Transkript
Kongressbericht
SVDE-Kongress «Ernährung und Psyche»
Essen ist mehr als nur Sättigen
Mit «Ernährung und Psyche» beschäf-
tigte sich der Jahreskongress 2004
des Schweizerischen Verbandes dipl.
ErnährungsberaterInnen SVDE, der
Anfang April in Fribourg stattfand.
Geboten wurden zahlreiche interes-
sante Referate zu beratungsrelevanten
Themen, unter anderem zur Ortho-
rexie, zu den Auswirkungen von Ess-
störungen auf die Zahngesundheit,
aber auch zu den kulturellen Hinter-
gründen des Essverhaltens und ihrer
Relevanz bei der Ernährungsberatung.
Annette Matzke
Wie sehr der kulturelle Hintergrund das Ernährungsverhalten beeinflusst, zeigte Dr. Claude Fischler, Forschungsdirektor am Centre national de la recherche scientifique (CNRS), Paris/F, in seinem humorvollen und lebhaften Vortrag anhand von ländervergleichenden Studien. Während Essen für die Franzosen zum Beispiel ein fester sozialer Bestandteil ist, der stark mit Geselligkeit verknüpft wird, orientieren sich US-Amerikaner mehr an Ernährungsempfehlungen, wollen gesunde Nahrung zu sich nehmen, empfinden aber weniger Vergnügen beim Essen. Wenn das Ernährungsverhalten erfolgreich beeinflusst werden soll, müssen das soziale Umfeld und die Einstellung zum Essen ermittelt und berücksichtigt werden, sodass sich der Einzelne angesprochen fühlt und sein Ernährungsverhalten auch ändern mag.
Orthorexie: Besessen vom
gesunden Essen
Von einem für Ernährungsberaterinnen nicht unbekannten, aber eher wenig diskutierten Thema berichtete Rolf Degen (M.A., Psychologe und Wissenschaftsjournalist, Bonn/D): Orthorexia nervosa – die übersteigerte Fixierung auf gesunde Ernährung, ein Zustand, in dem Essen zum Lebenszweck wird. Diese Krankheit ist noch nicht wissenschaftlich anerkannt, wird kaum wahrgenommen, und somit existieren dazu keine epidemiologischen Daten. Rolf Degen zitiert den Amerikaner Stratman, der Orthorexie überwiegend bei Frauen aus oberen Bildungsschichten beobachtet hat. Orthorexie kann zum Beispiel durch das Erleben einer akuten oder chronischen Krankheit, Lebensmittelskandale, Ernährungsempfehlungen oder durch den Wunsch nach Gewichtsverlust ausgelöst werden. Hinter dem zwanghaften Ernährungsverhalten («Ich esse nur Lebensmittel aus dem Reformhaus und Bioladen. Alles andere macht mich krank.» – «Ich brauche täglich mein XYZ, damit es mir gut geht.») stecken Motive, wie die Illusion totaler Sicherheit, der Wunsch, alles zu kontrollieren, oder die Suche nach «Spiritualität», und vieles mehr. So schaffen sich Orthorektiker eine eigene Welt. Die Folgen können verheerend sein: Depression, rigides Alles-oder-NichtsDenken, Schuldgefühle, Mangelernährung, soziale Mangelerscheinungen. In diese zwanghaften Verhaltensmuster sollte eingegriffen werden, wenn sie die Gesundheit gefährden und/ oder emotionale Störungen auslösen. Dabei sollte Verständnis für die Diätmotive aufgebracht werden und die Person behutsam zu einer gemässigten Ernährung zurückgeführt werden.
Essstörungen und
Zahngesundheit
Essstörungen wirken sich auch auf die Zahngesundheit aus, wie Dr. med. dent. Hans Frey, Langenthal, in seinen Ausführungen berichtete. Wenn viel
und vor allem häufig Lebensmittel mit niedermolekularen Kohlenhydraten verzehrt werden, fördert dies die Entwicklung von Karies. Dies ist der Fall bei BulimikerInnen. Da diese Personen ausserdem bevorzugt säurehaltige Getränke konsumieren und das Essen häufig erbrechen, kommt noch die Wirkung der Fruchtsäuren und der Magensäure auf den Zahnschmelz hinzu. Die Säuren lösen die Zahnhartsubstanz auf, und es kommt zu Erosionen und zum Rückgang der Zahnhöhe. Bei Personen mit Anorexia nervosa sieht es etwas anders aus: Erosionen an der Zahnaussenseite durch säurehaltige Getränke, Salate und Früchte; Zahnfleischrückgang (Rezensionen) durch gute, aber technisch falsche Zahnpflege. Dr. Frey beschrieb, wie eine optimale Zahnpflege und Mundhygiene aussehen könnte, und betonte, dass sich eine Zahnsanierung bei Personen mit Essstörungen erst dann lohnt, wenn die Essstörung unter Kontrolle ist. Er wünscht sich eine verstärkte Zusammenarbeit mit ErnährungsberaterInnen und das Durchführen einheitlicher Ernährungsempfehlungen. Unter Zahnärzten ist das Problem noch nicht ausreichend bekannt. Dr. Frey regt an, PatientenInnen mit Essstörungen nach ihrem Zahnarzt zu fragen, um diesen auf mögliche Zahnprobleme seines/r PatientIn aufmerksam zu machen. Auf diese Weise wird der Zahnarzt informiert und für das Thema sensibilisiert.
I
Autorin: Dr.oec.troph. Annette Matzke Redaktion Ernährungs-Info Thun
Auskünfte: Geschäftsstelle SVDE ASDD Stadthof, Bahnhofstr. 7b, 6210 Sursee Tel. 041-926 0797 Internet: www.svde.ch, www.asdd.ch
Siehe dazu Beitrag von Frau Prof. Dr. Elisabeth Ardelt-Gattinger zu «Die Ressourcen der Psychologie in der Behandlung von Übergewicht und Adipositas», gehalten am SVDE-Jahreskongress 2004, Seite 38.
42 Nr. 3 • 2004