichen Aller-
gikers gehört letztlich auch die Auf-
klärung über die Notwendigkeit einer
sofortigen Rückmeldung beim Auftre-
ten schwerer allergischer Reaktionen.
Der Patient beziehungsweise seine El-
tern sollten dazu angehalten werden,
stets ein geeignetes Antiallergikum
(Antihistaminikum) sowie eine Adrena-
lin-Spritze zur Selbstapplikation bereit-
zuhalten. In schweren Fällen können
beide Notfallmassnahmen lebensret-
tend wirken.
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Autor: PD Dr. med. Philippe Eigenmann Facharzt für Allergologie und Pädiatrie Kinderspital Genf
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