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Dyslipidämie bei alten Menschen
Behandeln oder nicht?
Während in der Sekundärprophylaxe die Lipidmessung und der Beginn einer Statintherapie bei Patienten über 75 Jahre zur Verhinderung weiterer kardiovaskulärer Ereignisse unumstritten sind, werden diese Massnahmen in der Primärprophylaxe kontrovers diskutiert. Prof. Nicolas Rodondi, Chefarzt Universitätsklinik und Poliklinik für Allgemeine Innere Medizin, Inselspital Bern, und Direktor des Berner Instituts für Hausarztmedizin, sowie Prof. Jürg Hans Beer, Departementsleiter Innere Medizin am Kantonsspital Baden und Past-President der Arbeitsgemeinschaft Lipide und Atherosklerose (AGLA), erklärten am SGAIM-Kongress das Vorgehen aus ihrer Sicht.
Bei > 75-jährigen Patienten ohne kardiovaskuläre Erkrankung empfiehlt die Schweizerische Gesellschaft für Allgemeine und Innere Medizin mit «smarter medicine» keine Messung und Neubehandlung von Dyslipidämien. Denn die aktuellen Daten würden zeigen, dass diese Massnahmen bei > 75-jährigen Personen ohne kardiovaskuläre Erkrankung bei einer Behandlung mit Statinen kardiovaskuläre Ereignisse oder den Tod nicht verhinderten, so die Begründung dieser Empfehlung (1). Die AGLA sieht die Dinge etwas anders und hat daraufhin ein differenziertes Gegenstatement publiziert, das auf ihrer Homepage www.agla.ch nachgelesen werden kann.
Vorgehen in der Praxis Gemäss Rodondi sollen bei einem > 75-jährigen Patienten, der sich mit erhöhten Lipidwerten in der Hausarztpraxis vorstellt, aber an keiner kardiovaskulären Erkrankung leidet, als Erstes sekundäre oder familiäre Ursachen gesucht werden. Sekundäre Dyslipidämien können beispielsweise Folge einer Hypothyreose, von Typ-2-Diabetes mellitus, Alkoholabusus, Adipositas oder auch von Medikamenten sein. Von diesen Ursachen
Fotos zVg
Prof. Nicolas Rodondi
Prof. Jürg Hans Beer
gelten Typ-2-Diabetes und Adipositas auch als kardiovaskuläre Risikofaktoren (2). Mit einer Behandlung dieser sekundären Ursachen kann möglicherweise die Dyslipidämie behoben werden. Ergibt die Anamnese, dass eine familiäre Dyslipidämie vorliegen könnte, muss diese abgeklärt werden. Warnsignale dafür sind kardiovaskuläre Ereignisse bei nahen Verwandten in jungem Alter, Sehnen- oder Hautxanthome, ein Gesamtcholesterin > 7 mmol/l, ein LDL-Cholesterin (LDL-C) > 5 mmol/l und/oder Triglyzeride > 5 mmol/l. Die Diagnose allein auf einen erhöhten LDL-C-Wert > 5 abzustellen, ist aber zu kurz gegriffen, denn der positive Vorhersagewert für eine familiäre Hypercholesterinämie (FH) beträgt bei diesem Spiegel gemäss einer dänischen Studie lediglich 11 Prozent (3). Weil über 10 Prozent der älteren Bevölkerung einen LDL-C-Wert von > 5 mmol/l aufwiesen, aber nur 0,5 Prozent von ihnen tatsächlich an einer FH litten (4), sollte die Diagnose FH bestätigt werden, zum Beispiel durch einen Lipidologen, so Rodondi. Die familiäre Dyslipidämie ist mit einer Prävalenz von 1 bis 2 Prozent nicht so selten, gehört aber zu den auslösenden Faktoren kardiovaskulärer Erkrankungen (2). Sie wird mehrheitlich nicht oder zu spät erkannt. Sind sekundäre oder familiäre Ursachen für die hohen LDL-C-Werte ausgeschlossen, muss das kardiovaskuläre Risiko geschätzt werden. Das geschieht beispielsweise mit dem AGLA-RisikoScore, anhand der Parameter LDL-C, HDL, Triglyzeride, Raucherstatus, systolischer Blutdruck, kardiovaskuläre Ereignisse in der Familie und Typ2-Diabetes (5). Bei Patienten ohne kardiovaskuläre Erkrankung mit einem moderaten Risiko be-
steht ein absolutes Risiko von 10 bis 20 Prozent, innerhalb von 10 Jahren ein tödliches Koronarereignis oder einen nicht tödlichen Herzinfarkt zu erleiden, bei Patienten mit tiefem Risiko liegt es bei < 10 Prozent (5). Für beide Gruppen sind zur Lipidsenkung Lebensstilmassnahmen empfohlen, in der Gruppe mit moderatem Risiko kann eine Statinbehandlung erwogen werden (5). Der AGLAScore berücksichtigt Patienten bis zum Alter von 75 Jahren (5), basiert aber gemäss Rodondi auf Daten von ≤ 65-jährigen Patienten.
Bis zu welchem Alter? Wo also liegt die Altersgrenze für eine primärpräventive Lipidsenkertherapie? Eine mögliche Antwort findet sich, gemäss Rodondi, in der PROSPER-Studie mit Pravastatin mit Teilnehmern im Alter von 70 bis 82 Jahre. Darin profitierten jene mit kardiovaskulärer Erkrankung nach 3,2 Jahren Therapie deutlicher vom Statin, jene ohne kardiovaskuläre Erkrankung hatten keine Vorteile (6), so Rodondi. Des Weiteren zeigte eine Metaanalyse über 28 Statinstudien mit verschiedenen Altersgruppen in der Subgruppe der > 75-Jährigen ohne vaskuläre Erkrankung keinen Nutzen einer Statinbehandlung im Vergleich zu den jüngeren Studienteilnehmern (7). Angesichts der muskulären Nebenwirkungen, die Statine induzieren können, ist deren Einsatz wie bei allen Medikamenten sorgfältig zu überlegen, insbesondere bei einer häufig multimorbiden Altersgruppe. Risikofaktoren für Nebenwirkungen vor allem in den ersten 3 Monaten sind gemäss Rodondi hohe Dosis, hohes Alter (Nierenversagen, Hepatopathie), chronische Erkrankungen, Komedikationen mit CYP450-3A4-Inhibitoren und anderen Lipidsenkern (Niacin, Fibrate).
Statine absetzen? Sollen Statine bei > 75-Jährigen ohne kardiovaskuläre Erkrankung abgesetzt werden? Eine retrospektive Kohortenstudie untersuchte den kardiovaskulären Effekt eines Therapiestopps in dieser Altersgruppe. Es zeigte sich, dass ein Absetzen
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das kardiovaskulär bedingte Hospitalisierungsrisiko im Vergleich zu jenen, die die Statintherapie fortgesetzt hatten, um 33 Prozent ansteigen liess (8). Um jedoch genau sagen zu können, ob die Therapie fortgesetzt werden soll oder abgesetzt werden kann, brauche es eine randomisierte Studie, so Rodondi. Eine solche ist als Investigator Initated Clinical Trial unter dem Namen STREAM75 momentan unter der Leitung von Rodondi in der Schweiz im Gang, diese wird vom Schweizerischen Nationalfonds finanziert. Klare Aussagen zu kardiovaskulären Konsequenzen eines Statinstopps vs. Fortsetzung, Nebenwirkungen und Lebensqualität sollten damit nach Studienende getroffen werden können, so Studienleiter Rodondi abschliessend. Die Nachbeobachtungszeit ist auf 12 bis 45 Monate angesetzt.
Sekundärprävention: Ältere profitieren mehr von einer Senkung Die Evidenz einer Lipidsenkung bei älteren Personen mit kardiovaskulärer Erkrankung ist hingegen gemäss Beer, Past-Präsident der AGLA, gut belegt. In einem systematischen Review mit Metaanalyse wurden 29 (n = 244 090) randomisiert kontrollierte, klinische kardiovaskuläre Outcomestudien berücksichtigt, die Patienten ≥ 75 Jahre (n = 21 492) eingeschlossen hatten. Über 11 000 davon stammten aus Statinstudien, über 6000 aus Studien mit Ezetimibe und über 3500 aus Studien mit PCSK9-Hemmern. Die Nachbeobachtungsdauer betrug zwischen 2 und 6 Jahren. Es zeigte sich, dass bei dieser Zielgruppe das Risiko für schwere kardiovaskuläre Ereignisse pro 1 mmol/l LDL-C-Reduktion signifikant im Vergleich
Kardiovaskuläres Risiko «wegmarschieren»
In der Praxis ist die Anpassung des Lebensstils gemäss Prof. Beer die erste Massnahme, und sie ist sehr wirksam. Beispielsweise sinkt einer amerikanischen Untersuchung zufolge die jährliche Mortalitätsrate mit der steigenden Anzahl Schritte: Bei 2000 Schritten liegt sie bei etwa 20 Prozent pro 1000 Erwachsenen ≥ 40 Jahre, ab 10 000 Schritten und mehr sinkt sie auf 5 Prozent (15). Bei ≥ 65-Jährigen liegt die Mortalitätsrate mit 2000 Schritten bei etwa 80 Prozent pro 1000, ab 8000 Schritten sinkt sie unter 20 Prozent. Frauen müssen für den gleichen Effekt sogar 2000 Schritte pro Tag weniger gehen (16).
zur Kontrollgruppe um 26 Prozent sinkt (relatives Risiko [RR]: 0,74; 95%-Konfidenzintervall [KI]: 0,61–0,89; p = 0,0019). Dabei kommt es nicht darauf an, ob das LDL-C mit einem Statin oder einem Nichtstatin gesenkt wurde. Der Nutzen zeigte sich für jeden Bestandteil des kombinierten Endpunkts inklusive kardiovaskulärer Tod, Myokardinfarkt und Koronarintervention. Bei den < 75-Jährigen war der Unterschied dagegen nicht signifikant (9). Die Guidelines der European Society of Cardiology (ESC) empfehlen deshalb eine Statintherapie bei > 75-jährigen Patienten mit etablierter kardiovaskulärer Erkrankung (10, 11). Auch die AGLA empfiehlt bei älteren Patienten mit kardiovaskulärer Erkrankung, das LDL-C mit Statinen zu senken. Bei nicht ausreichendem Effekt kann mit Ezetimibe und gegebenenfalls mit einem PCSK-9-Hemmer kombiniert werden (12).
Ohne Herzerkrankung Bei > 75-jährigen Patienten ohne kardiovaskuläre Vorerkrankung gibt es gemäss Beer ebenfalls bestechende Evidenz für eine präventive medikamentöse LDL-C-Senkung. In Fall von einzelnen Komponenten wie Ezetimibe, das oft Statinen hinzugegeben wird, wurde der Nutzen in der Primärprävention bei > 75-Jährigen zur Verhinderung von atherosklerotisch bedingten kardiovaskulären Erkrankungen (ASCVD) gemäss der EWTOPIA-Studie belegt. An dieser nahmen 3769 Personen ≥ 75 Jahre mit erhöhtem LDL-C, aber ohne ASCVD teil. In einem Zeitraum von 5 Jahren sank das ASCVD-Risiko unter Ezetimibe im Vergleich zur Kontrollgruppe mit Ernährungsratschlägen signifikant um 34 Prozent (Hazard Ratio [HR]: 0,66; 95%-KI: 0,50–0.86; p = 0,002) (13). Bei gesamthafter Betrachtung der randomisiert kontrollierten Statinstudien mit einem medianen Follow-up von 5 Jahren zeigt sich eine Reduktion des Risikos für die Entwicklung einer koronaren Herzerkrankung (KHK) bei etwa 20 Prozent pro 1 mmol/l Senkung (14). Doch ist nicht nur die Höhe der LDL-C-Exposition entscheidend für das KHKRisiko, sondern auch die Dauer der Exposition. Je früher deshalb mit der Senkung begonnen werde, desto grösser sei der Nutzen (15), so Beer. Bei > 75-jährigen Patienten ohne etablierte kardiovaskuläre Erkrankung, aber mit Risikofaktoren
wie Hypertonie, Rauchen, Diabetes und Dyslipi-
dämie empfehlen die ESC-Guidelines wie auch die
AGLA, ebenfalls eine Lipidsenkertherapie zu er-
wägen (10–12).
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Valérie Herzog
Quelle: «Dyslipidämie bei alten Menschen», Jahreskongress der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin, 19. bis 21. Mai 2021, virtuell.
Referenzen: 1. Trägerschaft «smarter medicine – choosing wisely switzerland». «smarter medicine»: weitere Top-5-Liste für die ambulante Allgemeine Innere Medizin. Schweizerische Ärztezeitung 2021; 102(17): 572-573. 2. Aubert CE et al.: Welche Therapie? Dyslipidämie in der Praxis. Prim Hospi Care 2017;17(13):250-253. 3. Benn M et al.: Familial hypercholesterolemia in the danish general population: prevalence, coronary artery disease, and cholesterol-lowering medication. J Clin Endocrinol Metab. 2012;97(11): 3956-3964. 4. Khera AV et al.: Diagnostic yield and clinical utility of sequencing familial hypercholesterolemia genes in patients with severe hypercholesterolemia. J Am Coll Cardiol. 2016;67(22):2578-2589. 5. AGLA: Prävention der Atherosklerose 2020, Fokus Dyslipidämie.www.agla.ch 6. Shepherd J et al.: Pravastatin in elderly individuals at risk of vascular disease (PROSPER): a randomised controlled trial. Lancet. 2002;360(9346):1623-1630. 7. Cholesterol treatment trialists’ collaboration: Efficacy and safety of statin therapy in older people: a meta-analysis of individual participant data from 28 randomised controlled trials. Lancet. 2019;393(10170):407-415. 8. Giral P et al.: Cardiovascular effect of discontinuing statins for primary prevention at the age of 75 years: a nationwide population-based cohort study in France. Eur Heart J. 2019;40(43):35163525. 9. Gencer B et al.: Efficacy and safety of lowering LDL cholesterol in older patients: a systematic review and meta-analysis of randomised controlled trials. Lancet. 2020;396(10263):1637-1643. 10. Catapano AL et al.: 2016 ESC/EAS Guidelines for the management of dyslipidaemias. Eur Heart J. 2016;37(39):2999-3058. 11. Mach F et al.: 2019 ESC/EAS Guidelines for the management of dyslipidaemias: lipid modification to reduce cardiovascular risk. 2020 Nov 21;41(44):4255. Eur Heart J. 2020;41(1):111-188. 12. Riesen WF et al.: Neue ESC/EAS-Dyslipidämie-Guidelines. Swiss Medical Forum 2020;20:140-148. 13. Ouchi Y et al.: Ezetimibe lipid-lowering trial on prevention of atherosclerotic cardiovascular disease in 75 or older (EWTOPIA 75): a randomized, controlled trial. Circulation. 2019;140(12):992-1003. 14. Ference BA et al.: Low-density lipoproteins cause atherosclerotic cardiovascular disease. 1. Evidence from genetic, epidemiologic, and clinical studies. A consensus statement from the European Atherosclerosis Society Consensus Panel. Eur Heart J. 2017;38(32):2459-2472. 15. Ference BA et al.: Effect of long-term exposure to lower lowdensity lipoprotein cholesterol beginning early in life on the risk of coronary heart disease: a Mendelian randomization analysis. J Am Coll Cardiol. 2012;60(25):2631-2639. 16. Saint-Maurice PF et al.: Association of daily step count and step intensity with mortality among US adults. JAMA. 2020;323(12):1151-1160.
Dieser Artikel erschien zuerst in CongressSelection SGAIM/KHM 2021. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung.
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