Transkript
Nahrungsmittelallergie
Die pollenassoziierte Nahrungsmittelallergie
Früchte, Gemüse und Nüsse gehören
zu den häufigsten Auslösern einer
Nahrungsmittelallergie im Erwachse-
nenalter (1–7). Meistens liegt diesen
allergischen Reaktionen eine primäre
Sensibilisierung gegen verschiedene
Pollen zugrunde. Zirka 15 bis 20 Pro-
zent der Bevölkerung in Zentraleuropa
leiden unter einer Pollenallergie (8),
und 50 bis 93 Prozent aller Birken-
pollenallergiker entwickeln eine Aller-
gie gegen pollenassoziierte allergene
Nahrungsmittel (3).
Barbara K. Ballmer-Weber
Definition, Epidemiologie und Pathogenese
Auf molekularer Ebene beruht die pollenassoziierte Nahrungsmittelallergie auf einer Kreuzreaktion von humanen IgE-Antikörpern, die gegen Pollenallergene gerichtet sind, mit homologen Allergenen in pflanzlichen Nahrungsmitteln (9). Die Sensibilisierung auf Nahrungsmittelallergene erfolgt also nicht oral wie beim Kind, sondern basiert auf einer respiratorischen Sensibilisierung, die der Nahrungsmittelallergie vorausgeht.
Nahrungsmittelallergien, die auf einer Sensibilisierung gegen Birkenpollen beruhen, sind am besten untersucht. Eriksson und Mitarbeiter veröffentlichten 1982 eine Übersicht über die häufigsten Nahrungsmittel, die orale Beschwerden bei 380 Birkenallergikern hervorriefen (2). Als Auslöser wurde in erster Linie Haselnuss (53%) beschrieben, daneben Apfel (47%), Pfirsich (34%), Kirsche (29%), Mandeln (27%), Walnuss (26%),
Birne (26%), Karotte (23%), Pflaume (21%), Paranuss (20%) und Erdnuss (14%). Andere Autoren fanden leicht abweichende Prozentzahlen. Etesamifar und Wüthrich (5) untersuchten die Krankengeschichten von 383 Patienten, die gegen mindestens ein Nahrungsmittel allergisch waren, und fanden die folgenden Prävalenzraten: für Haselnuss 36,8%, Sellerie 36,3%, Apfel 25,6%, Karotten 24,8%, Erdnuss 12,8%, Mandel 10,7%, Pfirsich 10,2%, Soja 9,1%. Auffallend an dieser Studie war die hohe Prävalenz einer Sellerieallergie, zumal in anderen Untersuchungen Allergien gegen dieses Nahrungsmittel nur selten erwähnt wurden. Dieses Phänomen beruht am ehesten auf unterschiedlichen nationalen Ernährungsgewohnheiten. So konnten im Rahmen eines kürzlich durchgeführten EU-Projektes, bei dem Patienten an drei klinischen Zentren (Mailand, Kopenhagen, Zürich) eingeschlossen wurden, in jedem Zentrum Patienten mit Haselnussallergie rekrutiert werden, aber nur in Zürich wurden Patienten mit einer Sellerieallergie identifiziert (10).
Zirka 20 Prozent der Patienten mit einer Beifusspollen-Sensibilisierung erwerben assoziiert eine Lebensmittelallergie auf Gemüse wie Karotte und Sellerie, aber auch auf verschiedene
Gewürze. Diese Assoziation wurde schon vor Jahren klinisch als so genanntes «Sellerie-Beifuss-Gewürz-Syndrom» beschrieben (11). Gewisse Nahrungsmittelallergien wie zum Beispiel gegen Sellerie können mit einer Beifuss- und Birkenpollensensibilisierung einhergehen, weil ein kreuzreaktives Protein aus Sellerie in beiden Pollenarten vorkommt.
Zudem wurden Kreuzallergien auch bei Graspollenallergikern beschrieben, zum Beispiel gegen Apfel, Pfirsich, Tomaten oder Erdnüsse (12, 13). Bisher konnte zumindest im mitteleuropäischen Raum die klinische Relevanz einer Graspollen-assoziierten Nahrungsmittelsensibilisierung nicht belegt werden. Traubenkrautpollen, die vorwiegend in Süd- und Osteuropa zu finden sind, sind für die Schweizer Bevölkerung zumindest zurzeit nicht von Bedeutung. In Zusammenhang mit der Traubenkraut-Pollenallergie sind auch verschiedene Nahrungsmittelallergien beschrieben worden, wie zum Beispiel auf Banane oder Melone (14, 15). Leider fehlen jedoch bis heute weiterführende Studien, die diese ersten Fallberichte bestätigen. Kürzlich berichtete eine spanische Gruppe über die Assoziation zwischen einer Platanenpollenallergie und Allergien auf pflanzliche Nahrungsmittel
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Nahrungsmittelallergie
Tabelle:
Mögliche Nahrungsmittelallergien bei Patienten mit Pollenallergie
Pollen Birkenpollen
Beifusspollen
Nahrungsmittel Apfel, Birne, Kirsche, Pfirsich, Nektarine, Aprikose, Pflaume, Kiwi, Haselnuss, andere Nüsse, Mandel, Sellerie, Karotte
Sellerie, Karotte, Gewürze, Sonnenblumenkerne, Honig
Graspollen Traubenkrautpollen
Zuckermelone, Wassermelone, Tomate, Erdnuss, Mangold
Wassermelone, andere Melonen, Zucchini, Gurke, Banane
Platanenpollen
Haselnuss, Pfirsich, Apfel, Melone, Kiwi, Erdnuss, Mais, Kichererbse, Salat, grüne Bohnen
wie Haselnuss, Früchte, Erdnuss, Mais, Salat und grüne Bohnen (16). Obwohl bei Patienten des mediterranen Raumes häufig eine Allergie gegen Glaskraut (Urticaceae)-Pollen oder Pollen der Familie der Ölgewächse auftritt, fehlen bis heute Hinweise über assoziierte Nahrungsmittelallergien (17).
In der Tabelle sind die Nahrungsmittel zusammengestellt, die bei den verschiedenen Pollenallergikern eine allergische Reaktion auslösen können.
Klinik der pollenassoziierten
Nahrungsmittelallergie
Die pollenvermittelte Nahrungsmittelallergie verläuft in der Regel harmlos. Neuere Studien, bei denen Patienten mit Haselnuss-, Apfel- und Kirschenallergie mittels Provokationstests abgeklärt wurden, unterstützen diese Sicht (18–20). Der Patient verspürt häufig nur ein Jucken oder Kribbeln der Lippen- und Mundschleimhaut. Zudem kann eine Rötung oder Schwellung der Lippen oder der Mundschleimhaut auftreten. Dieses Beschwerdebild wird orales AllergieSyndrom genannt (21). Die Symptome beginnen meistens unmittelbar, das heisst innerhalb von Sekunden bis wenigen Minuten, nach Einnahme des entsprechenden Nahrungsmittels und beruhen auf einer Kontakturtikaria der Mundschleimhaut. Hingegen berichteten 50 Prozent der Pollinosispatienten mit Sellerie- oder Karottenallergie über systemische Reaktionen, und ebenso zeigten etwa 50 Prozent der Patienten unter oraler Provokation mit Sellerie oder Karotte schwerwiegen-
dere Beschwerden wie Urtikaria, Quincke-Ödem, Rhinitis, Konjunktivitis, Atemnot, Übelkeit oder Erbrechen (10, 22). Auch Fälle mit allergischem Schock aufgrund einer pollenassoziierten Nahrungsmittelallergie sind bekannt.
Selbst wenn «nur» ein orales Allergiesyndrom vorliegt, wird die Situation dann problematisch, wenn eine pollenassoziierte Nahrungsmittelallergie auf eine breite Palette von Früchten und Gemüsen vorliegt. So leiden einige Heuschnupfenpatienten unter Allergien auf bis zu 20 verschiedene Nahrungsmittel.
Gibt es Behandlungsmöglich-
keiten bei Nahrungsmittel-
allergien, die durch Pollen
vermittelt sind?
Patienten mit einer Allergie gegen rohe Früchte und Gemüse vertragen die entsprechenden Nahrungsmittel häufig in gekochtem Zustand. So kann ein Apfelallergiker zum Beispiel in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle problemlos Apfelmus konsumieren, oder ein Karottenallergiker gekochte Karotten. Nur selten trifft man auf Obst- und Gemüseallergiker, die gekochtes Obst oder Gemüse nicht vertragen.
Bei anderen pollenassoziierten allergenen Nahrungsmitteln wie beispielsweise Sellerie oder Haselnuss besteht jedoch eine komplexere Situation. Bekanntlich enthält Sellerie sowohl thermostabile wie thermolabile Allergene (23). Bereits kurzes Erhitzen kann zu
einer vollständigen Inaktivierung des Sellerie-Hauptallergens führen. Auch die Allergenität der Haselnuss wird durch Röstung stark reduziert. Trotzdem reagieren ein Teil der Sellerieoder Haselnussallergiker immer noch auf gekochten Sellerie oder geröstete Haselnüsse (24, 25).
Oft ist das Vermeiden des Nahrungsmittels, das eine allergische Reaktion auslöst, die beste und sicherste Therapie bei Nahrungsmittelallergie. Leidet ein Patient unter einer Allergie gegen sehr viele verschiedene Früchte und Gemüse, ist es sinnvoll, eine Ernährungsberaterin aufzusuchen, die mithilft, den Menüplan trotz Vermeiden der allergieauslösenden Nahrungsmittel ausgewogen zu gestalten. Für Patienten, die nicht nur unter einem oralen Allergiesyndrom leiden, sondern schwerwiegendere Symptome haben, ist es wichtig, ein Notfall-Set auf sich zu tragen, das ein Antihistaminikum, Kortikosteroide und allenfalls Adrenalin enthält.
Die Hyposensibilisierung mit Pollenextrakten ist eine erfolgreiche Behandlungsstrategie bei Heuschnupfen. Bei 80 bis 90 Prozent der Patienten lässt sich nach drei- bis vierjähriger Therapiedauer eine deutliche Verbesserung der Beschwerden erzielen (26–27). Wird nun aber eine pollenvermittelte Nahrungsmittelallergie dadurch gleichzeitig mitbehandelt? Hierzu finden wir in der Literatur widersprüchliche Resultate. Einige Untersuchungen berichten über eine Besserung zum Beispiel der Apfelallergie bei 30 bis 80 Prozent der Patienten mit einer Baumpollenallergie, die unter einer Hyposensibilisierung mit Baumpollenextrakt stehen (28, 29). Andere Studien berichten im gleichen Zusammenhang über keine Besserung der Nahrungsmittelallergie (30). Aufgrund dieser kontroversen Resultate verordnen wir eine Hyposensibilisierungstherapie nur dann bei Patienten mit pollenassoziierter Nahrungsmittelallergie, wenn die Indikation zur Therapie aufgrund bestehender Pollinosisbeschwerden gestellt werden kann.
Autorin: PD Dr. med. Barbara K. Ballmer-Weber Allergiestation, Dermatologische Klinik UniversitätsSpital Zürich Gloriastr. 31 8091 Zürich
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Glosse
Ich habe eine Lebensmittelallergie. Gegen Äpfel. Wenn sie ein Anderer isst. Man könnte das wahrscheinlich schon fast eine Neurose nennen. Ich selber mag Äpfel sehr gern, aber sie müssen perfekt und hart und sauer sein, und ich muss sie sehr schnell essen. Wenn jemand in meiner Nähe einen Apfel isst, wird mir heiss und kalt und blümerant, ich kann es schlecht erklären, es liegt am Geruch und am Geräusch, wobei ein klinisches Abbeissen von einem makellosen Granny Smith wie in der Dr.-Best-Werbung («Sehen Sie? Kein Zahnfleischbluten!») noch einigermassen problemlos ist, mit gleichzeitigem Schlürfen wirds ein bisschen schwieriger, und reif für die Klapse bin ich, wenn eine Mutter aus einem schrumpeligen Apfel Klasse C ein Stück rausmümmelt und es ihrem Kind zum Weitermümmeln gibt. Das dauert dann so eine gute halbe Stunde, und während dieser halben Stunde hat das mümmelnde Kind ein Stückchen Apfel am Kinn, und der angemümmelte Apfel steht eine halbe Stunde lang auf dem Tischchen im Sprüngli, wo auch mein Kaffee drauf steht, der erste, der wichtigste Kaffee des Tages, und der Apfel riecht mich an, er wird langsam braun, und ich kann nichts tun und sitze paralysiert, schockiert neben dem langsam kalt werdenden Kaffee und dem langsam braun werdenden Apfel und dem langsam mümmelnden Kind, und als es fertig gemümmelt hat bis auf das Stückchen an seinem Kinn, nimmt die Mutter den angemümmelten, braun gewordenen Klasse-C-Apfel und mümmelt noch ein weiteres Stück raus, um es ihrem apfelmatsch-greinenden Balg in den Mund zu stecken, und in meinem Kopf hämmert nur «Was soll ich tun – was soll ich tun?», und mit der Kraft der Verzweifelten springe ich irgendwann auf und renne weinend aus dem Sprüngli, nicht ohne natürlich fünf Franken für den kalt gewordenen Kaffee auf den Tresen zu werfen, und Sie mögen denken, ich übertreibe, und da haben Sie Recht, aber mein Gott, es war einfach schrecklich.
Michèle Roten E-Mail: verlag@toaster.ch
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