Transkript
Unser täglich Brot
Nostalgisch inszenierte Kunst am Teig
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Eine komplett eingerichtete, alte Bäckerei-Konditorei mit Holzofen und transmissionsbetriebenem Maschinenpark.
Das grösste Bäckerei/Konditorei/Confiserie-Museum der Schweiz liegt, abseits der Heerstrassen, in der Linthebene zwischen Walen- und Obersee, im sanktgallischen Benken, einen Katzensprung vom Linthkanal entfernt. Unter den Themenmuseen ist es Seele und Heimat einer der ältesten Berufsgattungen.
Die Vorgeschichte dieser historischen Dokumentation des täglichen Brotes ist speziell, eine Hefe-im-Teig-Story sozusagen, wobei die Hefe hier Liebe zum Beruf wenn nicht gar Leidenschaft für den Berufsstand heisst. Da hat einer seinen Traum wahr und seinen Berufsstolz sichtbar gemacht – nostalgisch-museal. Gegründet wurde das Bäckereimuseum 2005, erweitert im Winter 2018/19.
Von Heini Hofmann
Brot statt Käse Als einziges von den acht Kindern, die in der
Am Morgen, eh der Tag noch graut
Des Morgens, wenn die Erde taut
Müssen Bäcker wachen
Brot und Semmel machen
Dies wär’ eine schöne Kunst Hätten sie das Mehl
umsunst!
Benkner Käserei aufwuchsen, mochte klein Paul Wick den Käse nicht. Zudem überzeugte ihn sein Götti, der Dorfbeck von Benken, von der Wichtigkeit des Brotes als Grundnahrungsmittel. Also begann Paul 1960 in Richterswil die Lehre als Bäcker-Konditor. Anschliessend holte er sich während zehn Wanderjahren Erfahrung in verschiedensten Aushilfestellen im In- und Ausland, wobei er alle Sparten von Bäcker über Konditor und Confiseur bis zu Chocolatier kennen lernte. Damals wurde auch noch strenger unterschieden; die Konditoren waren die «Oberschicht» im Backstuben-
Berufsstand.
1971 galt es dann ernst: Paul Wick übernahm in der Rosen-
stadt Rapperswil eine Bäckerei-Konditorei im Einmann-
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betrieb, unterstützt von seiner Frau Marianne. Damals gab es – kaum zu glauben! – in Rapperswil und Jona noch ganze 16 Bäckereien und dazu drei Konditoreien. Heute, im fusionierten Rapperswil-Jona mit viel mehr Einwohnern, sind es nur noch 3 Betriebe, wobei die reinen Bäckereien ganz verschwunden sind.
Grosses Bäckereisterben Sein erster und bester Mitarbeiter damals – die alte Zeit vielseitiger handwerklicher Begabung lässt grüssen! – war Schuhmacher August Gübeli, Dorforiginal aus Jona. «Tagsüber», erinnert sich Paul Wick, «hat er ‹gschuhmächerlet›, nachts wog er bei mir den Teig ab». Die spassige Begrüssung bei Arbeitsantritt am Abend habe deshalb gelautet: «Wir machen zuerst Schwarzbrot, und dann, sobald deine Hände sauber sind, Weissbrot». Eine Episode, die an den Meistersinger und Dichter aus Nürnberg erinnert: «Hans Sachs war ein Schuh-/macher und Poet dazu»… Der Vorläufer der Wick’schen Bäckerei hatte sich früher in einer alten Liegenschaft nebenan befunden. Als diese baufällig wurde, suchte Paul Wick nach dem alten Holzbackofen – und fand ihn hinter einer Verputzwand. 1976 restaurierte er ihn liebevoll, womit ein alter Traum wahr wurde: Der erste Schritt in Richtung Bäckereimuseum war getan. Jetzt begann die Jagd auf weitere alte Bäckereiutensilien und -maschinen. Als passioniertem Grünrock lag ihm das erfolgreiche Ansprechen im Blut, und den Sammeltrieb hatte er schon seit der Lehre verspürt. Zudem war die Zeit seinem Unterfangen hold: Denn damals begann in der Schweiz das grosse Bäckereisterben, ein analoger Vorgang wie bei den Käsereien. Viele der zahlreichen Betriebe, die zu klein waren zum Überleben, gingen ein, so dass ständig alte Gegenstände anfielen, für die sich niemand mehr interessierte. 1992 eröffnete Paul Wick in Rapperswil ein kleines, handgestricktes Bäckereimuseum mit Besichtigung auf Voranmeldung. Weil die Nachfrage gross war und auch noch Sammelstücke vom Schweizerischen Archiv für Brot- und Gebäckkunde dazu kamen, drängte sich eine neue Lösung auf.
Ein Traum wird wahr Um sich ganz aufs Endziel des Sammlertraums – ein richtiges, öffentliches Bäckereimuseum samt Themenrestaurant – konzentrieren zu können, übergaben Paul und Marianne Wick ihr Geschäft in Rapperswil den Jungen und zogen nach Benken. Hier, in der ehemaligen elterlichen Käserei, liess sich der Wunschtraum verwirklichen – in Eigeninitiative und ohne Subventionen. Das Museum samt einem mit Bäckerutensilien drapierten Partyraum (80 Plätze) befindet sich im einstigen Schweine-
Interessiert lassen sich die Gäste im Partyraum des Museums von Paul Wick die alten Bäckereiutensilien und -maschinen erklären.
Roll- oder Wallhölzer für die Teigausbreitung.
Waffel- und Brezeleisen mit verschiedensten Ornamenten. – 27 –
stall, während das Restaurant «Brezelstube» mit «Ofenstübli» (gut 50 Plätze), «Bäckerstübli» (40 Plätze) und «Mürtschenstübli» (20 Plätze) in der ehemaligen Käserei platziert ist, ergänzt mit lauschiger Gartenwirtschaft und spassigem Kinderspielplatz mit Blick auf die Hausberge Speer und Mürtschen.
Antiquitäten und Raritäten Auf über 600 Quadratmetern Ausstellungsfläche finden sich Bäckereiutensilien aus vier Jahrhunderten (1550–1950). Als imposante Brocken präsentieren sich eine komplette Bäckerei-Konditorei mit transmissionsbetriebenem Maschinenpark, der in Aktion versetzt werden kann, sowie vier historische Ofenfronten, eine davon über hundert Jahre alt. Dabei lernt man die zwei Ofentypen kennen, den direkten (mit etwas umständlichem Feuern und Backen im gleichen Raum) und den indirekten (Feuern und Backen in getrennten Abteilen). Vorteil beim letzteren: Der Backraum wird nicht durch Russ und Asche beschmutzt und man kann ohne Unterbruch backen.
Wie zu Grossmutters Zeit
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Dann die diversen Maschinen in Bäckerblau: 15 verschiedene Misch-, Rühr- und Knetmaschinen (die älteste von 1903), 20 unterschiedliche Teigteilmaschinen (fürs Portionieren statt Abwägen des Teiges). Daneben Mehlsiebmaschinen, Teigausrollmaschinen, Maschinen fürs Reiben und Mahlen
Ein besonders rares Ausstellungsstück: Eine 150-jährige Glacemaschine, deren Kühlung auf einem Eis-Salz-Gemisch beruhte.
Weil Paul Wick viele Interessen und ein grosses Sammlerherz hat, wird das Bäcke-
reimuseum noch ergänzt durch eine Spezialausstellung über Wohnen und Arbeiten
vor hundert und mehr Jahren. Neben einer alten Küche, einer Wohnstube, einem Web-
stuhlraum, einem Büro mit Sekretär, einem Schlafzimmer mit Nachthafen und einer
Waschküche fehlt selbst ein Plumpsklo nicht.
Ferner sind zu bestaunen ein nostalgischer Lebensmittelladen, eine komplette Kondi-
torei-Einrichtung, dazu eine Müllerei, Mosterei, Schmiede, Kunstschlosserei und Laub-
sägewerkstatt. Zudem Preziosen wie eine Spielorgel, eine komplette Reitschule, über
100 Oldtimer-Modelle und drei Original-Oldtimer, ein Dodge Jahrgang 1924, ein Buick
von 1910 und – als besondere Rarität – ein De Dion Bouton Jahrgang 1899, notabene
alle fahrtüchtig.
Zudem besteht die Möglichkeit für Rösslifahrten (Kutschen à 4 oder Gesellschaftswa-
gen à 12 Plätze) oder ganz einfach zum Ausspannen am renaturierten Linthkanal. So
wird das Bäckerei-Eldorado in Benken zu einem umfassenden Retroerlebnis für alle
Alterskategorien, für Vereine, Seniorengruppen und Schulklassen. Ein Lokalpolitiker
bringt es auf den Punkt: «Brückenbauer Wick bringt jungen Leuten die Vergangenheit
näher und weckt bei älteren Erinnerungen.»
hh
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Als im Bäckereigewerbe das Bringprinzip noch aktuell war: Ausläufer-Fahrrad und Brotwagen für Pferdezug
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Bäckereimuseum und Brezelstube
Das Bäckerei/Konditorei/Confiserie-Museum in 8717 Benken SG, Reckplatzstrasse 21, ist geöffnet: Di–So 13.00–17.00 Uhr (montags geschlossen). Das Speiserestaurant «Brezelstube» hat geöffnet Di–So 08.00–22.00 Uhr. Museums-Gruppenbesuch jederzeit nach tel. Vereinbarung. Führungen auf Anfrage: 055-293 50 93 (www.baeckereimuseum.ch).
von Mandeln, Nüssen, Kernen und Käse, Mandelschälmaschinen (für weisses Marzipan), Walzen-Reibmaschinen, Passiermaschinen, Schneeschlag- und Massenrührmaschinen für Eier, Rahm und Cremen, Bisquitmaschinen für die Guetzliherstellung, Speculatiusmaschinen für Gewürzgebäck, Bonbonmaschinen, ferner Kaffeeröster, Frittierpfannnen und Mörser (Vorläufer der Reibemaschinen) sowie – last, not least – Holzmulden (zum Kneten und Lagern des Teiges). Daneben sind auch ganz exquisite Apparaturen zu bestaunen wie Suppenbrot-Schneidemaschinen (altes Brot wurde damals fein geschnitten, braun geröstet und als Suppenbeilage verkauft), ein mit Eisstangen vom See bestückter Holzkühlschrank oder – was die Sparsamkeit damaligen Bäcker belegt – ein Mehlsack-Entstaubungsgerät in Form einer Kiste mit Rütteleinrichtung. Nicht zu vergessen die Brot-Austraggeräte: von Körben, Kräzen und Hutten übers Fahrrad mit montierten Bisquit- und Glacedosen bis hin zum Brotwagen für den Pferdezug.
Die Kunst am Teig Enorm ist auch das Sammelsurium an bunten Gefässen (nostalgisch bemalene Bisquitdosen und Zeltchenbüchsen), und geradezu überwältigend sind die Tausende von Bäckerei-, Konditorei- und Schokoladeformen; denn Bäcker, Konditoren und Chocolatiers waren immer sowohl Handwerker als auch Künstler, deren Endprodukte sowohl Gaumenfreude als auch zur Augenweide waren. Davon zeugen die unzähligen Muster der Waffel- und Brezeleisen, die variantenreichen Bisquitund Gugelhopfformen, Lebkuchen-Ausstecher, Holzmodel für Biber, Tirggel und Schafböcke sowie die Heerscharen von Schokoladeformen für Osterhasen, Weihnachtskläuse und all den kunterbunten Christbaumschmuck, der dann in Staniolpapier eingepackt wurde. Dabei erfährt man, dass Osterhasen bereits in Tonformen aus Bisquit kreiert wurden, bevor man die Schokolade kannte, und dass die ersten Schokoformen aus Kupfer, die
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späteren aus verzinktem Blech waren, während sie heute aus
Chromstahl oder Plexiglas bestehen. Ein ganz besonderes
Objekt in der Ausstellung ist auch eine 150-jährige Glacema-
schine, bei der in einem äusseren Mantel ein Eis- und Salz-
gemisch eine Temperatur von –18 °C erzeugte, während im
inneren Hohlraum die Glaceflüssigkeit durch ständiges Rüh-
ren sämig gemacht wurde. Diese Masse füllte man in
Früchte-, Blumen und Tierformen. Kurz: Die Berufsleute der
Backstubengilde von damals waren zugleich auch Kunst-
handwerker.
In Benken leben jene Zeiten auf, als es noch Zwanziger- und
Zehnerstückli, ja sogar – man staunt! – Fünfer- und Einer-
stückli gab. Das ist heute kaum mehr vorstellbar: ein Klein-
gebäck für einen Rappen! Und es wäre auch nicht mehr be-
zahlbar, da es keine Räppler mehr gibt … Zudem finden sich
in einer Bibliothek voller alter Schmöker der Berufskunde
originelle Rezept-Trouvaillen und ganze Sammlungen Lebku-
chenherz-Sprüche, von «Mädchen, mach dir Locken, sonst
bleibst du hocken» über «Ich bleibe dir treu – bis zum Bahn-
hof» bis zu «Schönste, liebe deinen Diener, sonst wird er Ka-
puziner». Und es liegt auf der Hand: Hätte Paul Wick damals
nicht seine Marianne angelacht, sondern dem Pfefferkuchen-
Spruch «Mensch, sei helle, bleibe Junggeselle!» gehuldigt,
stünde heute in Benken wohl kein Bäckerhaus …
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Korrespondenzadresse: Heini Hofmann Zootierarzt und freier Wissenschaftspublizist Hohlweg 11 8645 Jona
© alle Bilder: Bäckereimuseum Benken