Transkript
4 • 2020
Editorial
Zwischen Vorsicht und Nachsicht
Liebe Frau Kollegin, lieber Herr Kollege
Die meisten Kollegen gehen mit der Gefahr durch Corona relativ locker um. In den Praxen bleibt ja auch gar nichts anderes übrig als weiterarbeiten, Hygienekonzepte erklären und durchsetzen, Ängstliche beruhigen, Sorglose ermahnen und sich selber schützen. Viele der Älteren – erst recht die längst pensionierten – haben schon so viel Kurioses erlebt, so manchen Grippewinter und so viele infektiöse Patienten überstanden, dass Corona sie nicht aus der Ruhe bringt. Oder sie sind schon so alt, dass sie sich (heimlich) sagen: Das Leben war lang und gut, das Leben war schön, jedes Leben geht einmal zu Ende und Corona ist als Anlass dafür letztlich genauso unwillkommen wie ein Thrombus, eine Hyperplasie oder eine zerebrale Degeneration. Allerdings, dem einen oder andern geht so viel Abgeklärtheit denn doch ab und er – oder sie – macht sich etwas Sorgen. Immerhin hat die Pandemie zu Beginn im Ausland nicht wenigen Kollegen das Leben gekostet hat. Sie, die (zurecht) Besorgten, sind deshalb besonders gut informiert: über das statistische Risiko, bei 500 neuen Fällen pro Tag auf einen unerkannt Viren verbreitenden Zeitgenossen zu treffen, über Impfstoffe, ihre Entwicklung, Risiken, Wirksamkeit, Zulassung, über Impfstrategien, aber auch über alle möglichen Medikamente: Hydroxychloroquin, Dexamethason, die Fragezeichen ums Remdesivir, die Notwendigkeit einer Antikoagulation, die trüben Aussichten im Fall einer Beatmung, die Langzeit-Auswirkungen von Covid-19. Sie machen sich Gedanken über ihre und ihrer Familie Blutgruppe – schützt Blutgruppe 0 tatsächlich? Sie füllen vorsichtshalber ihre Vitamin-D-Speicher, denken darüber nach, ihre Antihypertensiva (ACE-Hemmer, Sartane) zu wechseln, liebäugeln gar mit Fluoxetin oder Fluvoxamin, um einem Zytokinsturm vorzubeugen. Und selbstverständlich kennen sie die Studie, die das konsequente Tragen einer Brille (statistisch gesehen) mit einem verminderten Ansteckungsrisiko assoziiert.
Angesichts unserer (nicht aller, aber mancher Kolleginnen und Kollegen) Unsicherheit über den höchst eigenen Umgang mit der Corona-Gefahr wollen wir nicht allzu heftig schimpfen, Inkompetenz beklagen, Schuldige bezeichnen fürs Schlamassel, in das wir (vor allem unsere Kollegen und die Pflegenden in den Kliniken) hineingerutscht sind und möglichst mit Glück wieder rausrutschen. Zwar hat wohl jeder von uns eine Meinung zur Performance unserer Regierungen – angesiedelt irgendwo zwischen «Bundesrat, BAG und GDK haben das ganz gut gemacht» und «ein Skandal, dass die Politik nicht auf die Fachleute gehört und gehandelt hat, als noch Zeit war». Man wird die vergangenen Monate eines Tages aufarbeiten und daraus lernen müssen, aber vermutlich stimmt, was ein überaus gelassen wirkender Kollege meinte: «Jeder von uns hätte an der Stelle der Verantwortlichen Fehler gemacht – bloss andere.» Sogar Herr Koch, der während Welle 1 so beruhigend (einige sagen: einschläfernd) aufs Schweizer Volk eingewirkt hatte, hat nicht alles falsch gemacht. Nein, wir wollen keine Noten verteilen. Nur beobachten – auch uns. Und danach vielleicht etwas nachsichtiger auf die nicht immer verständlichen Entscheide unserer Krisenmanager schauen. Auch wenn’s schwer fällt.
doXmart wünscht Ihnen von Krankheit ungetrübte, in familiärer Nähe zu feiernde und von Hoffnung auf ein besseres 2021 bewegte Feiertage. Wir melden uns – wenn’s nach uns geht mit good news – anfangs 2021 wieder.
Richard Altorfer und Peter H. Müller
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