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Fortbildung
Chronische Schmerzen
Wie und wann wirkt Cannabis?
Das Endocannabinoidsystem (ECS) kontrolliert eine Vielzahl lebenswichtiger
Von Prof. Dr. Matthias Karst
Das ECS setzt sich zusammen aus spezifischen Cannabinoidrezeptoren (CB1, CB2) und endo-
Funktionen. Ein suboptimaler Tonus des
genen Liganden. Rezeptorabhängige und re-
ECS in bestimmten Regionen des Nervensystems
zeptorunabhängige Effekte, die zur Schmerzlinderung bei-
wird mit Störungen assoziiert, die auch mit Schmer-
tragen können, sind (1):
zen verbunden sind. Über die exogene Zufuhr von
• Reduktion der nozizeptiven Transmission
Cannabinoiden können Schmerz- und Entzündungs-
• Antiinflammation, Antifibrosierung
vorgänge moduliert werden. Studien zeigten bei
• Aktivierung von Schmerzhemmbahnen
verschiedenen chronischen Schmerzen geringe bis
• Reduktion der zentralen Stressantwort
mässige, in Einzelfällen grosse schmerzlindernde Ef-
• Initiierung antihyperalgetischer Mechanismen
fekte. Personen mit chronischen neuropathischen
Dabei ist wichtig zu verstehen, dass bei chronischen Schmer-
Schmerzen und Stresssymptomen scheinen beson-
zen inflammatorische und psychische Faktoren eine enorm
ders zu profitieren.
wichtige Rolle spielen.
Fallbeispiel: Ein gut integrierter 60-jähriger Mann stellt sich mit vor allem nachts auftretenden schmerzhaften spastischen Krämpfen in den Beinen und Armen vor, die auf eine immunvermittelte Neuropathie zurückgeführt werden. Dadurch massiv gestörter Nachtschlaf. Basistherapie mit Rituximab und Immunglobulinen. In der Vergangenheit guter Effekt unter Flupirtin retard 400 mg, das wegen Lebertoxizität 2018 vom Markt genommen wurde. Unter Gabapentin, Pregabalin, Amitriptylin und Mirtazapin keine Linderung. Unter Opioiden (Tilidin, Hydromorphon) keine Wirkung und Zunahme der Schlafstörungen. L-Dopa ohne Einfluss auf die Beschwerden. Nach Kostenzusage durch den Kostenträger Verordnung von Dronabinol. Nach Eintitrierung bis 5 mg zur Nacht deutlicher Rückgang der nächtlichen Schmerzen und relevante Verbesserung des Nachtschlafs. Allerdings kommt es hierunter zu Durchfall und zur Neigung von Übelkeit. Aus diesem Grund Wechsel zu einem oralen Cannabisvollextrakt (THC10: CBD10 10 mg/ml). In der Dosierung von 10 mg zur Nacht wird ein sehr gutes Therapieergebnis ohne Nebenwirkungen erreicht. Die noch zuvor eingesetzten (nicht-wirksamen) Substanzen Mirtazapin und Gabapentin konnten vollständig abgesetzt werden.
Wie steht es um die Wirksamkeit? In einer sehr heterogenen Gruppe randomisierter kontrollierter Studien, die Daten von ca. 2500 Patienten umfassen, zeigte sich eine geringe bis mässige, teilweise auch grosse Wirksamkeit von Cannabinoiden und Cannabisblüten bei chronischen Schmerzen, in der Regel als Zusatzmedikation zu anderen Wirkstoffen (1, 2). Metaanalysen dieser Studien stellten die Wirksamkeit von Cannabinoiden bei chronischen Schmerzen infrage, was insbesondere mit Informationen aus Anwendungsbeobachtungen in Widerspruch steht (7). Mögliche Gründe für die geringe externe Evidenz aus Metaanalysen sind (1–3): • die starke klinische Heterogenität der Studien • Fehler in der statistischen Aufbereitung der Daten • das Verwenden verschiedener Cannabinoide und Dosie-
rungen • die kurze Dauer der Studien • die Komplexität von Schmerzpatienten • die Verwendung falscher Outcomeparameter. So ist schon lange bekannt, dass Cannabinoide eher die mit den chronischen Schmerzen verbundenen negativen Affekte, Anspannungssymptome und Schlafstörungen verbessern und weniger direkt die Schmerzintensität beeinflussen (3, 4). Aus diesem Grund ist es auch nachvollziehbar, dass vor allem neuropathische Schmerzen auf Cannabinoide ansprechen, da diese Art Schmerzen die Betroffenen in besonderer Weise «nerven», zum Beispiel dadurch, dass sie auch in Ruhe auftreten. Darüber hinaus erklären diese Zusammen-
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Abbildung: Klinisches Vorgehen bei der Verordnung von Cannabinoiden
hänge auch, warum am ehesten diejenigen chronischen Schmerzpatienten von Cannabinoiden profitieren, die stark «gestresst» sind, meist durch die chronischen Schmerzen selbst, aber auch durch vorbestehende oder zeitgleich bestehende psychosoziale Faktoren. Aus einer Querschnittsbefragung (5) wird geschätzt, dass in Deutschland etwa zwei bis drei Millionen Menschen zeitgleich mit den chronischen Schmerzen auch psychisch stark belastet sind. «Fibromyalgiesyndrom» und «Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren» sind die dabei am häufigsten verwendeten ICD-10-Kodierungen. Patienten mit chronischen Schmerzen werden zu 70% von Allgemeinärzten, zu 27% von Orthopäden und nur zu 2% von Schmerztherapeuten betreut (6). Etwa jeder fünfte Patient in hausärztlichen Praxen klagt über chronische Schmerzen (7). Rücken- und Gelenkschmerzen sind sehr häufig, ebenso die Komorbiditäten Angst, Depression, Somatisierung und Posttraumatische Belastungsstörung. Organbefunde und Ausmass der geklagten Beeinträchtigungen korrelieren häufig nicht (7). Liegen keine unmittelbar behandelbaren Organ-
störungen vor beziehungsweise ist der funktionelle Schmerzanteil sehr hoch, ist die funktionelle Wiederherstellung das Ziel der Behandlung (nicht in erster Linie die Schmerzreduktion). Medikamente, in manchen Fällen auch Cannabinoide und Cannabisblüten, können im Sinne einer überbrückenden und unterstützenden Funktion zur funktionellen Wiederherstellung beitragen.
Wann kann welches Cannabinoid eingesetzt werden? Bei der Frage, ob Cannabinoide zum Einsatz gelangen können, sind folgende Fragen von grösster Wichtigkeit, woraus sich ein strukturiertes Vorgehen ergibt: • Welche Bedeutung haben Strukturschäden an der Entste-
hung und Aufrechterhaltung der Schmerzen? • Wie hoch ist der Anteil an Nervenschmerzen? • Wie stark ist der Patient psychisch belastet? • Liegen Traumata vor, besteht eine Posttraumatische Be-
lastungsstörung? • Welche bisherigen Therapieansätze sind erprobt worden? • Ist die Schmerztherapie in ein Gesamtkonzept (psychothe-
rapeutische und physiotherapeutische Verfahren) eingebunden? Bei der Frage, welches Cannabinoid zum Einsatz gelangt, ist folgendes Vorgehen zu empfehlen: • Primär orales Cannabinoid (Dronabinol, Cannabisvollextrakt). • Immer mit der kleinsten Dosierung beginnen (z.B. 0,5– 1 mg THC/Tag). • Nur sehr langsame Dosissteigerung (z.B. Erhöhung um 1 mg pro Woche). • Bei geringen Tagesdosen bleiben (z.B. 5–10 mg/Tag). • Eine bis maximal drei Gaben pro 24 Stunden. Die genannte Vorgehensweise entspricht der klinischen Erfahrung, dass die Wirkdauer oral gegebener Cannabinoide
Tabelle:
Nebenwirkungen und Kontraindikationen von THC-haltigen Cannabinoiden und Cannabisblüten
Typische Nebenwirkungen Müdigkeit Schwindel Mundtrockenheit Beeinflussung von Gedächtnisfunktionen (z.B. Angst) Gewichtszunahme motorische Beeinträchtigungen kardiovaskuläre Nebenwirkungen (Tachykardie, Hypertonie) gastrointestinale Nebenwirkungen (Durchfall, Übelkeit)
Kontraindikationen Psychotische Erkrankungen (z.B. Schizophrenie) Schwere Persönlichkeitsstörungen Schwere Herz-Kreislauf-Erkrankungen (z.B. schwere Herzinsuffizienz) Schwangerschaft und Stillzeit
Eingeschränkte Indikationen Lebensalter unter 21 Krampfanfälle Schwere Leber- und Nierenerkrankungen
Zusatzbemerkungen Körperliche und psychische Abhängigkeit bei diesbezüglichen Risikofaktoren des Patienten möglich. Aus diesem Grund Anwendung nur, wenn patientenseitig die Voraussetzungen gegeben sind und der Einsatz in ein Gesamtkonzept eingebunden ist. Wechselwirkungen mit anderen Substanzen, die über CYP450 metabolisiert werden (z.B. Amitriptylin und Fentanyl), möglich.
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sehr lange sein kann – wahrscheinlich spielen aktive Stoff-
wechselprodukte hierbei eine Rolle – und niedrige Dosierun-
gen in der Regel ausreichen. So kann das Auftreten von Ne-
benwirkungen (Tabelle) weitgehend vermieden werden. Wird
mit einer Cannabinoidtherapie begonnen, ist es nicht not-
wendig, die zuvor bestehende Medikation abzusetzen. Wenn
der Patient auf das Cannabinoid anspricht, kann versucht
werden, die vorbestehende Medikation zu verändern (insbe-
sondere Reduktion der Dosierungen von Opioiden).
Stellen sich Patienten vor, die Cannabisblüten im Sinne einer
Selbstmedikation inhaliert haben, sollte immer für den Ein-
satz einer oralen oder oromukosalen Verabreichung plädiert
werden, da auch bei Verdampfung eine Lungenbelastung be-
steht und die Pharmakokinetik durch hohe Spitzenspiegel
und kurze Wirkzeiten ungünstig ist. Die bei Inhalation auf-
tretenden Effekte erhöhen das Risiko der Entwicklung einer
Abhängigkeit. Bei Verwendung des oromukosalen Mund-
sprays (Sativex Spray) ist darauf zu achten, dass die Start-
dosis (1 Hub) bereits einer Dosierung von 2,7 mg THC
entspricht und bei bis zu 20% der Anwender Schleimhaut-
schäden im Mundbereich auftreten können. Ein Vorteil der
Inhalation kann der schnelle Effekt bei Akutereignissen (z.B.
Migräneattacke) und die geringere Akkumulation von 11-OH-
THC sein, das im Vergleich zu THC als psychoaktiver gilt. Can-
nabinoid- und Terpenzusammensetzungen können sich in
den Cannabispflanzen unterscheiden, so dass es zu einem
individuell unterschiedlichen Wirkungs-Nebenwirkungs-Pro-
fil kommt (8). Wirkverstärkung und Reduktion von Nebenwir-
kungen bei Vollextrakten und Cannabisblüten werden als En-
tourage-Effekt bezeichnet.
Wie bei jedem anderen Medikament, das im ZNS-Bereich
seine Wirkung entfaltet, kann die Fahrtüchtigkeit beeinträch-
tigt werden. Die Kommunikation darüber sollte durch Unter-
schrift des Patienten dokumentiert werden. Auch hier hat die
orale – nach Zeitintervallen – eingenommene Cannabinoid-
therapie Vorteile.
An Cannabinoiden, die nicht in das Zentralnervensystem ge-
langen und die antifibrosierend, antientzündlich und anal-
getisch wirken, wird gearbeitet (9, 10).
x
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Matthias Karst Arzt für Anästhesiologie, Spezielle Schmerztherapie, Psychotherapie, Akupunktur, Palliativmedizin – Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin – Schmerzambulanz Medizinische Hochschule Hannover D-30625 Hannover
Interessenkonflikte: M. Karst hat von Bionorica Ethics GmbH Vortragshonorare erhalten.
Der Artikel erschien zuerst in Der Allgemeinarzt, 2019; 41 (9) Seite 48–52. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung.
Der Originaltext wurde mit Genehmigung des Autors durch die Redaktion leicht gekürzt.
Literatur: 1. Karst M. Cannabinoide in der Schmerzmedizin. Schmerz 2018; 32: 381–396. 2. Campbell G, Stockings E, Nielsen S. Understanding the evidence for medical cannabis and cannabis-based medicines for the treatment of chronic non-cancer pain. Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci 2019; 269(1): 135–144. 3. Karst M, Passie T. Considerable heterogeneity. Dtsch Arztebl Int 2018; 115(9): 143. 4. Karst M, Wippermann S, Ahrens J: Role of cannabinoids in the treatment of pain and (painful) spasticity. Drugs 2010;70(18): 2409–2438. 5. Häuser W, Schmutzer G, Henningsen P, Brähler E: Chronische Schmerzen, Schmerzkrankheit und Zufriedenheit der Betroffenen mit der Schmerzbehandlung in Deutschland. Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe. Schmerz 2014;28: 83–492. 6. Dietl M, Korczak D: Versorgungssituation in der Schmerztherapie in Deutschland im internationalen Vergleich hinsichtlich Über-, Unter- oder Fehlversorgung. Schriftenreihe Health Technology Assessment 2011; Band 111. 7. www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/053-036l_S1_Chronischer_Schmerz_201310-abgelaufen.pdf, letzter Zugriff 02.03.2019. 8. Russo EB, Marcu J: Cannabis pharmacology: the usual suspects and a few promising leads. Adv Pharmacol 2017; 80: 67–134. 9. Karst M, Salim K, Burstein S, Conrad I, Hoy L, Schneider U: Analgesic effect of the synthetic cannabinoid CT-3 on chronic neuropathic pain: a randomized controlled trial. JAMA 2003; 290(13): 1757–1762. 10. www.corbuspharma.com, letzter Zugriff 02.03.2019.
DoXli meint:
Wer zweideutig denkt, hat eindeutig mehr zum Lachen.
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