Transkript
Ernährung und Alter
Vitamin D stärkt nicht nur die Knochen
Vitamin D wurde bisher vorwiegend
als «Knochen-Vitamin» gesehen. In
dieser klassischen Rolle fördert Vit-
amin D die Knochengesundheit bei
jüngeren und älteren Erwachsenen
(1, 2) und verhindert Frakturen bei
älteren Personen (2–4).
Heike A. Bischoff-Ferrari1, 2 und Hannes B. Stähelin3
In neueren Studien wird die Rolle von Vitamin D in der Muskelkrafterhaltung und Sturzverminderung hervorgestellt. Ein solcher Effekt ist von grossem klinischem Interesse, weil Vitamin D dadurch ein einmaliges Wirkungsprinzip vorgibt, nämlich die kombinierte Verminderung von Stürzen und Frakturen. Zudem ist Vitamin D (Cholecalciferol) kostengünstig und sehr gut verträglich, sodass eine generelle Empfehlung sinnvoll erscheint und möglich wird.
In dieser Übersicht diskutieren wir vorwiegend die Anti-Sturzwirkung von Vitamin D. Ausserdem fassen wir die Ergebnisse von Doppelblindstudien zusammen, die den Effekt von Vitamin D auf das Frakturrisiko älterer Personen untersucht haben.
Epidemiologie Vitamin-DMangel und Stürze
Vitamin-D-Mangel und Stürze sind bei älteren Personen weit verbreitet (9–11). Suboptimale/verminderte Vitamin-D-Spiegel (weniger als 80 nmol/ l,32 ng/ml [1, 5–7]) finden sich bei mehr als 67 Prozent der ambulanten älteren Bevölkerung in den USA (1, 8) und bei 66 Prozent der ambulanten
1Division of Rheumatology, Immunology and Allergy, The Robert B. Brigham, Arthritis and Musculoskeletal Diseases Clinical Research Center, and 2Division of Aging, Brigham and Women’s Hospital, Boston, MA, USA 3Geriatrische Universitätsklinik Basel
älteren Bevölkerung in der Schweiz (Erhebung im Sommer [9]).
Insgesamt stürzen 30 Prozent aller ambulanten und 50 Prozent aller institutionalisierten 65-jährigen Personen einmal pro Jahr (10). Die Häufigkeit steigt um 10 Prozent pro Lebensdekade. Die Konsequenzen sind schwerwiegend: 40 Prozent aller Altersheimeintritte sind auf einen Sturz zurückzuführen, und 5 bis 6 Prozent aller Stürze führen zu einer Fraktur (10). Ausserdem birgt jedes Sturzereignis das Risiko einer Mobilitätseinschränkung und ruft eine zunehmende Angst bei den Betroffenen hervor (11, 12). Wie aus verschiedenen Studien hervorgeht, sind Stürze multifaktoriell bedingt, jedoch nehmen muskuloskeletale Faktoren einen wichtigen Rang ein (13, 14).
Fraktur-Prävention durch
Vitamin D
Vitamin D fördert die Kalziumaufnahme aus dem Darm und erleichtert den Kalziumeinbau in den Knochen. Dadurch kommt es zu einer Zunahme der Knochendichte und einer Verminderung des Frakturrisikos (2). Eine kombinierte Vitamin-D (700 [2]– 800 IU [3]/Tag)- und Kalzium (500 [2]–1200 [3] mg/Tag)-Supplementation führte in zwei randomisierten Doppelblindstudien zu einer deutlichen, 43- bis 58-prozentigen Verminderung der nichtvertebralen Frakturen bei ambulanten älteren Personen in Amerika (2) und Frankreich (3). Ebenso führte eine reine Vitamin-DSupplementation (800 IU/Tag) in einer britischen Studie zu einer 33-prozentigen Abnahme des kombinierten Frakturrisikos von Hüfte, Radius und Wirbelkörper bei ambulanten älteren Personen (4). Hingegen ohne Erfolg hinsichtlich einer Verminderung des Frakturrisikos waren Studien, die Vitamin D in einer geringeren Dosierung (400 IU/Tag) und ohne Kalzium gegeben haben (15, 16). Basierend auf den bisherigen Doppelblind-Studien scheint der Anti-Fraktureffekt von Vitamin D dosisabhängig ab zirka 700 IU pro Tag aufzutreten. Eine Dosis von nur 400 IU ohne Kalzium ist nicht aus-
reichend für einen Anti-Fraktureffekt von Vitamin D.
Zusammenhang Vitamin D
und Muskelkraft
Verschiedene Querschnittsstudien weisen auf einen positiven Zusammenhang zwischen Vitamin D und Muskelkraft (17) und -funktion (18) hin. In einer eigenen Querschnittsstudie waren höhere 1,25-Dihydroxyvitamin-DSerumspiegel bei gesunden älteren Männern und Frauen aus Basel mit einer verbesserten Beinextensionskraft verbunden (17). In einer anderen Querschnittsstudie bei hospitalisierten und ambulanten älteren Personen in Norwegen waren höhere 25-Hydroxyvitamin-D-Serumspiegel mit einer besseren Armkraft und einer höheren physischen Aktivität korreliert (18). Ausserdem konnten Personen mit höheren 25-Hydroxyvitamin-D-Spiegeln besser Treppen steigen und hatten weniger Sturzereignisse (18). Ebenso wurden in einer australischen Studie verminderte 25-Hydroxyvitamin-DSerumspiegel bei älteren Personen dokumentiert, die einen Sturz erlitten hatten (19).
Zwei randomisierte Doppelblindstudien bestätigen die beschriebenen Querschnittsresultate und weisen auf einen kausalen Zusammenhang zwischen Vitamin D und Muskelkraft/ Gleichgewicht hin. Bei ambulanten älteren Frauen in Deutschland führte eine zweimonatige Therapie mit Vitamin D (800 IU) plus Kalzium (1200 mg/Tag) zu einer signifikanten 9-prozentigen Verbesserung des Gleichgewichts im Stehen im Vergleich zu einer Kalzium-Monotherapie (1200 mg/Tag [20]). In der Vitamin-D-behandelten Gruppe nahm das Serum 25-Hydroxyvitamin D von 25,7 nmol/l (SD + 13,6) auf 40,5 nmol/l (SD + 27,0) zu. Die Autoren dokumentieren zudem in einer unkontrollierten einjährigen Fortsetzungsstudie signifikant weniger Sturzereignisse in der Gruppe, die initial Vitamin D erhalten hatte (20).
In unserer randomisierten Doppelblindstudie bei älteren Frauen in der Langzeitpflege in Basel wurde Vitamin D (800 IU/Tag) plus Kalzium (1200
4 Nr. 3 • 2004
Ernährung und Alter
kräftigt, welche unter einer Therapie mit 1-alpha-Hydroxyvitamin D über drei Monate eine Zunahme der Anzahl und des Durchmessers der Typ-IIschnellen-Muskelfasern bei älteren Frauen mit einer diagnostizierten Osteoporose feststellte (26). Zudem dokumentierten die Autoren eine Verbesserung der Muskelfunktion (time to dress [26]).
Anti-Sturzeffekt von Vitamin D
Abbildung 1: Sturzwahrscheinlichkeit mit und ohne Vitamin D
Adapiert von Bischoff HA et al., JBMR 2003 (Basler Vitamin-D-Trial [21]). Gezeigt wird die Wahrscheinlichkeit, unter den zwei Therapieformen (Vitamin D plus Kalzium = Cal + D; oder KalziumMono = Cal) nie oder einmal oder mehrfach zu stürzen.
mg/Tag) gegen Kalzium (1200 mg/ Tag) über drei Monate hinsichtlich Sturzrisiko und muskuloskeletaler Funktion verglichen (21). In der Gruppe, die Vitamin D plus Kalzium erhielt, zeigte sich innerhalb von drei Monaten eine 49-prozentige Reduktion des Sturzrisikos (95% Konfidenz-Intervall [14%; 71%]; p < 0,01) im Vergleich zur Gruppe, die nur Kalzium einnahm, wobei das 25-Hydroxyvitamin D in der Vitamin-D-Gruppe von 41,0 nmol/l (SD + 25,5) auf 65,0 nmol/l (SD + 23,8) anstieg. Es lag also im Mittel immer noch im suboptimalen Bereich, wenn auch signifikant höher. Die Gruppe, die Vitamin D erhielt, hatte eine geringere Wahrscheinlichkeit, einmal oder mehrfach zu stürzen (Abbildung 1). Die positive Wirkung von Vitamin D auf das Sturzrisiko konnte zudem durch eine Verbesserung der muskuloskeletalen Funktion erklärt werden. Im Vergleich zur Basisuntersuchung vor Therapiebeginn verbesserten sich in der Vitamin-D-Gruppe verschiedene Kraftund Funktionsparameter zwischen 4 und 11 Prozent (Griffkraft, Knie-Extensionskraft, Knie-Flexionskraft und der Timed Up & Go Test; p = 0,009 [21]). neueren Studie nicht nur die VDR-Expression in humanem Skelettmuskel nachgewiesen (24), sondern auch gezeigt, dass die Anzahl der VDR-positiven Zellkerne mit zunehmendem Alter abnimmt (25). Letztere Beobachtung könnte einen Teil der altersassoziierten Sarkopenie erklären, doch sollte ein solcher Zusammenhang in zukünftigen Interventionsstudien evaluiert werden. Hinsichtlich dem zugrunde liegenden Wirkungsmechanismus wird angenommen, dass Vitamin D, neben einer Rezeptor-unabhängigen Begünstigung des Kalziumeinstromes in die Muskelfaser, durch eine direkte Bindung an den spezifischen intrazellulären Rezeptor eine Förderung der Proteinsynthese bewirkt (22). Letzteres wird durch eine Studie von Sørensen be- Der oben beschriebene Anti-Fraktureffekt von Vitamin D wurde primär der unter Vitamin D massig erhöhten Knochendichte zugeschrieben (2, 27–30). Eine alternative oder zusätzliche Erklärung könnte sein, dass Vitamin D die Muskelkraft stärkt und Frakturen durch eine Reduktion der Sturzrate vermindert (21, 22, 26, 31–33). Diese Hypothese ist einleuchtend, da eine proximale Muskelschwäche ein klassisches klinisches Zeichen des VitaminD-Mangels darstellt (22, 34). Wir haben diesbezüglich eine Metaanalyse randomisierter Doppelblindstudien durchgeführt (35). Voraussetzung für den Einschluss einer Studie war, dass Vitamin D oder ein Vitamin-DAnalog untersucht wurde und dass Stürze systematisch erfasst wurden. In dieser Metaanalyse, basierend auf fünf randomisierten Doppelblindstudien (n = 1237), reduzierte Vitamin D das Sturzrisiko einer älteren Person um 22 Prozent (gepoolte und korrigierte Odds Ratio = 0,78; 95%-KI [0,64, 0,92]) im Vergleich zu Plazebo oder Kalzium (20, 21, 36–38), siehe Abbildung 2. Die «Number needed to treat» (NNT) war 15 (95%-KI: 8; 53), was be- Funktionsmechanismus Vitamin D/Muskelkraft Vitamin D bindet in seiner aktiven Form, dem 1,25-Dihydroxyvitamin D, an den nukleären Vitamin-D-Rezeptor (VDR), dessen muskuläre Expression in verschiedenen Studien gezeigt wurde (22–24). Wir haben in einer Abbildung 2: Effekt von Vitamin D auf Sturzereignis: eine Metaanalyse Adaptiert von Bischoff-Ferrari HA, JAMA 2004 [35]. Die Abbildung zeigt den Forrest Plot der beschriebenen Metaanalyse. Die Grösse der Kästchen korreliert mit der Grösse der jeweiligen Studie, und die horizontale Linie durch das Kästchen zeigt das 95%-Konfidenz-Intervall. Eingeschlossen wurden die randomisierten Doppelblindstudien von Pfeifer et al. (800 IU Cholecalciferol plus 1200 mg Kalzium gegen 1200 mg Kalzium [20]), Bischoff et al. (800 IU Cholecalciferol plus 1200 mg Kalzium pro Tag gegen 1200 mg Kalzium pro Tag [21]), Gallagher et al. (0,5 µg 1,25dihydroxyvitamin D gegen Plazebo [36]), Dukas et al. (1µg 1-alpha-Calcidiol gegen Plazebo [37]) und Graafmans et al. (400 IU Cholecalciferol gegen Plazebo [38]). Die gepoolte und korrigierte Odds Ratio war 0,78; 95%-KI [0,64, 0,92]). Nr. 3 • 2004 5 deutet, dass 15 Personen therapiert werden müssten, um 1 Person vor einem Sturz zu bewahren. Die Subgruppen-Analyse der Metaanalyse ergab, dass die Risikoreduktion durch Vitamin D unabhängig von der Art des Vitamin D (Cholecalciferol, 1-alpha-Calcidiol, 1,25-Dihydroxyvitamin D), von der Dauer der Therapie und vom Geschlecht war. Ähnlich wie bei den Frakturstudien allerdings schien die Dosierung von Cholecalciferol von Wichtigkeit zu sein. In einer Studie, die nur 400 IU Vitamin D untersuchte, kam es zu keiner Sturzreduktion (38), während in zwei Studien, die 800 IU Vitamin D plus Kalzium (1200 mg/Tag) testeten, eine Verminderung des Sturzrisikos auftrat (20, 21) (gepoolte und korrigierte Odds Ratio = 0,65; 95%-KI [0,40, 1,00] [35]). Zusammenfassung Vitamin D stärkt nicht nur die Kno- chen, sondern kräftigt die Muskulatur und reduziert das Sturzrisiko älterer Personen. Der Effekt auf die Muskula- tur und das Sturzrisiko tritt bereits nach wenigen Monaten ein (20, 21), was wahrscheinlich den frühen Anti- fraktureffekt von Vitamin D erklärt (2, 3). Da ein Grossteil der älteren Bevöl- kerung, ambulant und institutionali- sert, suboptimale Vitamin-D-Spiegel aufweist, ist eine generelle Supplemen- tation sinnvoll. Eine derartige Empfeh- lung ist möglich, da Vitamin D (Chole- calciferol) kostengünstig und gut verträglich ist. Die Ergebnisse der Dop- pelblindstudien machen jedoch deut- lich, dass die Dosierung nicht nur 400 IU Vitamin D pro Tag, sondern mindes- tens 800 IU Vitamin D pro Tag betra- gen sollte, um eine Wirkung hinsicht- lich Sturz- und Frakturreduktion zu erzielen. Eine Kombination mit Kal- zium ist wahrscheinlich wichtig, wobei die Dosierung von der individuellen Ernährung abhängt. Personen mit ei- ner kalziumreichen Ernährung (1000 mg/ Tag) können auf eine zusätzliche Supplementation verzichten. Basie- rend auf den beschriebenen Fraktur- studien sollte ein Serumwert für 25-Hy- droxyvitamin D von 80–110 nmol/l (32–44 ng/ml) angestrebt werden (2–4). Dieser Bereich scheint ebenfalls für eine optimale Muskelfunktion von Vorteil (8). I Korrespondenz an: Dr. Heike A. Bischoff-Ferrari, M.D., M.P.H. Instructor and Associate Epidemiologist Dept. of Medicine, Harvard Medical School 6 Nr. 3 • 2004 Ernährung und Alter Division of Rheumatology, Immunology and Allergy, The Robert B. 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