Transkript
4 • 2018
Fortbildung
Leitsymptom Muskelschwäche
Was steckt hinter müden Muskeln?
Muskelschwäche ist bei vielen Erkrankungen eine Begleiterscheinung. Doch als Hauptsymptom tritt eine dauerhaft verringerte Muskelkraft eher selten auf. Was also tun, um einer progredienten Muskelschwäche auf den Grund zu gehen?
Wer nach Ursachen einer Muskelschwäche sucht, bekommt einen ganzen Strauss an Differenzialdiagnosen geboten, die von Sportverletzungen über Schilddrüsenstörungen und Medikamentennebenwirkungen bis zu Malignomen oder neuromuskulären Erkrankungen reichen. In der Regel lassen sich diese möglichen Diagnosen schnell aussortieren, da sie jeweils mit typischen Hauptsymptomen einhergehen.
Schwach, müde, kurzatmig Doch wie geht man vor, wenn ausser der zunehmenden Schwäche nur wenig weitere Symptome geboten werden? So der Fall einer 32-jährigen Patientin, den Ärzte der Universitätsklinik Bonn schildern [1]. Die Frau konnte sich plötzlich nicht mehr gerade aufrichten und hatte seit einiger Zeit das Gefühl, als würden ihre Beine zunehmend träge werden, das Aufstehen aus dem tiefen Sofa fiele ihr immer schwerer. Zudem klagte sie über eine ausgeprägte Müdigkeit und bekäme seit einiger Zeit schlechter Luft. In der sonst unauffälligen Anamnese wurden in der Vergangenheit erhöhte Leberwerte festgestellt. Die zunehmende Schwäche mache ihr grosse Sorgen, weil ihre Grossmutter väterlicherseits aufgrund einer Muskelschwäche schon früh auf den Rollstuhl angewiesen war. Bei der körperlichen Untersuchung fallen eine gekrümmte Haltung des Oberkörpers sowie ein vermehrter Einsatz der Atemhilfsmuskulatur auf. Herz und Lunge sind auskultatorisch unauffällig, bei der Perkussion lässt sich feststellen, dass die Lungengrenzen nicht adäquat verschieblich sind. Ausserdem besteht eine paradoxe Atmung im Liegen. Die Kraftgrade der oberen Extremität betragen vier Fünftel, die der unteren Extremität drei
Von Angelika Ramm-Fischer
Fünftel mit proximaler Betonung der Paresen. Es zeigt sich eine Schwäche der Rückenstreckmuskulatur. Die Muskeleigenreflexe sind allseits symmetrisch schwach auslösbar. Ansonsten lässt sich kein pathologischer Befund erheben. Wegen der Fatiguesymptomatik und der anamnestisch erhöhten Leberwerte empfiehlt es sich, ein Oberbauchsonogramm anzuschliessen, das aber in diesem Fall keinen pathologischen Befund erbrachte. Bei der Routinelaboruntersuchung ergaben sich an pathologischen Befunden vor allem erhöhte Creatinkinase- und Laktatdehydrogenasewerte (CK 550 IU/l, LDH 810 U/l), die für einen erhöhten Zelluntergang sprechen (z.B. Tumorerkrankung, Herzinfarkt, Erkrankungen der Skelettmuskulatur). Die Blutgasanalyse zeigte eine teilweise kompensierte respiratorische Azidose mit einer Hypoxie.
Hepatitis, Rheuma und Tumor ausschliessen Bei den Hauptsymptomen – Muskelschwäche, Fatigue und respiratorische Insuffizienz – kommen eine Reihe von Differenzialdiagnosen infrage. Vor allem wegen der Fatigue sind zunächst die häufigeren internistischen Differenzialdiagnosen abzuklären wie Leber-, Rheuma- und Tumorerkrankungen (Tabelle 1). Um diese zu differenzieren, sollte zunächst eine eingehendere Laboruntersuchung erfolgen: Mittels Immunserologie oder PCR lassen sich virale Infektionskrankheiten wie Hepatitiden und HIV-Infektion sowie mögliche bakterielle Ursachen ausschliessen (z.B. Yersinien- oder Borrelieninfektion). Zur Diagnostik von Krankheitsbildern aus dem rheumatischen Formenkreis kann die Bestimmung von antinukleären Antikörpern (ANA) und antineutrophilen zytoplasmatischen Antikörpern (ANCA) für einen allgemeinen Überblick nützlich sein. Eine Erhöhung des ANA-Titers kann für das Vorliegen einer Kollagenose (z.B.
SLE, Dermato-, Polymyositis) sprechen. Im vorliegenden Fall waren aber sowohl die mikrobiologische als auch die virologische Serologie negativ und der ANA-Titer im Normbereich. Eine Spirometrie ist wegen der beschriebenen Luftnot und Infektanfälligkeit indiziert. Vitalkapazität (< 60%), maximaler exspiratorischer Druck, maximaler inspiratorischer Druck sowie das exspiratorische Reservevolumen waren vermindert. Zudem wurde eine leichte Zwerchfellschwäche festgestellt. Ein Röntgenthorax kann ebenfalls Aufschluss über den Grund der Atemnot geben, zum Beispiel Anzeichen für eine strukturelle Lungenveränderung, einen Infekt oder einen Erguss. Die Aufnahme war in diesem Fall aber ohne pathologischen Befund. Diagnostik: Vom Fragebogen zur Muskelbiopsie Hauptsymptom war jedoch die Muskelschwäche. Entsprechend konzentriert man sich hier auf neuromuskuläre Differenzialdiagnosen (Tabelle 2 Tabelle 1: Die wichtigsten internistischen Differenzialdiagnosen Hepatitis: Die erhöhten Leberwerte sowie die ausgeprägte Fatigue könnten für eine Hepatitis sprechen, die unter anderem auch mit Muskelbeschwerden einhergehen kann. HIV-Infektion: Eine Infektion mit dem HI-Virus kann eine schnelle Ermüdbarkeit und Muskelschwäche auslösen. Grippeähnliche Symptome könnten erste Anzeichen einer HIV-Infektion sein. Erkrankung des rheumatischen Formenkreises: Gelenkschmerzen und Muskelschwäche mit einhergehender Müdigkeit treten häufig bei Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises auf. Insbesondere bei der Dermato- und Polymyositis stehen oft unspezifische Muskelbeschwerden im Vordergrund. Malignom (z.B. Bronchialkarzinom): Ein Malignom kann eine Vielzahl von Symptomen hervorrufen und geht oft mit einer ausgeprägten Fatigue einher. Ein Bronchialkarzinom kann eine Hypoxie begründen und über Knochenmetastasen zu Beschwerden des Skelettsystems führen. – 19 – Fortbildung 4 • 2018 Tabelle 2: Die wichtigsten neurologischen Differenzialdiagnosen Multiple Sklerose (MS): Auch bei der MS kann es zu einer allgemeinen Schwäche und Fatiguesymptomatik kommen. Charakteristisch ist ein meist schubförmiger Verlauf mit wechselnden fokalen neurologischen Ausfallerscheinungen. Amyotrophe Lateralsklerose (ALS): Bei ALS liegt eine Schädigung der ersten und zweiten Motoneurone im ZNS vor, die unter anderem eine Muskelschwäche sowie Muskelschwund zur Folge hat. Atembeschwerden sind häufig. Auch leichte Erhöhungen der CK-Werte im Serum sind oft nachweisbar. und 3), die allerdings viele, wenn auch zum Teil sehr seltene Krankheitsbilder umfassen. Wie immer geht man hier von weniger invasiven hin zu stärker invasiven Diagnosemethoden über. Daher steht die Diagnostik, um beispielsweise die häufigere Multiple Sklerose auszuschliessen und die unter anderem MRT und Liquorpunktion umfasst, am Ende des Diagnoseprozesses. Aufgrund der CK-Erhöhung ist eine EMG indiziert. Es fand sich eine pathologische Spontanaktivität mit komplex-repetitiven Entladungen. In der Muskelbiopsie konnte eine Myopathie mit Vakuolen Tabelle 3: Die wichtigsten Muskelerkrankungen/Muskelystrophien Gliedergürtelmuskeldystrophien (limb girdle muscular dystrophies, LGMD): Bei den zahlreichen Formen der erblich bedingten LGMD kommt es zu progressiver Muskelschwäche im Hüftgürtel, in den Beinen und Schultern. Eine Vielzahl an Erkrankungsunterformen ist bekannt, die durch unterschiedliche Gendefekte und verschiedene Vererbungsgänge gekennzeichnet sind. Muskeldystrophie Becker-Kiener (Dystrophinopathie): Gehört zu den X-chromosomal rezessiv vererbten Muskeldystrophien mit progressiver proximaler Muskelschwäche mit Verteilung vom Gliedergürteltyp, oft respiratorischer Beeinträchtigung, paresebedingter Gangstörung sowie stark erhöhten CK-Werten im Serum. Muskeldystrophie Duchenne (Dystrophinopathie): Gehört ebenfalls zu den X-chromosomal rezessiv vererbten Muskeldystrophien. Die Krankheit manifestiert sich definitionsgemäss im Kleinkindalter und nimmt einen erheblich schwereren Verlauf an als die Muskeldystrophie Becker-Kiener. Die CK-Werte im Serum sind stark erhöht, und es tritt meist eine Herz- und Atemmuskelbeteiligung auf. Myopathien mit Rigid-Spine-Syndrom: Eine Gruppe kongenitaler Muskelerkrankungen, die mit einer Versteifung der Wirbelsäule (rigid spine) und oft auch Rückenschmerzen einhergehen. Dem Syndrom können verschiedene Gendefekte zugrunde liegen. Die CK-Werte können normal oder (meist moderat) erhöht sein. Myasthenia gravis: Im Vordergrund steht eine belastungsabhängige Muskelschwäche. Oft sind nur die äusseren Augenmuskeln und Lidheber betroffen (okuläre Myasthenie). Spinale Muskelatrophien (SMA): Gehören zu den rezessiv vererbten Motoneuronenerkrankungen mit progressiver proximaler Muskelschwäche mit Verteilung vom Gliedergürteltyp, Muskelatrophien, häufig respiratorischer Beeinträchtigung und erhöhten CK-Werten im Serum. Es sind verschiedene Formen der SMA definiert (SMA 1–4), abhängig von Schwere und Manifestationsalter der Erkrankung. Glykogenspeicherkrankheiten vom Typ IIIa (Cori und Forbes), Typ IV (Anderson), Typ V (McArdle) und Typ VII (Tauri): Kennzeichen der Glykogenosen ist ein Defekt verschiedener glykogenabbauender Enzyme. Typische Symptome sind Hypotonie, Hepatomegalie, Muskelschwäche und erhöhte CK-Werte. Bei der McArdle-Erkrankung treten Muskelkrämpfe auf. Morbus Pompe (Gylkogenspeicherkrankheit vom Typ II): Die späte Form des Morbus Pompe (late-onset Pompe disease, LOPD) ist durch ein breites Spektrum an Krankheitsmanifestationen gekennzeichnet, unter anderem progressive Muskelschwäche vom Gliedergürteltyp, Ateminsuffizienz und häufig leichte bis moderate CK-Werterhöhung im Serum. und dort erhöhter lysosomaler Aktivität und PASpositiver (PAS = periodic acid-Schiff reaction) Glykogenspeicherung nachgewiesen werden. Diagnose: Morbus Pompe Damit ergibt sich folgende Kausalkette: Durch die Glykogenspeicherung im Muskel kommt es zur Muskelschwäche, die auch die Atemmuskulatur und die Rückenstrecker betrifft. Dies führt zur Zwerchfellschwäche und dazu, dass der Brust- korb zusammensinkt – er hat weder Platz noch die Kraft, sich auszudehnen. Die Patientin be- kommt schlecht Luft – vermutlich ein (Zusatz-)Fak- tor für die Müdigkeit. Das Ergebnis der Muskelbiopsie weist auf eine Glykogenspeicherkrankheit hin. Hier kann an ei- nen Morbus Pompe gedacht werden. Diese erb- lich bedingte Stoffwechselkrankheit ist mit 1:40 000 bis 1:150 000 Geburten selten – in Deutschland wird die Prävalenz derzeit auf etwa 200 Betroffene geschätzt. Üblicherweise wird der Morbus Pompe bei Kindern diagnostiziert, doch gibt es auch eine adulte Form dieser lysosomalen Glykogenspeicherkrankheit – wobei hier die Dia- gnose meist um das 30. Lebensjahr gestellt wird. Der Verdacht auf Morbus Pompe wird auch durch die Anamnese gestärkt – von der Grossmutter war bereits eine Muskelschwäche bekannt. Zur Bestätigung der Verdachtsdiagnose wurde eine verminderte Aktivität der sauren Alpha-1,4- Glucosidase (GAA) aus Trockenblut festgestellt. Bei der Sequenzierung des GAA-Gens konnte eine Mutation bei der Patientin nachgewiesen werden. Damit liegt hier mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Morbus Pompe vor. x Literatur: 1. Vu Thien Kim Dang, Cornelia Kornblum und Martin Mücke: «Müde Muskeln», 12, 130–147, aus: Mücke, Martin (Hrsg.), «Fälle – Seltene Erkrankungen, Patienten ohne Diagnose», Verlag Urban & Fischer (Elsevier), 1. Auflage 2018. ISBN 978 3 437 15041 8 Dieser Artikel erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt», 2018; 40 (13). Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung. Danon-Erkrankung (Glykogenspeicherkranheit vom Typ IIb): Eine vererbbare Stoffwechselerkrankung, die klassischerweise eine hypertrophe Kardiomyopathie und eine Skelettmuskelmyopathie aufweist. Isolierte primäre mitochondriale Myopathien: Einige Formen dieser Gruppe erblich bedingter Erkrankungen gehen mti einer proximal betonten Muskelschwäche, Belastungsintoleranz, Muskelschmerzen und leicht bis moderat erhöhten CK-Werten einher. – 20 –