Transkript
3 • 2019
Editorial
Wir digitalen Immigranten
So langsam ahnen wir «digital immigrants», die wir im Gegensatz zu den «digital natives» die digitale Welt erst im Erwachsenenalter kennengelernt haben, was Digitalisierung bedeutet. Lange war es ein Schlagwort, unter dem wir uns nichts Konkretes vorstellen konnten. Schon gar nicht waren wir uns der Folgen der Digitalisierung bewusst. Bei den einen mag die Vorstellung, dass der Kühlschrank in Zukunft Milch und Butter selbstständig bestellen wird, einen AhaEffekt ausgelöst haben, bei andern die Erkenntnis, dass wir zum gläsernen Konsumenten mutiert sind, über die Migros, Coop und die Kreditkartenfirmen so ziemlich alles wissen, bei den dritten waren es vielleicht die Diskussionen über die ethischen Fragen bei der Softwareentwicklung autonomer Autos. Wobei, weit über den Aha-Effekt sind wir noch nicht hinaus. Daten, auch das ahnen wir nur, werden in Zukunft die entscheidende Währung sein. Kommunikation, Datenvernetzung, Abläufe, Produktion werden sich wohl ändern, vermutlich sogar Teile unseres Zusammenlebens und unseres Arbeitens, eigentlich unsere Gesellschaft. Na ja, die Älteren unter uns werden die Auswirkungen der Industrie 4.0 wohl nur noch am Rande mitkriegen, für die Jüngeren hingegen wird einiges anders werden. China macht schon mal vor, was möglich ist: Totale Kontrolle des Staates über die Individuen, inklusive Verhaltenssteuerung mittels Belohnung und Strafe. Grässliche Aussichten. Unerträglich, aber wer weiss: für unsere Nachfahren eines Tages vielleicht völlig normal. In der Medizin werden die Digitalisierungsfolgen ebenfalls immer deutlicher sichtbar. Bereits heute wissen die Versicherer immer besser Bescheid über uns und unser Gesundheitsund Risikoverhalten, denn Puls und Blutdruck, Einkaufs- und Ernährungsgewohnheiten, Sportpräferenzen, Bewegungsverhalten und vieles andere teilen viele von uns ja bereitwillig über scheinbar harmlose und hilfreiche Apps. Auch die Wahrscheinlichkeit künftiger Krankheiten wird aus statistischen Daten und dereinst üblichen genetischen Analysen leichter berechenbar. Damit stellen sich neue Fragen – für jeden Einzelnen wie für die Gesellschaft. Zum Beispiel die: Bin ich und sind wir bereit, höhere Krankenkassenprämien zu
bezahlen wegen Leuten, die sich ungesund ernähren, Infektionsrisiken auf sich nehmen, wenig schlafen, zu viel arbeiten, Alkohol trinken, kiffen, ständig in Beziehungsproblemen stecken und deshalb depressiv sind? Für «couch potatoes» und Übergewichtige? Wird es dann Zusatzversicherungen geben oder Sonderfonds für «Asoziale» (wobei asozial dereinst vielleicht BMI 29+ heisst)? Und wie gehen wir mit Leuten um, die sich strikte weigern, Daten zu generieren und zu teilen – den digitalen Verweigerern? Die ums Verrecken alles mit Bargeld zahlen, kein Smartphone nutzen, sich um das Internet der Dinge foutieren und ihre Gene unerkannt wirken lassen. Wird Verweigerung mit sozialen Nachteilen oder höheren Prämien sanktioniert? Was heisst Solidarität in diesem Zusammenhang? Gibt es in liberalen Ländern doch noch die «Gnade des Nichtwissendürfens»? Aber auch der schönste aller Berufe könnte bald einmal anders aussehen. Intelligente Diagnostiktools im Zusammenspiel mit zusammengeführten statistischen Daten werden vielleicht zuverlässigere Diagnosen stellen als der alte Hausarzt. Klar, dass die korrekte Therapie dann ebenfalls nicht mehr von uns gefunden werden muss, sondern von einer künstlichen Intelligenz (KI) vorgegeben wird. Die KI-generierten Prognosen werden weitaus zuverlässiger sein als die des erfahrenen Doktors. Braucht’s uns dann überhaupt noch? Oder werden wir von Technikern auf der einen, Sozialarbeitern und Psychologen auf der andern Seite abgelöst? Dummerweise entspringen alle diese Fragen nicht nur der Phantasie der Autoren von Science-Fiction-Serien («Black Mirror» auf Netflix lässt grüssen), sondern werden innert absehbarer Zeit virulent und müssen beantwortet werden. Oder werden schlimmstenfalls beantwortet, ohne dass man sie uns zuvor vorlegt und eine politische Diskussion darüber zulässt. Das wäre dann das Ende der Eigenverantwortlichkeit durch Digitalisierung. Science Fiction wird zu Social Reality. Noch ist das spannend. Hoffen wir, dass wir «Immigranten» die Entwicklung nicht schon bald als Alptraum erleben!
Richard Altorfer und Peter H. Müller
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