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Standespolitik
3 • 2019
Chaos oder die drei fehlenden K (KKK)!
Blick auf das schweizerische Gesundheitswesen
Unser eigentlich gutes Gesundheitssystem bedürfe dringend runder Tische,
Von Herbert Widmer
ersten 40 jungen Kolleginnen und Kollegen stehen nun in der Ausbildung zum Master. Gar
Analysen und insbesondere neuer Kon-
mancher Politiker zitiert immer wieder den
zepte, um die wachsenden – auch personellen –
Bericht der Expertengruppe Berset (Vorsitz: alt Ständerätin
Anforderungen im Praxis- und Spitalbereich mit den
Verena Diener). Als ihm anlässlich eines Seminars im Frühjahr
gleichzeitigen Forderungen nach Kostensenkungen
2019 vom Moderator Zitate daraus vorgelegt wurden, erklärte
und dem Wunsch nach moderner, patientenorien-
der Gesundheitsökonom Tilman Slembeck, der Gesprächslei-
tierter Medizin unter einen Hut zu bringen. Die
ter dürfte einer der wenigen (oder der Einzige) sein, welcher
nachfolgende Stellungnahme unseres Autors ist ein
den Bericht nicht nur zitiert, sondern auch ganz gelesen hätte!
Aufruf, die Zukunft des Gesundheitswesens nicht
(Kompliziert, aber klar!). Haben Sie in dem Bericht ein noch
allein der Politik zu überlassen, sondern bei der Ge-
nicht bekanntes erfolgversprechendes Konzept erkannt?
staltung aktiv mitzuwirken.
Patient im Mittelpunkt?
Bevor ich mir Kritik am schweizerischen Gesundheitswesen
Im Mittelpunkt des Gesundheitswesens soll beziehungs-
erlaube, sind mir folgende Aussagen wichtig: Unser Land
weise muss der Mensch, der Patient stehen. Er tut dies oft,
nennt ein gutes bis sehr gutes Gesundheitswesen sein Eigen!
aber eben immer wieder zu wenig. In recht vielen Fällen fühlt
Wissensstand und Fortschritt sind gut, in den meisten Fällen
sich der Patient allein, sei es, dass niemand genügend Zeit
sind die Wartezeiten für die Patientinnen und Patienten kurz,
für ihn hat beziehungsweise sich nimmt, dass die zuständi-
das medizinische Personal und die Ärzteschaft sind meist
gen Stellen erwarten, dass er selbst recherchiert und Ant-
sehr engagiert und patientenbezogen. Zugegeben, die ver-
worten auf seine Fragen findet, dass bei der Telemedizin die
schiedenen Generationen von Ärztinnen und Ärzten sind un-
«behandelnde» Ärztin aus dem Bildschirm guckt, dass ihm
terschiedlich, jede hat viele Vor-, aber auch Nachteile.
der Arzt kaum in die Augen blickt, sondern lieber den PC kon-
Aber nur das Gute zu sehen und Mängel in unserem Gesund-
taktiert, dass er im Internet wohl eine Erklärung für seine
heitswesen zu übersehen, würde bedeuten, den Kopf in den
Symptome findet, allerdings oft die falsche, was seinen Fall
Sand zu stecken und auf die Möglichkeit von Fortschritt brin-
oft «komplizierter und teurer» macht. Es ist zu hoffen, dass
genden Diskussionen und Verbesserungen «freiwillig» zu
sich dieser Aspekt des «Patienten im Mittelpunkt» wieder
verzichten. Dass die Bereitschaft zu tiefgreifendem Mei-
vermehrt durchsetzt!
nungsaustausch in unserem Lande trotz Demokratie und
Freiheit nicht allzu gross ist, ist leider nicht zu leugnen und
«Ambulant vor stationär» (AVOS)
sehr zu bedauern.
«Ambulant vor stationär», für die einen eine grosse Errun-
genschaft, mit enormen Spareffekten. Für andere ein
Das erste K als Teillösung des Rätsels
Schnellschuss mit unklaren Auswirkungen. Die Beurteilun-
Lösen wir das erste Rätsel um das erste fehlende K. Im schwei-
gen beziehungsweise die Erfolgsberichte über dieses Projekt
zerischen Gesundheitswesen fehlt ein brauchbares Konzept –
könnten nicht unterschiedlicher sein. Die Konsequenzen aus
oder kennen Sie ein solches? Im Spitalbereich? In der Behe-
dieser nicht einfachen Umstellung der Patientenbehandlung
bung des Mangels an Pflegepersonal und an Ärztinnen und
beziehungsweise ein konsequentes entsprechendes Konzept
Ärzten? Eine vom Parlament des Kantons Luzern in Auftrag ge-
stehen noch aus, werden doch in der ganzen Schweiz noch
gebene Studie über den Bedarf an auszubildenden Schweizer
intensiv neue stationäre Einrichtungen geplant und gebaut,
Ärzten kam unter «Berücksichtigung» völlig falscher Prämis-
so zum Beispiel im Sinne gegenseitiger Konkurrenzierung
sen zum Schluss, dass keine zusätzliche Arztausbildung nötig
der Aufbau von quantitativ hochstehenden Privatzimmern.
sei. Die Studie wurde dem Parlament gar nie vorgelegt, die
Auch hier stellt sich die Frage: Wer übernimmt schlussend-
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lich die Verantwortung bei aus AVOS entstehenden Zwischenfällen? Oder ist der eigentliche Beweggrund für AVOS die Tatsache, dass der Kanton im stationären Bereich 55 Prozent der Kosten zu übernehmen hat, im ambulanten Bereich aber nicht, also eine Umverteilungsübung? Oder ist hier ein erfolgversprechendes Finanzierungskonzept angedacht?
Und die Politik? Wenn etwas schief oder gar nicht läuft, findet man bei uns schnell einen Schuldigen. Im Gesundheitswesen könnten die Schuldigen immer wieder die Politiker oder die Politik allgemein sein. Nun, ein «grösseres Körnchen Wahrheit» steckt sicher dahinter. Da ist der schon genannte «Grundsatz» zu nennen, sich das Grundlagenwissen zum Beispiel aus dem erwähnten Expertenbericht, nicht durch dessen Studium, sondern durch das eilige Lesen einer Zusammenfassung (Factsheet) zu erwerben. Findet man darin einen eigenen Gedanken bestätigt, ist nichts leichter, als sich darauf zu konzentrieren und darauf herumzureiten. So dürften etwa die Parteiprogramme mit Kostendämpfung (CVP), 10 Prozent Prämienschwelle (SP), hoher Franchise und absoluter Selbstverantwortung (FDP) und anderes mehr entstanden sein, welche man «durchs Band» als alleinseligmachend vertritt. Im Notfall werden unheilige Allianzen geknüpft, um ein Ziel zu erreichen; um mögliche Kompromisse kümmert sich Mann oder Frau lieber nicht. Studien und Berichte werden zitiert, wenn diese zur eigenen Meinung passen.
Der Einfluss der Medien Die Medien spielen in vielen Bereichen eine wichtige Rolle. Und doch: Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen, dass in 50 Prozent der Artikel auch in schweizerischen Medien – auch im Gesundheitswesen – das Wort «Anzeige» als Überschrift stehen sollte (vgl. diverse Bücher über gekauften Journalismus). Ein gewisser Prozentsatz der Artikel über das Gesundheitswesen – hier sind nicht die wissenschaftlichen gemeint – sind gut recherchiert und fundiert. Aber ob es genügend sind, um zu einer fundierten Meinungsbildung der Leserschaft beizutragen? Ob hier die Unabhängigkeit gewährleistet ist?
Der Bereich der Spitäler Die bekannten Bauten des Universitätsspitals Zürich, in welchen recht viele unter uns ihre Lehrjahre absolviert haben, sollen bald praktisch vollständig niedergerissen und nach einigen Jahren im «Exil» an gleicher Stelle neu wieder eröffnet werden. Ein Milliardenprojekt! Grosse Baugruben für Neubauten finden sich in der Schweiz auf recht vielen Spitalarealen. Wie schon erwähnt sind vielerorts Luxuszimmer für
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vermögende Privatpatienten im Bau oder in Planung, echte regionale Spitalkonzepte sind noch rar.
Spitäler und das «Leinenproblem» Ja, da gehen die Meinungen weit auseinander! In der Zentralschweiz sollen die Spitäler in eine AG überführt werden, um ihnen eine lange Leine – eine grosse Freiheit – zu gewähren. Entgegen anderen Feststellungen würde dies die parlamentarischen Kompetenzen (= Bevölkerung) deutlich einschränken. Um dem entgegenwirken zu können, soll die klare Regelung der Befugnisse in OR Art. 698 I «Der Generalversammlung stehen folgende unübertragbare Befugnisse zu: Die Festsetzung und Änderung der Statuten» gebeugt und die Kompetenz bezüglich der Statuten dem Parlament übertragen werden. Streitereien und Kompetenzgerangel dürften vorprogrammiert sein! In einigen Kantonen sind die Pläne für eine AG-Bildung gescheitert, unter anderem in Zürich (inkl. Winterthur), Baselstadt und -land. Alt Regierungsrat Thomas Heiniger (ZH) hat als praktisch letzte Amtshandlung ein Projekt für eine «Kürzung der Leine» vorgelegt, dies vor allem aufgrund seiner Sorgen vor einer Überversorgung.
Spitalfinanzierung PWC erläutert in ihren jährlichen Spitalberichten, dass ein recht hoher Prozentsatz der Spitäler den existenzsichernden EBITDA-Wert von 10 Prozent nicht erreicht. Der Lösungsvorschlag aus der gleichen Küche lautete: «Die Spitäler müssen Fälle generieren und die Patientenströme zu sich leiten» – dies im Sinne der Senkung der Gesundheitskosten? Es ist allgemein bekannt, dass die Tarife im Bereiche der Psychiatrie – auch der stationären – nicht kostendeckend sind. Da helfen gewisse Kantone mit gemeinwirtschaftlichen Leistungen (GWL) nach. Kosten versucht man auch mit Billigeinkäufen von Medikamenten und Material aus Billigländern zu senken, zum Teil mit sehr unerwünschten Folgen. Einzelne Spezialmedikamente erreichen heute Preise in sechs- bis siebenstelliger Höhe. Die dazu notwendige ethische Diskussion ist aber erst oberflächlich angelaufen. Ein Konzept …
Und das medizinische Personal? Das medizinische Personal ist für unser Gesundheitswesen einer der wichtigsten Faktoren. Die einen «Experten» behaupten, wir hätten zu viele davon (z.B. Ärzte), andere stellen schwere Bestandesmängel fest. Mancherorts wird versucht, auf Kosten des Personals zu sparen (Arbeitszeit, Entlöhnung), die Mitsprache ist wohl eher gering, Pflichten sind meist grösser als Rechte. Ob die zuständigen Stellen erkennen, dass hier positive Massnahmen und eben Konzepte angezeigt sind?
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Ärztin und Arzt Wir Ärzte haben das Privileg, einen der schönsten Berufe ausüben zu dürfen. Und doch, auch unser Berufsumfeld hat sich enorm gewandelt. Halt, nicht nur das Umfeld, wohl mancher unter uns selbst, seine Einstellung zu Beruf und Patient. Nicht zu lösende Meinungsverschiedenheiten unter den Ärzten eines Kinderspitals sind eines der entsprechenden Symptome, die Flucht praktizierender Ärzte in die Arme von Praxisgruppen, wo sie zwar einen grossen Teil der Verantwortung und des Risikos – aber auch der Mitsprache – abgeben können, oft aber nicht so behandelt werden, wie sie es gerne hätten, ein weiteres. Schätzen würde ich es, wenn unser Berufsverband neben vielem Positiven sich aktiver im Informationsumfeld und in der Berufspolitik engagieren würde.
Die allgegenwärtige Digitalisierung Allein über dieses Thema könnte man Dutzende von Seiten schreiben. Als ich Anfang der 1980er-Jahre einen Commodore Amiga mein Eigen nannte und mir der Weltraumexperte Bruno Stanek ein Softwareprogramm mit weniger als einem MB anbot, glaubte ich mich schon im digitalen Himmel. Schon bald erkannten manche unter uns, dass «es» nicht gehen würde ohne Schnittstellen und Standards. Als Bundesrat und BAG zirka 2015 erklärten, diese Aufgabe und die entsprechenden Entwicklungsarbeiten hätte jeder Kanton selbst zu übernehmen (AI: 14 000 Einwohner; ZH: 1,4 Mio. Einwohner), staunten wir allerdings. Im November 2017 beantwortete die BAG-Direktorin Salome von Greyerz an der Health Academy in Bern die Frage, ob das BAG noch nicht erkannt hätte, dass die entsprechenden Entwicklungs- und Koordinationsaufgaben zu seinen Pflichten gehöre: «Doch, wir haben soeben damit begonnen und werden 18 Monate dafür benötigen.» Auch hier fehlt mir das erste K (Konzept). In grösseren Spitälern wird an ebenso grossen Softwareprojekten gearbeitet, deren Einführung steht teilweise unmittelbar bevor. Einer der grössten Vorteile solcher Software dürfte die Vernetzung von stationären und ambulanten beziehungsweise praktizierenden Leistungserbringern sein. Doch gestatten Sie mir die Frage: Wo besteht ein echtes Konzept, zusammen die wichtigsten Schritte zu erarbeiten, tiefgehende Analysen und Diskussionen zum Beispiel über die gegenseitigen Bedürfnisse zu führen? Wahrscheinlich gibt es dies, ich kenne aber Fälle, in welchen es bei rein informellen Gesprächen ohne echte Zusammenarbeit blieb. Wenn dazu Versuche kommen, die Praktizierenden beziehungsweise deren Patienten mit Hilfe der Vernetzung voll an sich zu binden (durch ausnahmslose Überweisung), hört die «konzeptreiche Vernetzung» klar auf!
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Die Krankenkassen und Versicherer O doch, Krankenkassen haben Konzepte, nur jede Versicherungsgruppe ein eigenes, untereinander anscheinend nicht kompatibel. Die Verhandlung um ein neues Tarifsystem lassen grüssen. Curafutura hat mit den Ärzten einen Kompromiss gefunden, santésuisse winkt mit einem sehr kritischen Blick von Weitem und ist in keiner Weise einverstanden. Mit Hilfe des Bundesrates mit massiven Eingriffen im Medikamentenbereich hat man erreicht, dass heute gegen 800 Medikamente nicht lieferbar sind. Sinnvoll? Kostensparend?
Was soll das Ganze? Geht es mir hier darum, auf überhebliche Weise auf die Fehler anderer aufmerksam zu machen? Keineswegs, wir alle machen Fehler. Wenn wir aber nicht erkennen, dass wir in gemeinsamer Arbeit endlich Konzepte mit Zielen und Analysen von möglichen Wegen zur Erreichung dieser Ziele, mit Beurteilung von «Förder- und Hindernissen» auf diesem Wege, mit klarer Zeitachse und gemeinsamer Aufgabenerfüllung erarbeiten müssen, dann sehe ich erhebliche Schwierigkeiten auf unser Gesundheitswesen zukommen!
Chaos oder KKK? Ach ja, ich bin Ihnen noch die Erklärung für das zweite und dritte K schuldig. Ganz einfach: neben Konzepten braucht es auch viel Bereitschaft zu Kompromissen und zu Konsens. In der heutigen Politik mit Polarisierungen ist diese Bereitschaft weitgehend verloren gegangen: Beweisen wir doch als «blaue Player» im Gesundheitswesen, dass wir dazu fähig und willens sind. Es dürfte für uns alle von Vorteil sein!
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Korrespondenzadresse: Dr. med. Herbert Widmer Innere Medizin FMH 6006 Luzern
DoXli meint:
Wer denkt, alles werde teurer, sollte mal versuchen, etwas zu verkaufen.