Transkript
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Bild: Bernard Salvat
Fahret in Frieden!
Velosolex – ein Phönix aus der Asche
Beim heutigen Velo- und E-Bike-Boom geht vergessen, dass der Weg zum
Von Heini Hofmann
1946 erste Velosolex-Serie Die Solexstory ist Musterbeispiel geschickter
selbstfahrenden Velo lang war. Als
Unternehmenstaktik: Man beschränkt sich in
Sternstunde erwies sich in der Not der Kriegszeit
der schwierigen Nachkriegszeit – im Sinn eines populär-
die Erfindung des bis heute beliebten Kultzweirades
preiswerten Beförderungsmittels – auf 45 ccm Hubraum,
Velosolex. Diese Aschenputtel-Story gilt jetzt noch
eine Leistung von 0,4 PS bei 2000 U/min und einen Ver-
als ein Musterbeispiel weitsichtiger Unternehmens-
brauch von nur einem Liter Treibstoff pro 100 km bei einem
strategie.
Gesamtgewicht von 25 kg und einer Geschwindigkeit von
28 km/h. Denn dies eröffnet dem Solex in Frankreich die
Schon 1895 hatte der französische Tüftler René Gillet die Idee,
Klasse der (damals) zulassungs- und führerscheinfreien Cy-
am Vorderrad eines Velos einen Motor zu montieren. Während
clomoteurs.
für deutsche Techniker Zweitaktmotor und Reibrollenantrieb
1946 startet in der Fabrik in Paris-Courbevoie als zusätzli-
noch suspekt blieben, sprang in Frankreich der Funke. 1901
ches Standbein die Erstserie Velosolex 650 (2-Takt-Umlenk-
entstand hier der Ixion, ein Velo mit Zweitakt-Frontantrieb.
kolbenmotor und Kraftübertragung aufs Vorderrad mittels
Bald wurden auch deutsche Zweiräder damit ausgerüstet (Si-
Karbonreibrolle) mit einer Tagesproduktion von 15 Exempla-
gurd) oder in den Komet-Werken in Lizenz gebaut. Dem Ixion
ren. Der weltumspannende Siegeszug ist eröffnet. Doch wo
folgte ein gutes Jahrzehnt später, ebenfalls in Frankreich, der
Idealismus am Werk ist, wird trotz Erfolg ständig weiter ge-
Cyclotracteur mit Viertakt-Hilfsmotor; auch er fand im Ausland
tüftelt und verbessert.
Verbreitung. Doch der grosse Wurf blieb noch aus.
So beginnt denn ab 1947 eine lange Reihe immer neu modi-
fizierter Serien, wobei allerdings das bewährte Grundprinzip
Not macht erfinderisch
immer das gleiche bleibt, ebenso die Kult gewordene
Der eigentliche Durchbruch für das selbstfahrende Velo er-
schwarze Farbe: «Le noir c’est triste, c’est ça qui est drôle.»
folgt dann aber – nicht von ungefähr – während dem Zweiten
Mit jeder neuen Serie erhöht sich die Tagesproduktion ra-
Weltkrieg: Zwei Pariser Jungunternehmer, Maurice Goudard
sant: Der Velosolex wird – analog zur Ente von Citroën beim
und Marcel Mennesson, bauen in ihrer Firma Radialradiatoren, um Busse und Lastwagen zu kühlen, und stellen später unter dem Namen Solex Vergaser her. Dieser Markenname Solex wird später auch auf ihre Fahrradfabrik, ein weiteres Standbein ihres Unternehmens, übertragen. Denn ab 1940 entsteht der Prototyp eines selbstfahren-
Die beiden Gründerväter, Maurice Goudard
und Marcel Mennesson.
(Bilder: Public Domain)
Auto – zum französischen Savoir vivre in Fahrradgestalt!
Export, Lizenz und Imitation Ebenfalls ab 1947 erleichtert, auf Antrag der Firma Solex, British Petroleum (BP) die Solex-Betankung mit dem Vormischungsprodukt Solexin (94% Benzin plus 6% Energolöl) in
den Velos mit 2-Takt-Motor, angeflanscht über dem
gelb-grünen 2-Liter-Metalldosen.
Vorderrad auf einem gewöhnlichen Alcyon-Herrenfahrrad-
Was Erfolg hat, findet Lizenznehmer und Nachahmer. So
Rahmen, und ausgerüstet mit 700-mm-Rädern (französi-
schiessen Lizenzbetriebe ausserhalb Frankreichs wie Pilze
sches Patent 1941, US-Patent 1942).
aus dem Boden: in den Niederlanden, in Grossbritannien, Po-
Trotz Kriegssituation handelt man weitsichtig-langfristig: Die
len, Dänemark, Italien, Lettland, Deutschland und der
ersten 700 Prototypen werden ab 1942 an die Werksarbeiter
Schweiz (vgl. Kasten). In Zypern, Finnland, Griechenland und
verteilt, um sie zu testen und zu verbessern. Dieses seriöse
Irland werden Montagelinien errichtet. Und ab 1974 gibt es
Vorgehen zahlt sich aus! Denn es stellt sich beispielweise
spezielle Export-Modelle unter anderem sogar für Kanada,
heraus, dass die gängigen Fahrradrahmen für den Anbau
USA und Brasilien.
eines Hilfsmotors im Dauerbetrieb nicht stark genug sind,
Aber auch Konkurrenz taucht auf: 1958 wird im Norden
weshalb man sie durch einen stabileren, «offenen» und zu-
Frankreichs das VéloVap entwickelt, mit mehr Leistung, him-
dem damenfreundlichen Schwanenhalsrahmen (Col de
melblauem Rahmen und Weisswandreifen, was raffinierter
Cygne) ersetzt.
daherkommt als «das kleine schwarze Solex-Pferd». Im
gleichen Jahr folgt, ebenfalls in Nordfrankreich, die Flandria
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Ob Briefträger, Priester oder Nonne – in Frankreich fuhren sie alle mit einem Velosolex.
(Bilder: Public Domain)
Galet, die mit schwarzer Rahmenfarbe dem Solex ähnlich sieht, aber zudem als farbige Luxusversion für die BeneluxStaaten konzipiert ist.
Das Ende des Solex-Märchens Doch der gute alte Selbstfahrer Velosolex weiss sich zu behaupten, optimiert sich weiter, bleibt ideenreich: kleinere Räder für mehr Fahrsicherheit, Leistungssteigerung und Erhöhung der Geschwindigkeit auf 30 km/h, Spezialausführungen wie leichte, dreirädrige Lieferwagenmodelle und mit dem F4 ein Minifahrrad für Kinder mit geräuscherzeugender Kunststoff-Motorattrappe. 1965 erhält sogar die Standardfarbe Konkurrenz; die Solexserie 3800 kommt nicht nur schwarz, sondern auch weiss oder rot daher.
Solex-Sonderfall Schweiz
Die Eidg. Strassenverkehrsge-
setzgebung war dem Kultfahr-
zeug weniger gut gesinnt als im
Ursprungsland Frankreich, wo
bereits 14-Jährige führerschein-
frei Solex fahren durften. Denn
ein Bundesratsbeschluss von
1947 reihte das Velo mit Hilfsmo-
tor im Prinzip in die Kategorie
Motorfahrzeuge ein, obschon
der Solex einem Fahrrad viel näher verwandt ist als einem Mo-
Bild: Marc Wernli
torrad. Das hatte negative Folgen für die weniger begüterte Bevölkerung, aber auch
für den Tourismus, für Grenzgänger und die Gastfreundschaft ganz allgemein, da So-
lexfahrer aus Frankreich und Italien die Schweizergrenze nicht passieren durften.
Betroffen war auch die in Genf domizilierte Firma Hispano Suiza, die von 1948 bis 1957
rund 15 000 Velosolex zusammenbaute – mit aus der Schweiz stammenden Bauteilen.
Deshalb erhob sich, im Hinblick auf die 1949 in Genf stattfindende Internationale Stras-
senkonferenz, Widerstand in den Medien und von Fachseite mit Fakten (z.B. dass die
Anzahl Unfälle von Fahrrädern mit Hilfsmotor unter jener mit normalen Velos lag).
Resultiert hat, wohl auch dank Vorpreschen des Kantons Genf, ein neuer Bundesrats-
beschluss von 1950, der zwar etwas grosszügiger war, aber immer noch restriktiver
als ennet der Grenze.
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Doch jedes Märchen hat ein Ende – auch das der billigsten Motorisierung der Nachkriegszeit. Über vierzig Jahre nach der Erstserie in Courbevoie (1946), endet in Saint-Quentin im November 1988 die Original-Velosolexproduktion in Frankreich. Die letzten hundert Exemplare werden als Modell Nostalgia an Liebhaber verkauft. Wieviele dieser Ikonen gesamthaft gebaut wurden, ist nicht genau bekannt; es sollen weit über sechs (weltweit sogar über acht) Millionen sein.
Nur der E-Solex war ein Flop Nach dem Verkauf der Firma Solex wird das Kultfahrzeug zwar noch weiter gebaut, verliert aber, weil es nicht mehr das Original ist, an Nimbus. Zu Berühmtheit gelangt noch die in China fabrizierte Version Black ’n Roll. Und dann passiert etwas Merkwürdiges: 2005 gibt die Groupe Cible in Paris die Marktreife eines elektrisch betriebenen E-Solex bekannt (Lithium-Ionen-Akku, 30 km/h, 35 kg), allerdings mit Radnabenmotor hinten und vorne bloss einer Motorattrappe. Zielpublikum sind junge, urbane Kunden und speziell Frauen. Doch trotz pfiffig-roten Elementen in der Grundfarbe Schwarz bleibt dieser E-Solex – was angesichts des heutigen e-BikeBooms erstaunt – ein Flop. Dies wohl deshalb, weil die Neuerung zu futuristisch und somit nicht kompatibel war mit den Nostalgiegefühlen der eingefleischten Original-Solexianer. Auch technische Erfindungen müssen, wenn sie Erfolg haben wollen, Emotionen wecken.
Der Brigitte Bardot-Effekt Doch über alles gesehen schrieb der Velosolex als Phönix aus der Asche der Kriegszeit ein technisches Märchen wie aus 1001 Nacht. Was die alte Tante Junkers Ju-52 unter den Flugzeugen oder der Jeep unter den Geländefahrzeugen, ist der Solex unter den Fahrrädern: eine Ikone, mit französischem Charme. Beliebt bei allen, gefahren von Arbeitern und Studenten, Priestern und Professoren, Bauern und Filmidolen wie Brigitte Bardot, die einen wahren Boom auslöste,
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Filmstar und Publikumsliebling Brigitte Bardot verhalf dem Velosolex zum
Höhenflug.
(Bild: Public Domain)
aber auch Charles Aznavour, Jacques Tati oder Steve McQueen. (Der Schreiberling dieser Epistel fährt seit über fünfzig Jahren ebenfalls einen Solex, der ihn noch nie im Stich gelassen hat!) Velosolex steht für eine Art Fortbewegung, bei der Geschwindigkeit nicht das Mass aller Dinge ist. Dies dokumentieren die berühmt gewordenen Slogans wie «Fahret in Frieden!», «La bicyclette qui roule toute seule», «Freedom and Postwar Mobility», «Pour le travail et le plaisir», «Für fesche Kerle und flotte Bienen», «Passe partout, même dans la boue (Dreck)».
75 Jahre Velosolex
2021 kann das erste und erfolgreichste selbstfahrende Velo seinen 75. Geburtstag feiern. Die Original-Solexproduktion ist zwar gestorben, aber die internationale Fangemeinde lebt weiter. So gibt es auch hierzulande einen Verein enthusiastischer Solexianer. www.velosolex.ch
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Keiner zu fein, Solexfahrer zu sein: Charles Aznavour und
Steve McQueen.
(Bilder: Public Domain)
Seine Stärken sind: einfach und robust gebaut, kaum pan-
nenanfällig, verkehrssicher durch moderate Geschwindig-
keit, leicht und preisgünstig.
Zudem ist der Solex vielseitig einsetzbar: So schrieb er Ge-
schichte bei der Post in Frankreich und der Schweiz als Brief-
trägervelo, aber auch als Hebammenfahrrad, als Tennis-
championpreis in Roland-Garros und sogar beim Militär im
Vietnamkrieg. Hierzulande nannte man ihn liebevoll Nasen-
wärmervelo (wegen dem vorne positionierten Motor) und,
weil manche Klöster ihn als Dienstfahrzeug nutzten, Chris-
tenverfolger oder Maria-Hilf-Motor. Womit der Ringschluss
zur Titelei gegeben ist: Fahret in Frieden!
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Korrespondenzadresse: Heini Hofmann Zootierarzt und freier Wissenschaftspublizist Hohlweg 11 8645 Jona