Transkript
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300 Jahre Robinson Crusoe – erfolgreichster Selbstversorger
Meistgedrucktes Buch nach Bibel und Koran
Heute fragt man sich verwundert, woher solch generationenübergreifende Robin-
Von Heini Hofmann
nade» basiert auf dem 1719 erschienenen Welthit «Das Leben und die höchst merkwürdigen
sonaden-Begeisterung stammt. Vielleicht
Abenteuer des Robinson Crusoe», angeblich
hat sie mit dem Urtraum zu tun, als Zivilisations-
«von ihm selbst geschrieben».
mensch dank Aktivierung schlummernder Instinkte
In Tat und Wahrheit stammt dieser Best- und Longseller, bei
in einer unwirtlichen Abgeschiedenheit überleben zu
dem sich Nachdrucke, Raubkopien und Plagiate nur so jag-
können .
ten, von dem Universalpublizist Daniel Defoe (1660–1731),
der des öftern anonym publizierte. Sein «Robinson», den er
Mit dem Begriff «Robinson» verbinden sich neben Alltags-
im Alter von 59 Jahren schrieb, ist ein erfundener und teil-
entrückung, Einsamkeit und Naturverbundenheit sowie
weise plagiierter Papierheld, was aber, weil spannend aus
Abenteuerlust, Gefahrenüberwindung und Selbstbehaup-
der Ich-Perspektive verfasst, niemanden zu stören scheint.
tung auch Tropenparadies und Südseeromantik, kurz, die
Remedia moderner Stressgesellschaften. Deshalb haben der
28 Jahre, 2 Monate, 19 Tage
Robinson-Spielplatz und der Tourismusslogan «Reif für die
Geboren ist Defoes Romanheld 1632 in York in Mitteleng-
Insel» kein Ablaufdatum.
land. Der Vater ist Kaufmann und entstammt der alten Bre-
mener Seefahrerfamilie Crusoe. Die Mutter trägt den ange-
Ungebrochene Faszination
sehenen Namen Robinson, den er als Vorname erhält. Er soll
Legenden über Schiffbrüchige sind so alt wie die Seefahrt, und
Rechtsanwalt werden und das Geschäft des Vaters überneh-
das Interesse bei Jung und Alt ob solcher Abenteuer-
men. Ohne Abschiedsgruss geht er 27-jährig an Bord eines
romantik dauert nun bereits seit neun Jahrhunderten an. Denn
Frachters, gerät in Seenot und strandet als einziger Überle-
bereits der «Ur-Robinson» des Philosophen Ibn Tufail handelt
bender am 30. September 1659 auf einer tropischen Insel.
von einem Inselschicksal eines von einer Gazelle gesäugten
Obschon sich später verschiedene Eilande als authentische
Kindes im arabischen Kulturraum des 12. Jahrhunderts.
Robinson-Insel zu profilieren versuchen, bleibt die Frage
Überliefert sind auch wirkliche Ereignisse, zum Beispiel die
nach der «echten» obsolet, weil Daniel Defoe Tatsachen und
Geschichte des schottischen Matrosen Alexander Selkirk,
reine Fiktion geschickt vermischte.
der wegen Ungehorsams auf einer Pazifikinsel ausgesetzt
Auf der Insel beginnt für Robinson die grosse Überlebens-
wurde, wo er 4 Jahre und 4 Monate überlebte, bevor er nach
übung: Höhlenbezug, Hüttenbau mit Schutzpalisade, Ernäh-
England zurückkehrte. Doch der heutige Begriff «Robinso-
rung als Sammler und Jäger, Herstellung von Kleidung, Korb-
waren und Werkzeug, Bootsbau und Getreideanbau sowie
Robinson-Autor Daniel Defoe
Kreation eines Kerbkalenders für die Zeitrechnung. Dann die Entdeckung rätselhafter Fussabdrücke, Kannibalen-Begeg-
Heute ist Daniel Defoe (1660–1731) noch bekannt als Schöpfer seines Meisterwerks der Weltliteratur, obschon er dieses – wie auch den zweiten Welthit über die Lebedame «Moll Flanders» – erst im fortgeschrittenen Alter geschrieben hat. Und sie sind bloss ein kleiner Teil seiner vielfältigen Schriftstellerei. Als früher Vertreter des modernen Journalismus beschäftigte er sich zeitkritisch mit sozialen, religiösen und ökonomischen Problemen und war dadurch politisch einflussreich. Ein von ihm 1709 (also lange vor dem «Robinson») geschriebener Text über die Flüchtlingsproblematik wurde erst kürzlich übersetzt – und erweist sich heute wieder als brandaktuell.
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nungen, Befreiung von Freitag und dessen «Schulung und Erziehung». Schliesslich ominöse Rettung durch ein Piratenschiff und – nach 28 Jahren, 2 Monaten und 19 Tagen Inseldasein – Rückkehr am 19. Dezember 1687, im Alter von 55 Jahren, nach England mit Happy End im Familienkreis. Die Moral von der Geschicht: Aus einem ungehorsamen jugendlichen Durchbrenner und Taugenichts wurde im harten Überlebenskampf ein gereifter, erfolgreicher Mann. So weit die Robinson-Geschichte im Zeitraffer.
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Schiffbruch im Sturm (aus: «Robinson Crusoe», D. Defoe, London/ New York, um 1895).
Papagei als Begleiter (aus: «Robinson Crusoe», Silva-Verlag Zürich, 1967, 5. Aufl.).
Grösste Robinson-Bibliothek
Der 1942 in Schaffhausen als Sohn
eines Buchhändlers und Antiquars
geborene, in der Rosenstadt Rap-
perswil wohnhaft gewesene, im
März 2018 verstorbene Peter Boss-
hard war ein international tätiger
Wirtschaftsanwalt und – zusam-
men mit seiner Frau Elisabeth – ein
Sammler von Schweizer Gegen-
wartskunst sowie 2008 Begründer
des Kunst-(zeug)hauses in Rapperswil-Jona. Doch zwei Seelen wohnten in seiner
Sammlerbrust. Wie schon sein Vater, dessen Kollektion er in den 1980er-Jahren über-
nahm, faszinierten ihn Weltbestseller wie «Struwwelpeter», «Onkel Toms Hütte» oder
«Schatzinsel» sowie Abenteuerromane wie «Robinson Crusoe», auf den er sich
schliesslich spezialisierte.
Auf seinen beruflichen Reisen durchstöberte er Antiquariate weltweit. So befindet
sich heute – analog zu einer «Robinson-Insel» – inmitten des Kunst(zeug)hauses eine
immense, vermutlich die weltgrösste Robinsonaden-Bibliothek, öffentlich zugänglich
und von der Archivarin Maria Wüthrich minutiös katalogisiert (www.kunstzeug-
haus.ch). Sie umfasst über 4000 Robinsonaden-Exponate in mehr als 50 Sprachen, da-
runter als ältestes den 1719 erschienenen zweiten Teil von Daniel Defoes Original-Ro-
binson in Zweitauflage. Daneben Kunst- und Bastelbücher, Schallplatten, Filme,
Theaterstücke, Spiele, Puzzles – Robinson total.
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Robinson aus heutiger Sicht «Robinson» ist heute für die meisten Menschen literarische Jugenderinnerung (abends nach dem Lichterlöschen mit der Taschenlampe unter der Bettdecke). Doch eigentlich wurde er nicht für Kinder geschrieben. Er ist ein aufklärerischer Erziehungsroman, es geht darin um Zucht und Selbsterziehung, Einschränkung und Selbstbehauptung, Abenteuerlust und Gefahrenüberwindung, Erfindergeist und Handwerksgeschick, etwas, was Wohlstandsmenschen höchstens noch in einer Pfadiübung ansatzweise erleben können. In den ursprünglichen Fassungen ist der Welthit «Robinson Crusoe» – abgesehen von der altertümlichen Sprache und den oft epischen Längen moralischer und religiöser Erziehung – für unser heutiges Verständnis schwer verdaulich, ebenso die brutalen Szenarien und damalige Gesellschaftsnormen. Jedoch: Vor allem die Aspekte des Kolonialismus und des Rassendenkens (Wilde und Zivilisierte, Robinson und Freitag), die Genderfrage (dominante Männerwelt) oder den rauen Umgang mit Natur und Kreatur muss man durch die historische Brille betrachten und verstehen wollen; dann ist Robinson auch heute und morgen noch Lesevergnügen.
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Ältestes Buch in der Robinsonbibliothek: «The farther adventures of Robinson Crusoe», 2. Band der 2. Auflage, erschienen im Jahr der Erstausgabe, London, 1719, «Written by himself» (der Name von Daniel Defoe tritt noch nicht in Erscheinung).
Freitag unterwirft sich Robinson (aus: Bearbeitung von G. A. Gräbner, Leipzig, 1877).
Auch Robinson selber taucht in allen Schattierungen auf, mal als gestandener Mann, mal als Jüngling (z.B. in «Robinson der Jüngere» von Joachim Heinrich Campe, 1779, oder in «Le Robinson de douze ans» von Mallès de Beaulieu, um 1818), mal auf tropischem Eiland, mal auf polarer Eisscholle, mal trapperhaft gekleidet, mal biedermännisch, ja sogar benannt als «Der letzte Robinson» (von Robert Fuchs-Liska, 1923).
Knatsch im Bündnerland Weltweites Kuriosum: Nur im Bündnerland eckte Robinson an. Bei Einführung des Volksschulobligatoriums Mitte des 19. Jahrhunderts erklärte der Kleine Rat, die damalige Bündner Regierung, Robinson zum Pflichtstoff für die 2. Klasse. Dies führte zu einem Aufruhr in den katholischen Tälern, wo Robinson als heidnisch abgelehnt wurde, worauf durch salomonischen Entscheid hier die Legende des Hl. Sigisbert von Pater Maurus Carnot den Robinson ersetzte. Doch heute gibt es diesen in verschiedenen romanischen Idiomen. Ergo: The Winner is Robinson!
Robinsonaden-Kuriositäten Erstaunlich: «Robinson» ist nicht nur das am drittmeisten gedruckte, sondern auch das meistillustrierte Buch der Weltliteratur und wohl auch dasjenige mit den meisten Imitationen und Variationen. Robinsonaden gibt es aus allen Epochen und Weltecken in beeindruckender Übersetzungsvielfalt, so, abgesehen von allen europäischen Idiomen, in Russisch, Chinesisch, Japanisch, Vietnamesisch, Indisch, Arabisch, Hebräisch, Lateinisch, ja sogar in Esperanto, Blindenschrift und Stenografie.
Korrespondenzadresse: Heini Hofmann Zootierarzt und freier Wissenschaftspublizist Hohlweg 11 8645 Jona
Bilder: Robinson-Bibliothek, Sammlung Peter Bosshard im Kunst(zeug)Haus Rapperswil-Jona
Le Robinson des Demoiselles
Als Antwort der aufkeimenden Emanzipation auf die rein
maskuline Robinson-Story mutierte Robinson in verschiede-
nen Sprachen sogar zur Miss Robinson, beispielsweise als
«Emma ou le Robinson des Demoiselles» von Mme. Woillez,
Paris 1834. Die Frauenrechtlerin Alice Schwarzer soll 1977
ihre Zeitschrift nach diesem weiblichen Robinson benannt
haben. Auch Kinderbücher mit sowohl Robinson als auch
Freitag in Frauengestalt tauchten auf, wie «Miss Robinson
Crusoe» (London, um 1902). Nur «Globi in der Verbannung»
setzte sich noch vor Globine durch.
Der gedruckte «Robinson» war ein derart weltumspannender
Erfolg, dass auch andere Sparten auf den Zug aufsprangen:
Es entstanden Hörbücher, Hörspiele und Bühnenstücke,
Schallplatten (Oper «Robinson Crusoe» von Jacques Offen-
bach), Kino- und Fernsehfilme (mit Stars wie Robert Hoff-
mann, Laurel und Hardy oder, in «Cast away» 2005, Tom
Hanks). Auch Skurriles tauchte auf (wie Walt Disneys «Mi-
ckey in Africa» oder Beatrix Potters «The Little Pig Robin-
son»), ferner Pop-up-Books und Comics (bis hin ins Eroti-
sche), Spiele und Puzzles. Bref: Es robinsont sehr!
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