Transkript
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300 Jahre «Lügenbaron» – eine Rehabilitation
Münchhausen hat nicht gelogen!
Landläufig gilt Münchhausen als abgehobener «Lügenbaron» und Stamm-
Von Heini Hofmann
phantastischen Geschichten bloss in Freundeskreisen mündlich zum Besten gegeben und sel-
tischplagöri. Nach 300 Jahren scheint es
ber nie publiziert hat. Kuriosum: 1825 erschien
angebracht, seine Ehre zu retten. Denn erstens
ein englisches Buchkombinat über Münchhausen und Robin-
hat er nicht gelogen, und zweitens gilt es zu unter-
son. Und analog wie bei Robinson gab es auch einen weibli-
scheiden zwischen dem echten Baron und dem zum
chen Münchhausen.
literarischen Durchlauferhitzer hochstilisierten und teils sogar missbrauchten Münchhausen.
Private Bibliothekskultur
Erfreulich ist, dass für beide, Robinson und Münchhausen,
Menschen mögen Mogeleien, Wundersames und Fantasti-
in der Schweiz je eine in ihrer Art einmalige Bibliothek auf
sches, Flunkerei, Fiktion und Illusion. Sie lassen sich gerne
privater Basis existiert. 2019, anlässlich «300 Jahre Robin-
narrativ narren und verzücken; das gibt Pfeffer in den mono-
son» (der Bibliotheksgründer in Rapperswil war kurz vorher
tonen Alltag. Das Angebot ist immens: von Märchen, Sagen,
verstorben), wurde jedoch die Figur des erfolgreichsten Ro-
Fabeln, Mythen, Utopieromanen, Schauergeschichten, Am-
mans aller Zeiten, dem Zeitgeist folgend, in fast peinlicher
menmärchen und Urban Legends über Jägerlatein, See-
Art «entmannt» und dadurch sein Schöpfer Daniel Defoe er-
mannsgarn, Aprilscherz und Black Joke bis zu medialem
niedrigt, obschon er zu seiner Zeit ein genialer Vordenker
Hoax, Habakuk, Havas oder Habasch sowie Zeitungsente, Finte, Grubenhund, Lügenpresse und Fake News, letztere gezielte Desinformation. Grob triagiert: Früher wurde erfunden und überzeichnet, um zu unterhalten, heute wird bewusst gelogen zwecks Manipulation.
Münchhausen in Kürassier-
regimentsuniform im lettischen Riga
(Original verschollen)
war, was sich unter anderem darin zeigt, dass eine – lange vor Robinson abgefasste – Abhandlung über Flüchtlingsproblematik, die erst 2018 auf Deutsch übersetzt wurde, wie ein Lauffeuer die Runde machte; denn er hatte damals schon vorausgedacht, was heutige Denkweise ist.
Ein speziell erfolgreiches und langlebiges, weil kulturbasier-
Aber unbedarft überhebliche Retrokritik ohne Berücksichti-
tes Genre des Irrationalen sind die Münchhausiaden, einige
gung damaliger Gegebenheiten ist heute Mode. Und sie
überliefert vom Baron selber, andere durch seine Ghost-
kommt nicht nur aus der unteren Schublade des Journalis-
writer, basierend auf uralten Satiren vom sophistischen Phi-
mus, sondern gelegentlich sogar – zum Schaden der Alma
losophen Lukian von Samasota bis hin zu deutschen Volks-
mater – aus universitären Kreisen. Münchhausen hat es dies-
büchern, oder beruhend auf klassischen Trouvaillen von Pla-
bezüglich besser; denn er hat im Gründer der ihm gewidme-
ton bis zur König-Artus-Sage. Kurz: lügenhaft wirkende,
ten Bibliothek in Zürich (vgl. Kasten) einen Advokaten, der
jedoch allegorisierend verschlüsselte Wahr- und Weisheiten.
ihn mit Sachverstand und Objektivität ins richtige Licht rückt.
«Lügenbaron» und Robinson Erstaunlich: Zwischen dem Literaturphänomen Münchhausiaden und dem erfolgreichsten Roman Robinson Crusoe gibt es viele frappante Ähnlichkeiten, aber auch markante Unterschiede. Beide explodierten zum weltweiten, vielsprachigen Bestseller mit ungeahnter Illustrationseuphorie, und dies mit Nachhaltigkeit im publizistischen wie im filmischen Bereich bis heute. Zudem wurden beide zuerst als Jugendliteratur promotet, obschon ursprünglich gar nicht für Junge gedacht. Eklatanter Unterschied: Daniel Defoe beschrieb die Abenteuer seiner erfundenen Figur Robinson selber, wenn auch anfänglich anonym, während Baron Münchhausen seine
Wer war Münchhausen? Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von Münchhausen wurde am 11. Mai 1720 in Bodenwerder an der Weser geboren. Nach seiner Karriere als Offizier im Dienste der russischen Zarin kehrte er 1750, nachdem er durch seinen Freund, einen baltischen Landadligen, mit dem er auf Entenjagd ging, seine erste Frau Jacobine von Dunten kennengelernt hatte, in seine Heimatstadt zurück und kümmerte sich um sein Landgut bis zu seinem Tod am 22. Februar 1797. Er besass die Begabung, fantastische Geschichten brillant-kabarettistisch zu erzählen. Man könnte ihn einen Stammtisch-Kabarettisten mit Niveau nennen, der seinem Hobby ohne finanzielle Ambitionen frönte.
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Der Ritt auf der Kanonenkugel ist eine der bekanntesten Münchhausiaden (um 1890).
Münchhausen zieht sich samt seinem Pferd am Haarschopf aus dem Sumpf (um 1890).
So mag es gewesen sein, wenn Münchhausen im Freundeskreis seine Geschichten erzählte.
Münchhausen-Museum Bodenwerder
Das deutsche Bodenwerder im Weserbergland hält seinen berühmten Sohn in Ehren: Der ehemalige Adelshof der Familie ist noch erhalten. Das Herrenhaus, in dem der «Lügenbaron» geboren wurde und verstorben ist, dient heute als Rathaus, und die um 1300 erbaute Schulenburg beherbergt seit 2003 das MünchhausenMuseum. Seit 1997 (200. Todestag) verleiht die Stadt zudem im Mai im Rahmen eines Stadtfestes den Münchhausen-Preis im Bereich Darstellungs- und Redekunst, den mit Emil Steinberger auch schon ein Schweizer gewonnen hat. www.muenchhausenland.de
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Doch seine Begabung sprach sich herum, clevere Publizisten usurpierten seine Fabulierkunst zwischen Buchdeckel, reicherten sie mit anderen Lügengeschichten an, die sie kurzerhand auch ihm zuschrieben und ihn somit als Hefe im Teig des eigenen Erfolgs nutzten. Dadurch war er – noch zu Lebzeiten – unwiderruflich zum «Lügenbaron» gestempelt. Das ärgerte und kränkte ihn sehr; doch er konnte diesen Kolportage-Tsunami nicht mehr stoppen. Auch hätte er wohl keine Freude, wenn er wüsste, dass sein Name später in der Medizin für das suchtartige Bedürfnis, eine schwere Krankheit vorzutäuschen, um dadurch einen Spitalaufenthalt zu erzwingen, verwendet wurde: Hospitalhopper- oder Münchhausen-Syndrom.
R. E. Raspe und G. A. Bürger Autor der ersten, mit Verve verfassten englischen Ausgabe (Oxford, 1785) und somit Vorreiter der Münchhausen-Glorifizierer war, wenn man von 1781 anonym erschienenen Anekdoten absieht, der Hannoveraner Gelehrte Rudolf Erich Raspe, markante Figur der Aufklärung. Im deutschen Sprachraum besser bekannt ist die erste deutsche Ausgabe (Göttingen, 1786) vom Dichter Gottfried August Bürger, die jedoch eine erweiterte Übersetzung der englischen Version darstellt. Dann geschah dasselbe wie bei Defoes Robinson: Neuauflagen, Übersetzungen und Imitationen jagten sich; die Literatur hatte eine neue Sparte geboren. Münchhausen gelangte somit, ohne dies selbst gesucht zu haben, zu Weltruhm und Unsterblichkeit, allerdings mit dem Makel des «Lügenbarons», der ihm bis heute anhaftet. Ergo: Es gibt zwei Münchhausen, einen ehrenwerten leibhaftigen Baron, den heute niemand mehr kennen würde, und einen durch die Bestsellerautoren zur weltumspannenden «Lügenfigur» hochstilisierten.
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Der mirakulöse Ritt Münchhausens auf dem Teetisch – ohne jegliche Scherben (1856).
Die submarinen Abenteuer Münchhausens: Der Baron reitet auf einem Seepferd (1786).
Enten, die der Baron mit beköderter Leine fangen wollte, tragen ihn in die Lüfte (um 1890).
Münchhausiaden-Kaleidoskop Erinnert sei nur an ein paar bekannte Episoden: Münchhausens Hengst wird durch ein Fallgitter zweigeteilt. Während der Baron unwissend mit der vorderen Hälfte zur Tränke reitet, vergnügt sich die hintere Hälfte auf der Wiese mit Stuten. Er bindet in einer Winternacht sein Pferd – wie er glaubt – an einen Pfahl, der aber in Wirklichkeit die Spitze des Kirchturms ist. Nach der Schneeschmelze baumelt das Pferd am Turm. Er schiesst mit seiner Pistole den Halfterriemen durch, das Pferd fällt herunter und er kann die Reise fortsetzen. Sein in den Schnee gefallenes Messer holt er mittels eines gefrorenen Harnstrahls wieder herauf. Oder er wirft seine Axt so weit, dass sie auf dem Mond landet. Mittels einer Bohnenranke steigt er hinauf, um sie zu holen. Auffallend häufig sind unzimperliche Tier- und Jagdabenteuer: Münchhausen fängt mit einer beköderten Leine Enten, die plötzlich im Schwarm starten und ihn durch die Lüfte tragen. Er schiesst einem Hirsch eine Ladung Kirschkerne aufs Haupt, worauf statt einem Geweih ein Kirschbaum spriesst. Er jagt einen achtbeinigen Hasen, lässt einen Fuchs aus dem Fell springen, schiesst Hühner mit dem Ladestock und fasst
Münchhausen-Bibliothek Zürich
Die wohl bedeutendste Münchhausen-Bibliothek befindet sich (wie die grösste Robinson-Bibliothek) in der Schweiz. Sie wurde 1993 von Kunsthistoriker Berhard Wiebel in Zürich als private Forschungsbibliothek gegründet. Zu Münchhausen fand Wiebel indirekt über den Schweizer Maler und Karikaturisten Martin Disteli und dessen Münchhausen-Illustrationen aus dem 19. Jahrhundert. Heute umfasst seine Sammlung über 3900 Einheiten, vorab Bücher und Illustrationen, aber auch wissenschaftliche Literatur, Spezialthemen und Objekte. Im Mai erscheint ein neues Buch: Howald/Wiebel, Das Phänomen Münchhausen – neue Perspektiven. www.muenchhausen.ch
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einem Wolf in den Schlund und wendet sein Inneres nach aussen. Drastischer noch: Der Baron fährt im Pferdeschlitten, als ein Wolf sein Pferd angreift, total auffrisst und dann, im Geschirr steckend, die Aufgabe des Pferdes übernimmt.
Lügenhaft verkappte Wahrheit
Schliesslich noch zwei Beispiele mit Erklärung des wahren
Kerns: Wenn Münchhausen sich am eigenen Zopf samt sei-
nem Pferd aus dem Sumpf zieht, kann dies als Parabel zur
Dialektik der Aufklärung verstanden werden (Rettung dank
Willensstärke: Wenn du eine hilfreiche Hand suchst, schau
ans Ende deines Arms!). Beim Ritt auf der Kanonenkugel
zwecks Auskundschaftung der gegnerischen Stellung wech-
selt er am Scheitelpunkt auf eine entgegenfliegende feindli-
che Kugel und reitet unverrichteter Dinge zerknirscht zurück,
weil er plötzlich Angst hat, gefangengenommen und getötet
zu werden. Das heisst, in Todesangst trifft er eine zwar pein-
liche, aber lebensrettende Entscheidung: lieber ein lebender
Feigling, als ein toter Held. Das scheinen selbst die Illustra-
toren (der über 1000 Bilder!) nicht alle begriffen zu haben.
Wer weiss, vielleicht freut’s Münchhausen, wenn er nun ge-
rade auf Wolke sieben statt auf einer Kanonenkugel reitet,
doch ein bisschen, zu sehen, dass man seiner – nicht nur auf
Briefmarken und Münzen – immer noch gedenkt, ja dass
sogar ein Asteroid seinen Namen trägt. Finale Moral von der
Geschicht’: Münchhausen war kein tantenhafter Märchen-
onkel, sondern ein zeitkritischer Vordenker. Chapeau, Herr
Baron!
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Korrespondenzadresse: Heini Hofmann Zootierarzt und freier Wissenschaftspublizist Hohlweg 11 8645 Jona
© Bilder: Münchhausen-Bibliothek Zürich und Münchhausen-Museum D-Bodenwerder