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Kunst als Behandlungsoption
Teil 2: Kunsttherapie bei somatoformen Störungen
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Unter dem Begriff «funktionelle Körperbeschwerden» wird heute ein breites Spektrum an Beschwerdebildern und Syndromen subsumiert, darunter somatoforme Störungen. Diese umfassen Belastungsstörungen und funktionelle Syndrome wie Fibromyalgie, Reizdarm, chronische Erschöpfung, kraniomandibuläre Dysfunktion und verschiedene Arten unklarer Schmerzen wie chronische, nicht spezifische Rücken-, Gesichts- oder myofasziale Schmerzen. Für Hausarztpraxen werden bezüglich funktioneller Körperbeschwerden Häufigkeiten zwi-
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schen 20 und 50 Prozent angegeben, und in der allgemeinen Bevölkerung bilden diese mit zirka 10 Prozent Prävalenz eine der häufigsten Krankheitsentitäten. Neben ärztlicher Beratung und symptombezogener Medikation werden häufig Psychotherapie, Physiotherapie und nonverbale Therapien wie die Kunsttherapie eingesetzt. Der nachfolgende Bericht ergänzt abschliessend den Beitrag über die Fallbeispiele aus der Praxis der fünf Kunsttherapierichtungen («doXmedical» 3/19).
Magendruck ins Bild setzen
Fachrichtung Gestaltungs- und Maltherapie
In dieser Fachrichtung lernen die Klienten, ihre Beschwerden durch Malen und Gestalten zum Ausdruck zu bringen. Wir beginnen mit freien Bildern (Abbildung 1). Beim Malen ermutige ich sie, Körpersymptome wahrzunehmen und die Beschwerden auch auszusprechen. Sobald die therapeutische Beziehung gefestigt ist, werden die Klienten eingeladen, ihre somatischen Beschwerden nicht nur zu verbalisieren, sondern die momentane Körperwahrnehmung direkt ins Bild zu schreiben (z.B. Rückenschmerz, Bauchweh, Magendruck usw.). Dies ist im ersten Moment oft schwierig, doch mit der Zeit erleben die Klienten das Aufschreiben als Erleichterung. Ihre Symptome sind ja tatsächlich vorhanden und werden von den Betroffenen als sehr belastend erlebt, verbunden mit dem Gefühl: «Ich bilde mir das doch nicht ein.» Nein, die Körperwahrnehmungen sind vorhanden, wie die Bilder deutlich zeigen (Abbildung 2). Dabei akzeptiere ich ihre Erklärungen für die Beschwerden, die zu Beginn anscheinend oft keine psychische Ursache haben, und nehme sie ernst. Durch den kreativen Ausdruck und das Sich-ernst-genommen-Fühlen erfahren die Klienten eine erste Entlastung, die sich häufig in einer markanten Stressreduktion während der Gestaltungsphase zeigt. Sie lernen, Beschwerden jeglicher
Abbildung 1
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Art immer mehr anzunehmen und den mit der Schmerzwahrnehmung verbundenen Stress zu verändern. «Was nehmen Sie sonst noch wahr?» ist die nächste weiterführende Frage im therapeutischen Prozess. Erstaunlich ist, wie die Klienten auf einmal Gefühlswahrnehmungen und Gefühlsregungen zum Ausdruck bringen können, wie beispielsweise Angst, Leere, Wut oder Hoffnungslosigkeit.
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Abbildung 2
Auch diese Wahrnehmungen lasse ich sie ins Bild schreiben. Die Klienten beginnen in dieser Phase zu akzeptieren, dass
auch psychische Ursachen für ihre Beschwerden möglich sein könnten. Durch diese Auseinandersetzung gewinnt der Klient immer mehr an Sicherheit, nicht an einer ernsthaften Krankheit zu leiden. Die therapeutische Arbeit trägt Früchte: Die Klienten nähern sich weiter ihren Gefühlen an, und über das zunehmende Verständnis der eigenen Körperreaktionen wird ein neuer Zugang zu den eigenen Wünschen und Bedürfnissen möglich. Dieser Zugang ist oft aufgrund traumatischer Erfahrungen abhandengekommen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Probleme bei der Wahrnehmung, der Verbalisierung und dem Zugang zu Gefühlen in der Gestaltungs- und Maltherapie als zentrales Merkmal somatoformer Störungen erscheinen, bei denen die Gestaltungs- und Maltherapie unterstützend eingreifen kann.
Ulrike Breuer, Kunsttherapeutin (ED) Fachrichtung Gestaltungs- und Maltherapie. ulrike.breuer@kreativ-therapie.ch
Splittrige Kanten schützen
Fachrichtung Intermediale Kunsttherapie
Nach einer ersten Phase des gegenseitigen Kennenlernens kann sich Herr B. immer mehr auf die Vorschläge der Therapeutin einlassen, etwas zu gestalten. Als gelernter Zimmermann arbeitet er gern mit Holz und bringt ein Stück Buche mit in die Praxis. Buche sei kaum auszurotten und auch unter widrigen Umständen sehr durchsetzungsfähig, erklärt er. Beim näheren Betrachten des Materials entdecken wir eine Figur. Sie scheint schon länger darin zu verharren. Möchte sie befreit werden? Was sie wohl braucht? Körperhaltung und Gesichtsausdruck der Gestalt weisen auf Trauer und Schmerzen hin. Sie erinnere ihn an seine Mutter. Nach dem Verlust ihres jüngsten Kindes flüchtete sie sich in die Arbeit, um der Trauer zu entkommen. Unterbrochen wurde sie jeweils nur durch Migräneanfälle. Sie sei eine sehr strenge Mutter gewesen, die ihre beiden Söhne hart bestraft habe, wenn sie nicht die erwarteten Leistungen gebracht hätten. Schutz und Trost fand Herr B. bei seinem Grossvater. Er genoss dessen ruhige und besonnene Art, lernte von ihm die Natur und die Tiere zu achten und zu lieben. Diese Ressource konnten wir nutzen. Durch das Zeichnen von Szenen aus der Zeit mit dem Grossvater wurden diese stärkenden Erfahrungen überhaupt erst bewusst erinnert und ihre wohltuende Wirkung auch körperlich spürbar. Wie seine Mutter wird auch Herr B. regelmässig von Migräneanfällen heimgesucht. Zusätzlich leidet er an starken Rü-
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cken- und Knieschmerzen. Die Schmerzen belasten ihn psychisch immer mehr, und die zunehmende psychische Belastung verschlimmert ihrerseits die Schmerzen. Schuldgefühle, Versagens- und Zukunftsängste plagen den dreifachen Vater. Er fürchtet, den Erwartungen seines Arbeitgebers und seiner Familie nicht zu genügen. Auffällig erscheint dabei, mit welcher Strenge und Härte er von sich spricht, wenn er wegen der Schmerzen nicht wie gewohnt funktioniert. Der Druck, den Erwartungen anderer nicht zu genügen, ist lange Thema in der Therapie. Als er einen Schutz für sich gegen diesen Druck gestalten soll, wählt er wieder als Material Holz. Zum entstandenen Gebilde sagt er, es sei halt nicht perfekt, zeigt auf Kanten, die voller Splitter sind und nicht glatt. Vielleicht schützten splittrige Kanten mehr als glatte, antwortet die Therapeutin. Dieses Zeigen von Ecken und Kanten erforschen sie nun gemeinsam durch Gesten und Mimik, Körperhaltung, Stimme und im Rollenspiel. Immer wieder fragt sich Herr B., wie weit er beim Beschützen der eigenen Grenzen gehen darf. Auf die Ermunterung der Therapeutin, zu experimentieren und Verschiedenes auszuprobieren, bis es sich stimmig anfühlt, reagiert er mit grossem Erstaunen. Das habe er noch nie gedurft. Er musste von Anfang an immer alles richtig machen. Anstatt perfekte Werke zu gestalten, lernt Herr B. allmählich, dem Gestaltungsprozess zu folgen und auf sein inneres Er-
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leben zu achten. Bedrohliche Gefühle, die bei scheinbaren Fehlern entstehen, kann er immer besser zulassen und integrieren. Unwägbarkeiten im Gestalten bieten Gelegenheit, die Realisierbarkeit einer Idee oder überhöhte Ansprüche zu überprüfen. Anstelle von Frustration und Kränkung kann er bei wachsendem Selbstwertgefühl Freude und Stolz am erschaffenen Werk empfinden. Diese Erfahrungen in der Therapie verändern sein Verhalten im Alltag nachhaltig. Anstatt um jeden Preis und ohne Rücksicht auf die eigenen Grenzen
durchzuhalten und im Nachhinein Schmerzen in Kauf nehmen zu müssen, kann er heute bei der Arbeit rechtzeitig Pausen einlegen oder um Hilfe bitten. Ausserdem liebt er es, an der Sonne zu sitzen und die Katze zu streicheln, und verbringt mehr Zeit mit der Familie in der Natur. All das reduziert seinen Stress und auch die Schmerzzustände weiter.
Kiki Papadopoulou, Kunsttherapeutin (ED) Fachrichtung Intermediale Kunsttherapie. info@kunsttherapie08z.ch
Klingendes Reisen in unerlöste Vergangenheit
Fachrichtung Musiktherapie
Frau K. (39) war in ihrem Unternehmen engagiert und voller Leidenschaft tätig. Nach einer Weisheitszahnextraktion mit anschliessender Antibiotikatherapie erlitt sie eine heftige Clostridien-Infektion. Sie bekam zunehmende, im Körper wandernde Schmerzen. Geschwächt und mit reizdarmähnlichen Beschwerden fühlte sie sich auch psychisch immer mehr angeschlagen. Ängste und Zukunftssorgen in Bezug auf ihre Gesundheit nahmen immer mehr Platz ein. Frau K. nutzte ganzheitliche Behandlungsmethoden, die ihr wieder zu einem besseren physischen und psychischen Zustand verhalfen, als ganz plötzlich heftige Zahn-, Kopf- und Gelenkschmerzen auftraten. Sie geht wieder durch verschiedene medizinische Abklärungen – ohne jeglichen Befund. So kommt sie in die Klinik, verunsichert, desillusioniert und trotz allem stark lösungsorientiert. In der musiktherapeutischen Arbeit begegne ich einer hochintelligenten, kreativen und äusserst konstruktiv denkenden Frau, die sensibel die Bedürfnisse ihrer Umgebung und die Fakten erfasst – selbst in ihrer fast unerträglichen Schmerzsituation. Indiziert wegen der akuten Erschöpfungs- und Schmerzzustände beginnt die Musiktherapie mit Vibrationstherapie auf der Tao-Klangliege (Klangbett) und mit Stimmgabeln. Frau K. eröffnen sich über die körperliche Wahrnehmung der Klänge und das Selbsterleben neue Perspektiven. Im Klangbett tauchen ihr innerlich wichtige Ressourcen auf: Orte, Menschen und Situationen. Die Klangbettsitzung beginnt mit einer Fragestellung, mit der sie in eine durch das Spiel der Therapeutin ermöglichte Tiefenentspannung eintaucht. Nach einer anschliessenden Ruhe von 10 Minuten kehrt die Patientin ins Hier und Jetzt zurück. Im Gespräch werden die inneren Erlebnisse aufgearbeitet. Meist geben sie in Bildsprache Antwort auf die Fragestellungen. Mittels aktiver Musiktherapie werden anschliessend Funktionsweisen hörbar und neue Handlungsweisen erfahrbar
Korrespondenzadresse: OdA ARTECURA Dietrich von Bonin MME Kunsttherapeut ED Rainweg 9H 3068 Utzigen
gemacht. Bei Frau K. kristallisiert sich heraus, dass sie durch
ihre konstruktive Denkweise und ihre sensible Art immer die
Bedürfnisse und Funktionsweisen der anderen sofort erfasst
und darauf eingeht. Noch bevor sie eigene Emotionen, vor
allem Wut und Trauer, wahrnehmen kann, versteht ihre
Gedankenwelt das Gegenüber und produziert eine logische
verständnisvolle Antwort. Teil des Heilungsprozesses ist es,
diesen «Verständnisautomatismus» zu unterbrechen und
eigene Befindlichkeiten zu Wort kommen zu lassen, was
aktuell durch die starken, wandernden Gliederschmerzen
erzwungen wurde. Ihr Körper erschien fast auf die Struktur
reduziert, ohne jegliches «Polster». Der Klang der Instru-
mente hilft, eine unsichtbare Hülle zu schaffen, in der der
Schmerz zurück in Gefühle transformiert werden kann.
Frau K. war früher sehr lebensfreudig und unternehmungs-
lustig, jedoch mit einer Tendenz zur Askese. Oft ass sie einen
Tag lang nichts oder schlief zu wenig, ohne Mangel zu ver-
spüren. Auch hier galt es, Rhythmus und Harmonie in den
Alltag zu integrieren. Frau K. verlässt die Klinik nach zwei Mo-
naten mit reduzierten Schmerzen und mit besserem Zugang
zu ihren Gefühlen und Bedürfnissen, einem neu gewonnenen
Vertrauen in ihren Körper und neu gewonnenem Bewusst-
sein für das ausgewogene Mass in allen Dingen.
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Aurelia Delin, Kunsttherapeutin (ED) Fachrichtung Musiktherapie. aurelia.sickert-delin@klinik-arlesheim.ch
Literatur: 1. S3-Leitlinie «Funktionelle Körperbeschwerden» AWMF-Reg.-Nr. 051-001. 2. Lacroix L, Peterson L, Verrier P: Art Therapy, Somatization and Narcissistic Identification. Art Therapy, Journal of the American Art Therapy Association 2001; Volume 18, Issue 1. 3. Koch S, Kunz T, Lykou S, Cruz R: Effects of dance movement therapy and dance on health-related psychological outcomes: A meta-analysis. The Arts in Psychotherapy 2014; 41: 46–64. 4. Kellerman PF: Concretization in psychodrama with somatization disorder. The Arts in Psychotherapy 1996; 23 (2): 149–152.
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