Transkript
Editorial
Nahrungsmittelallergien im Vormarsch?
Sloan and Power veröffentlichten 1986 eine Umfrage bei 200 Frauen; demnach berichteten 30 Prozent der Befragten, dass sie selber oder ein Familienmitglied unter einer Nahrungsmittelallergie leiden; 10 Prozent gaben an, dass mindestens ein Familienmitglied deswegen unter einer Diät stehe. Noch höher steigt dieser Prozentsatz bei speziellen Patientenkollektiven: So versuchen 60 Prozent der Asthmatiker, ihre Diät zu modifizieren, und 65 Prozent der Patienten mit einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung glauben, an einer Nahrungsmittelallergie zu leiden.
Dass viel mehr Menschen der Überzeugung sind, unter einer Nahrungsmittelallergie zu leiden, als dies tatsächlich der Fall ist, zeigt auch eine kürzlich veröffentlichte Studie, die die Prävalenz von Nahrungsmittelallergien bei Kindern und Jugendlichen (0–17 Jahre) unter 13 300 Einwohnern von Berlin untersuchte. Die Bewohner wurden schriftlich mit Fragebogen sowie durch Telefoninterviews über Nahrungsmittelunverträglichkeiten befragt. Es erfolgte dann eine Abklärung mittels Hauttests, In-vitro-Bestimmungen von Nahrungsmittel-spezifischem IgE und Nahrungsmittelprovokationen. Insgesamt konnten umfassende Daten
von 739 Personen erhoben werden. 61 Prozent dieser Gruppe beschrieben, dass sie unter Nahrungsmittel-abhängigen Beschwerden leiden. 184 Individuen wurden vollständig abgeklärt. 3,5 Prozent der untersuchten Kinder litten in der Tat unter einer Nahrungsmittelallergie, 0,7 Prozent unter einer nichtallergischen Hypersensitivität (Intoleranz). Diese Studie zeigt, dass Nahrungsmittelunverträglichkeiten, die vom Patienten selbst diagnostiziert werden, in zirka 10 Prozent verifiziert werden können. Auch wenn die Prävalenz für Nahrungsmittelallergie im Allgemeinen überschätzt wird, sehen wir doch während der letzten Jahre eine deutliche Zunahme.
Heute geht man davon aus, dass etwa 2–4 Prozent der erwachsenen Bevölkerung und 8 Prozent der Kinder von einer Nahrungsmittelallergie betroffen sind und nicht jedes Nahrungsmittel uneingeschränkt konsumieren können. Leider fehlen dazu zurzeit noch umfassende epidemiologische Studien. Am häufigsten entwickeln Kleinkinder eine Nahrungsmittelallergie, verlieren diese aber oft wieder bis zum dritten Lebensjahr. In diesem Zeitraum hat das kindliche Immunsystem gelernt, Fremdeiweisse, die mit der
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Editorial
Nahrung zugeführt werden und in den Magen-DarmTrakt gelangen, zu akzeptieren und nicht mehr allergisch gegen diese Nahrungsmittelbestandteile zu reagieren. Bei Vorliegen einer Allergie auf Erdnüsse, Baumnüsse, Fisch und Meeresfrüchte tritt eine Toleranz allerdings nur selten ein.
Aufgrund der Fähigkeit des Immunsystems, Fremdeiweisse zu tolerieren, entwickeln erwachsene Menschen nur sehr selten eine Nahrungsmittelallergie über den Magen-Darm-Trakt. Trotzdem leiden gerade erwachsene Patienten mit Heuschnupfen mit zunehmender Häufigkeit unter einer Nahrungsmittelallergie, da sich ähnlich strukturierte Proteine in Pollen und pflanzlichen Nahrungsmitteln befinden.
In der Schweiz wird seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine starke Zunahme der Prävalenz für Heuschnupfen verzeichnet. Heute leiden zirka 15 Prozent der Bevölkerung unter dieser Krankheit. Parallel dazu beobachten wir auch eine Zunahme der pollenassoziierten Nahrungsmittelallergie. Dass Nahrungsmittelallergien im Allgemeinen sowie schwere allergische Reaktionen im Besonderen signifikant zunehmen, wurde kürzlich in einer britischen Untersuchung gezeigt, in der Spitalstatistiken der letzten Jahre verglichen wurden. Demnach nahm die Anzahl allergischer Nahrungsmittelreaktionen, die stationär behandelt werden mussten, im Zeitraum von 1990 bis 2000 um einen Faktor von über 5 zu.
Zudem verschiebt sich das Spektrum der verantwortlichen allergenen Nahrungsmittel entsprechend der sich verändernden Essgewohnheiten. Infolge einer «Amerikanisierung» der Diät in Grossbritannien wurde dort eine starke Zunahme von Erdnussallergien verzeichnet. Heute leidet bereits jeder 200. Brite unter einer Erdnussallergie; in den USA sind 1,1 Prozent der Bevölkerung betroffen.
Für die Zukunft wird es darum gehen, gute präventive Strategien zu entwickeln. Ein wichtiger Punkt ist dabei eine adäquate Deklaration der Zusammensetzung industriell gefertigter Produkte, insbesondere von Verunreinigungen. Dabei ist eine gute Kooperation zwischen Gesetzgeber, Industrie und Klinikern gefragt. Erst wenn gute Studien vorliegen, die die minimale Allergie-auslösende Dosis eines allergenen Nahrungsmittels bestimmen, können Gesetzgeber und Industrie entsprechend handeln.
PD Dr. med. Barbara K. Ballmer-Weber Allergiestation
Dermatologische Klinik UniversitätsSpital Zürich
Gloriastr. 31 8091 Zürich
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