Transkript
Interview
2 • 2020
Die Corona-Krise aus der Sicht einer Spitalverantwortlichen
«Eines der grössten Probleme: der drohende Mangel an Propofol»
Dr. med. Adrienne Imhof ist Chefärztin der Abteilung für Chirurgie und Orthopädie im Kantonsspital Schaffhausen. Sie ist Mitglied des Führungsstabs, der mit den Vorbereitungen auf die befürchtete Welle von Coronakranken beauftragt war. Zu ihren speziellen Aufgaben gehört(e) die Organisation der Notfallstationen, die Einbindung von Zivilschutz und Militär sowie das ärztliche Personaldossier. Das Personal wurde im Hinblick auf den Notfall in «Pools» eingeteilt: Ärzte, Pflege, Service (Physiotherapie, MPA, Radiologieassistenten, Verwaltung, Küche usw.) aus denen die Abteilungen, welche im Falle eines lokalen Ausbruchs rasch unter einem drastischen Personalmangel gelitten hätten, situationsabhängig bedient werden sollten. Wir wollten von Adrienne Imhof wissen, mit was für Problemen sie sich in den vergangenen Wochen und Monaten konfrontiert sah.
ARS MEDICI: Frau Dr. Imhof, der grösste Corona-Stress ist vorderhand vorüber, Sie haben wieder etwas mehr Zeit. Wenn Sie sich an den Anfang der Krise zurückerinnern, welches waren zu Beginn die grössten Probleme? Adrienne Imhof: Eindeutig der Mangel an Schutzausrüstung. Man rechnete nach, man sah den Bedarf und man stellte fest, dass es an allem fehlte. Es ging initial darum, qualitativ gute Masken, aber auch Schutzmäntel zu beschaffen. Man musste sich auf den Kanton, den Bund und die eigene Kreativität verlassen. Aber die Sorgen blieben – bis heute, übrigens. Bei den Schutzmänteln hätten wir bei akutem Mangel an Einmalmaterial eine originelle Lösung gefunden: Das Angebot einer Firma, normale Operationsmäntel (aus Stoff ) zu waschen und zu imprägnieren und wieder bereit zu stellen, und zwar zu einem Preis von Fr. 1.25 pro Stück; das hätte uns sogar noch Geld gespart. Zeitweise kosteten die zum Einmalgebrauch bestimmten Schutzmäntel Fr. 8.80 das Stück.
Warum sind die Masken immer noch ein Problem? Wenn man qualitativ gute Masken für Medizinalpersonen will, die mit Coronapatienten zu tun haben, dann hat man selbst heute noch Mühe, nicht auf Fälschungen hereinzufallen. Gefälscht wird alles: nicht nur die Masken, auch die Zertifikate. Es gab in den Anfangszeiten Millionen bis Milliarden zu verdienen mit Masken von überall her.
Dr. med. Adrienne Imhof
Gab es auch Probleme mit den Patienten? Sicher. Wir mussten ja das elektive Operationsprogramm fast von einem Tag auf den andern beenden. Der letzte elektive Eingriff fand am 17. März statt. Es waren nicht immer einfache Gespräche mit Patienten, die teilweise schon länger auf ihre subjektiv durchaus dringende Operation gewartet hatten. Auch die teilweise Schliessung von Caféteria und Kantine verlief nicht ganz so einfach.
Wie reagierte das medizinische und anderes Personal? Es drohte immerhin eine auch für jeden Einzelnen gefährliche Zeit – vor allem nach den Bildern aus Bergamo, Mulhouse und anderen Gebieten? Unterschiedlich. Es war eine durchaus prägende Erfahrung, denn man erlebte alles: von Aufopferungsbereitschaft bis zu Ausreden, um nicht zur Arbeit erscheinen zu müssen. Daneben gab es ganz praktische und heikle Fragen: Der eine oder andere Mitarbeiter, dessen oder deren Lebenspartner zur Risikogruppe gehörte, überlegte sich, von zuhause auszuziehen, um den Partner nicht zu gefährden; zumindest war ich bestimmt nicht die einzige, die das mit ihrem Lebenspartner beredete. Bereden musste. Ein grosses Dankeschön gebührt unseren Grenzgängerinnen, den Pflegenden und andern Mitarbeitern aus dem nahen Deutschland, die nicht nur grosse Umwege in Kauf nehmen mussten, um zu ihrem Arbeitsplatz zu gelangen, sondern sofern sie Kinder hatten, ein zusätzliches Problem zu lösen hatten. Sie organisierten zum Beispiel gemeinsam eine Kinderbetreuung. Wie fast alle andern Grenzregionen der Schweiz waren wir auf unsere Grenzgänger angewiesen. In Basel etwa wäre bei einem – nicht ganz unvorstellbaren – Verbot von deutschen und französischen Behörden, ennet der Grenze in medizinischen Institutionen zur Arbeit zu gehen, unsere Spitalversorgung teilweise zusammengeberochen.
Wann kam der erste Coronapatient? Kurz nach dem 18. März. Vorher gab es nur positiv Getestete, die ambulant behandelt werden konnten. Die Tests waren anfänglich ohnehin auch ein Problem. Wie vom BAG angeordnet waren die Tests denjenigen Patienten vorbehalten, welche mit Verdacht auf eine Covid-19-Erkrankung hospitalisiert werden mussten. Überhaupt muss man sich daran erinnern, dass die Tests im März alle nach Genf geschickt wer-
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den mussten und wir die Resultate erst nach 3 bis 4 Tagen erhielten. Wir hatten zu wenig swabs (Teststäbchen) – sie werden ausgerechnet aus Norditalien geliefert – und zu wenig Reagenzien. Heute sieht das zum Glück anders aus.
Wie sah die Situation bei den Medikamenten initial aus? Kritisch. Und auch hier muss man sagen: Die Probleme sind noch nicht gelöst. Probleme gibt es in erster Linie beim Propofol, das man bei beatmeten Patienten in grossen Mengen benötigt. Der Mangel an Propofol war mit ein Grund, um auf elektive Eingriffe zu verzichten, schlicht um die vorhandenen Reserven zu sparen. Aber Propofol (das auch heute noch vom Bund zugeteilt wird!) war bei Weitem nicht das einzige Mangelmedikament. Wir sahen, dass die Relaxanzien und überhaupt Narkotika knapp werden würden. Die dritte Substanzgruppe, die uns Sorgen bereitete, waren – und sind – die Antibiotika. Wir wussten nicht, ob wir im Notfall ausreichend Chinolone, Amoxicillin oder Augmentin zur Verfügung haben würden. Eine spezielle Sorge galt dem Präparat Tazobac®, einem gallengängigen Kombinationspräparat aus Piperacillin und Tazobactam. Was oft vergessen geht: auch Analgetika stehen nicht beliebig zur Verfügung. Das betrifft sogar so simple Medikamente wie Paracetamol und viele NSAR (die zwar oft in Indien und Afrika konfektioniert werden, deren Moleküle aber alle aus der Region Wuhan stammen), aber natürlich auch für Opiate. Der Mangel an letzterem stellte vor allem Heimärzte vor Probleme, die sich darauf vorbereiten mussten, einen Teil der Alters- und Pflegeheimbewohner nicht hospitalisieren zu können, sondern im Heim behandeln und palliativ begleiten zu müssen.
Was viele Leute zu Beginn der Krise erstaunte, war die magere Ausrüstung der Schweiz mit Intensivbetten. Deutschland konnte rund viermal mehr Betten pro Einwohner zur Verfügung stellen als die Schweiz. Die Schweiz fand sich da im Mittelfeld wieder. Sogar nur im hinteren Drittel. Der Schweiz wurde in diesem Fall ihr ökonomischer, sparsamer Umgang mit stationären Betten zum Problem. Auch Schaffhausen muss – in normalen Zeiten – nicht selten Patienten aus Platzmangel in ausserkantonale Kliniken verlegen.
Was aus Sicht des Kantons ja nur Mehrkosten verursacht. Mangelnde eigene Wertschöpfung des Spitals und erhebliche Kostenanteile des Kantons ans ausserkantonale Spital. Aber das ist wohl eher eine kantonalpolitische Diskussion, die manche nicht so ganz verstehen. In diesem
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Zusammenhang: Wie war die Unterstützung durch die Politik im Kanton Schaffhausen? Wir sind ein kleiner Kanton und orientieren uns gesundheitspolitisch vielfach am grossen Nachbarn Zürich. Das ist verständlich, birgt aber auch seine Schwierigkeiten – schon wegen der Grösse und Bedeutung von Zürich. Das Spital war während der Coronakrise denn auch in mancher Hinsicht zwangsläufig – und ohne Vorwurf an die Politik – autark unterwegs.
Schaffhausen hat – wie andere Kliniken – Patienten aus dem Ausland, konkret: aus dem Elsass, übernommen. Wie lief das ab? Das wurde vom Bund organisiert. Frankreich hatte bekanntlich ein grosses Problem: die Privatkliniken weigerten sich, sich in ein Coronakonzept einbinden zu lassen. Da bei uns zu der Zeit nur gerade eines von 12 Intensivbetten belegt war, waren wir gerne bereit, dem Hilferuf aus dem Elsass zu entsprechen – immer verbunden mit der Option, dass Frankreich die Patienten zurücknehmen würde im Fall einer Überbelegung bei uns. Beide Patienten kamen intubiert und beatmet bei uns an. Es war für sie – einen jüngeren und einen aus der Risikogruppe – schon ein besonderes «Erlebnis», im Elsass hospitalisiert zu werden und in Schaffhausen aufzuwachen. Beide Patienten sind in der Zwischenzeit wieder nach Hause zurückgekehrt.
Wie ist eigentlich die Finanzierung dieser Patienten geregelt? Wir wissen es (noch) nicht. Aus Sicht des Kantonsspitals wäre es natürlich unerfreulich, wenn die Kosten nicht erstattet würden, entweder von der französischen Krankenversicherung oder vom Bund. Aber finanziell geht es nicht nur um die beiden ausländischen Patienten. Der nicht gedeckte Aufwand bzw der ungedeckte Ertragsausfall unseres Spitals summiert sich auf schätzungsweise 18 Millionen Franken. Keine Kleinigkeit für ein Spital, das gerade dabei ist, einen Neubau zu planen und das Projekt politisch durchbringen muss.
Wieviel Patienten wurden insgesamt auf der Corona-Intensivstation behandelt? Und wie erfolgreich war die Therapie? Wir betreuten insgesamt sechs Patienten, vier von ihnen intubiert und beatmet (inkl. der beiden aus dem Elsass). Die Therapien sind sehr zeitaufwendig und dauern Wochen und Monate. Der Erfolg lässt sich jetzt noch nicht festlegen, bis anhin sind aber alle beatmeten Patienten auf einem guten Weg, wobei oft vergessen geht – vor allem in den Diskussionen in den Medien – dass es mit dem Überleben allein nicht getan ist. In acht Wochen Intensivtherapie mit Beatmung geht viel Lungengewebe verloren, und die Muskelmasse
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schwindet grösstenteils. Die Leute bedürfen alle einer aufwändigen, meist auch einer neuropsychologischen Rehabilitation. Sie müssen beispielsweise langsam wieder gehen lernen. Der eine oder andere berichtet zudem von einer Art Nahtoderfahrung, und nicht alle kommen gleich gut mit dem Erleben einer existenziellen Bedrohung zurecht.
Gab es unerwartete medizinische und andere Probleme? Vielleicht dies: Viele «normale», das heisst Nicht-Coronapatienten, trauten sich im Notfall nicht, die Notfallstation aufzusuchen, aus Angst vor einer Ansteckung. (Die Patienten- und auch Mitarbeiterströme waren jedoch voneinander getrennt, so dass das Ansteckungsrisiko auf ein Minimum reduziert wurde.) Ein Phänomen übrigens, das sich auch an andern Orten, beispielsweise in Italien, zeigte. Dort kamen 60 Prozent weniger Herzinfarkte zur Aufnahme; dafür war die Mortalität dreimal höher. Ich fürchte, es wird noch einen ganzen «Rattenschwanz» an medizinischen Problemen geben, die mit Verspätung zu uns gelangen, inklusive Malignomdiagnosen.
Haben Sie an einer Medikamentenstudie teilgenommen, zum Beispiel mit Remdesivir? Nein, leider wurden wir trotz Bewerbung zur Remdesivirstudie nicht zugelassen und durften daher das Medikament für unsere Patienten auch nicht einsetzen. Das einzige Medikament, das wir fallweise einsetzten, war Actemra.
Gab es Infizierte unter dem Spitalpersonal? Es gab krankheitsbedingte Ausfälle unter dem Personal, auch schwere Erkrankungen. Alle bis auf vermutlich eine Person steckten sich aber nicht im Spital an, sondern extern. Ansteckungen von Patient zu Patient gab es keine.
Sie sind Chirurgin, nicht Virologin oder Epidemiologin, trotzdem: wie beurteilen Sie Covid-19? Wird die Krankheit eher unter- oder überschätzt? Was für Überraschungen kann die Krankheit noch bringen? Die Beurteilung der Krankheit hängt sehr davon ab, wo man lebt. Wir hatten hier in Schaffhausen sicher Glück und tendieren dazu, die Krankheit zu unterschätzen. Im Tessin sieht man sie ziemlich anders. Etwas vom Eindrücklichsten war für mich, wie unberechenbar die Krankheit verlaufen kann. Zwischen harmloser Grippesymptomatik und Intubationsbedürftigkeit liegen manchmal nur wenige Stunden. Noch gibt es erst wenige Autopsien. Ich fürchte, man wird, wenn man genauer hinsieht, noch mehr bisher unbekannte Organschädigungen entdecken.
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Wird es eine zweite Welle geben? Vermutlich ja.
Hatten Sie selber je Angst? Eigentlich nicht, ich bin nicht ängstlich. Aber ich hatte und habe Respekt. Oder doch, einmal, als mich ein Hustenanfall nicht mehr loslassen wollte, kamen kurz Bedenken auf.
Was hat Sie Corona, wenn man das so salopp sagen kann, gelehrt? (Lachend) Dass Social Distancing nicht nur seine unangenehmen Seiten hat, sondern eigentlich ganz angenehm sein kann. Daneben nahm ich mit einem gewissen Staunen zur Kenntnis, wie unberechenbar die Stimmung in der Bevölkerung, aber auch bei Mitarbeiter/innen sein kann. Irritierend war zweifellos auch der nicht vorhergesehene Mangel an Schutzmaterial.
Wie hat die Schweiz in Ihren Augen die Krise gemeistert? Mir schien das Krisenmanagement anfangs ziemlich holprig (z.B. Maskendiskussion). Am Ende aber hat die Task Force die Aufgabe gut gemeistert. Die täglichen Stellungnahmen waren hilfreich, es gab nicht allzu viele Widersprüche. Man hat jetzt auch früh genug zu lockern begonnen. Offen ist eigentlich mehr, ob sich die Bevölkerung auch weiterhin an die Basisregeln hält.
Wie war die Zusammenarbeit mit den Hausärzten? Die Probleme konzentrierten sich anfänglich auf die Knappheit an Testmaterial und die Einhaltung der Vorgaben des BAG. Mit der Einrichtung des Abklärungszentrums der niedergelassenen Kollegen vereinfachte sich die Situation erheblich, und der Austausch der Testresultate klappte einwandfrei.
Zum Schluss: Wenn Sie jemanden – eine Gruppe – hervorheben müssten oder dürften, die eine besonders wertvolle Rolle gespielt hat während der Krise, an wen würden Sie denken? Die Leute in der Spitalgastronomie. Sie hatten Angst um ihre Arbeitsplätze, wurden an verschiedenen Orten eingesetzt, mussten auch ungewohnte Arbeiten annehmen und waren doch nie schlechter Laune. Auch in den Kantinen haben sie die Stimmung hochgehalten und uns, das Personal, erst noch immer stimmungsaufhellend «gluschtig» verköstigt. x
Frau Imhof, vielen Dank für das offene Gespräch!
Interview: Richard Altorfer