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Titel
doXkultur – Herr Ober, bitte die Karte
Untertitel
Reflexionen zum «geistigen Apéro» vor dem Essen
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Die Speisekarte, egal, ob kleine oder grosse, und auch die Weinkarte sind die Visitenkarten, die Aushängeschilder eines Restaurationsbetriebs, egal, ob es sich um eine Kantine, Imbissstube, Dorfbeiz, Nobelherberge oder gar um ein Sternehaus handelt. Denn nicht nur der Gaumen und das Auge essen mit, sondern auch das Herz und der Geist!
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4 • 2018

Herr Ober, bitte die Karte!
Reflexionen zum «geistigen Apéro» vor dem Essen

Die Speisekarte, egal, ob kleine oder grosse, und auch die Weinkarte sind die

Von Heini Hofmann

Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um eine handgeschriebene, polykopierte Tagesmenü-

Visitenkarten, die Aushängeschilder ei-

karte oder um eine in Goldlettern gedruckte

nes Restaurationsbetriebs, egal, ob es sich um eine

und in Leder gebundene Menüfibel handelt. Massgebend ist,

Kantine, Imbissstube, Dorfbeiz, Nobelherberge oder

ob man sieht und spürt, ob diese Speisekarte eine Schnell-

gar um ein Sternehaus handelt. Denn nicht nur der

schussepistel System Versandhauswarenkatalog oder aber

Gaumen und das Auge essen mit, sondern auch das

eine mit Engagement, beruflichem Herzblut und einem

Herz und der Geist!

Sprutz Originalität erstellte Gästeinformation ist.

Und da begegnet man, mit Verlaub, der ganzen Bandbreite.

Allein schon eine vervielfältigte Tagesmenükarte kann anmä-

chelig wirken, wenn sie mit schwungvoller Schrift verfasst

und mit ein paar dekorativen Miniaturen versehen ist. Auch

wenn der fremdsprachigen Servicefachkraft dabei ein paar

grobe Schreibfehler unterlaufen, übersieht man das gross-

zügig. Ganz anders bei den vornehmen, ledergebundenen

Speisekarten im gehobenen Gastrosegment. Da erwartet

man, parallel zur Spitzenküche, auch eine sprachlich ein-

wandfreie Präsentation der Gerichte.

Doch da hapert’s gelegentlich ganz gewaltig. Nur ein einzi-

ges Beispiel: In einem bedenklich grossen Prozentsatz selbst

von Nobeletablissements hat sich bis heute nicht herumge-

sprochen, dass man «Beefsteak tatar» und nicht «tartar»

schreibt. Das ist fürs Auge wie zu viel Salz für die Zunge! Lei-

der verludert im elektronischen Zeitalter die Sprache, die wie

die Kochkunst ein Kulturgut ist, nicht nur in der immer flüch-

Eigentlich sollten nicht nur die Ingredienzien – wie hier bei der Nouvelle Cuisine – genau unter die Lupe genommen werden, sondern die gleiche Sorgfalt wäre auch beim Redigieren der Speisekarte angebracht. Denn auch schon bei deren Betrachten «isst» das Auge mit.
(Illustration: Paul-André Perret, Schweiz. Gastronomiemuseum)

tiger und oberflächlicher werdenden Tagespresse, sondern auch auf den Speisekarten. Vielleicht Grund genug, sich darüber mal ein paar Gedanken zu machen.
Der Fantasie keine Grenzen setzen

Doch wir wollen nicht stänkern, sondern motivieren! Und es

Wer essen will, bestellt daher zuerst die Karte – sozusagen

gibt, um objektiv zu bleiben, ja auch viele positive, ja direkt

als «geistige Vorspeise»; denn beim Entscheid, was man

umwerfend gute Beispiele anmächelig, ja sogar kunstvoll ge-

essen möchte, hört man nicht nur auf den knurrenden

stalteter Speisekarten. Zum Beispiel mit knusprigen Infor-

Magen; da sind auch Reize und Gelüste, vielleicht auch indi-

mationen über die Geschichte des eigenen Hauses oder über

viduelle Restriktionen mitbestimmend. Die Essenswahl ist

dessen geografische Lage, die wunderschöne Rundsicht

kein banaler Bauchentscheid, sondern ein komplexer Vor-

oder über Sightseeings und Sightfeelings in der Nähe. All

gang, bei dem neben Hunger auch Herz und Verstand mit-

das im Bewusstsein, dass der Mensch nicht vom Brot alleine

mischen. Deshalb kommt der Speisekarte eine multifunk-

lebt.

tionale Bedeutung zu.

Und es gibt auch Vorzeigebeispiele, bei denen die Speise-

Sie prägt den ersten Eindruck

karte mit historischen Reminiszenzen, mit Kurzinformationen über örtliches Brauchtum, Mythen und Sagen bereichert

Doch wie extrem unterschiedlich pflegt sich doch diese In-

wird, oder, was noch naheliegender ist, mit Informationen

formation über die hauseigene Menüpalette zu präsentieren!

über die beim Kochen verwendeten Ingredienzien, deren Her-

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Sprachliche Globalisierungstendenzen machen sich auch beim Menüaushang

oder auf der Speisekarte bemerkbar. Wenn dafür die fremdsprachige Service-

fachkraft verantwortlich zeichnet, nimmt man dies mit einem Lächeln hin. Auf

einer gedruckten Speisekarte dagegen, zumal in noblen Etablissements, erwar-

tet man neben guten Gerichten auch sprachlich perfekte Anpreisung derselben,

also beispielsweise «Beefsteak tatar» und nicht «tartar».

(Bild: Jakob Schluep)

kunft und Zubereitung. Und einige stellen sogar, neben dem Chef, die meist multinationale Küchenbrigade vor, die anonym, aber fleissig hinter den Kulissen die Köstlichkeiten zubereitet. Noch andere mögen’s geistreich-literarisch, indem sie zur Auflockerung der Menülitaneien geflügelte Sentenzen oder gescheite Sprüche berühmter Leute einstreuen. Zum Beispiel von Winston Churchill: «Man soll dem Leib etwas Gutes bieten, damit die Seele Lust hat, darin zu wohnen.» Oder anders herum: «Mit dem Geist ist es wie mit dem Magen; man sollte ihm nur Dinge zumuten, die er verdauen kann.» – Doch solcher Weisheiten gibt es noch viele mehr.

Geistreiches über Verdauliches

Wer seine Speisekarte mit geflügelten Worten schmücken

möchte, hat die Qual der Wahl. Vor dem Essen kommt be-

kanntlich der Hunger; kein Wunder, dass es zu diesem

Bauchgefühl gleich mehrere Sprichwörter gibt, angefangen

mit «Hunger ist der beste Koch» und «Hunger macht saure

Bohnen süss» über «Ein hungriger Bauch hat keine Ohren»

oder «Man lernt Lehm essen, ehe man Hungers stirbt» bis

hin zu «Ein hungriger Mann, ein zorniger Mann».

Kulinarische Sentenzen gibt es aber auch aus dem Mund vie-

ler Persönlichkeiten. So philosophiert Sokrates: «Wir leben

nicht, um zu essen, wir essen, um zu leben», während Dich-

terfürst Johann Wolfgang von Goethe meint: «Das Essen soll

zuerst das Auge erfreuen und dann den Magen.» Martin Lu- Schlicht-elegante

ther wiederum postuliert: «Iss, was gar ist, trink, was klar Menükarten aus Badrutt’s Palace Hotel
ist, red was wahr ist.» Ins Fabulieren gerät George Meredith in St. Moritz aus dem
mit: «Küsse vergehen, Kochkunst bleibt bestehen», und gar Jahr 1902.

ins Schwärmen George Bernard Shaw mit: «Keine Liebe ist

(Bild: Archiv

aufrichtiger als die Liebe zum Essen».

Badrutt’s Palace Hotel)

Theodor Fontane wiederum sinniert: «Gott, was ist Glück! Eine Griesssuppe, eine Schlafstelle, und keine körperlichen Schmerzen – das ist schon viel!», und William Shakespeare orakelt: «Geselliges Vergnügen, muntres Gespräch muss einem Festmahl die Würze geben.» Oder ein Sprichwort formuliert es so: «Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen.» Und manchmal tönt’s auch etwas neckisch, wie bei Joachim Ringelnatz: «Seltsam: Auch die grössten Vegetarier beissen nicht gern ins Gras.»

Sinnsprüche rund ums Trinken

Fangen wir auch hier mit den Sprichwörtern an, welche die

Vorteile des Weins etwas gar proaktiv besingen: «Ein gutes

Glas Wein hilft den Alten auf die Bein» oder «Es gibt mehr

alte Weintrinker als alte Ärzte». Joseph Victor von Scheffel

lamentiert gar: «Man spricht vom vielen Trinken stets, doch

nie vom vielen Durste.» Dem hält Friedrich Bodenstedt

entgegen: «Der ist nicht wert des Weines, der ihn trinkt wie

Wasser.»

«Regen lässt das Gras wachsen, Wein das Gespräch.» Deut-

licher als dieses Sprichwort sagt es der griechische Lyriker

Alkaeus mit «In vino veritas!» Im Wein ist Wahrheit, will heis-

sen, dass ein Betrunkener das sagt, was ein Nüchterner nur

denkt. Gotthold Ephraim Lessing dagegen meint: «Zu viel

kann man wohl trinken, doch nie trinkt man genug», und Jo-

hann Strauss trällert sogar: «Trinke, Liebchen, trinke schnell!

Trinken macht die Augen hell», während Joachim Perinet kurz

und bündig sagt: «Wer dich verschmäht, du edler Wein, der

ist nicht wert, ein Mensch zu sein.»

Doch wer seine Weinkarte mit ganz besonders prägnanten

Weisheiten schmücken möchte, der wählt den Tiroler Wirts-

hausspruch: «Trink, aber sauf nicht; disputir, aber rauf

nicht!» Oder die optisch begründete Sentenz von Joachim

Ringelnatz: «Die besten Vergrösserungsgläser für die Freu-

den dieser Welt sind die, aus denen man trinkt.» Und wer es

schliesslich klassisch möchte, setzt auf Plutarchs ewig gül-

tige Weisheit: «Der Wein ist unter den Getränken das nütz-

lichste, unter den Arzneien das schmackhafteste, unter den

Nahrungsmitteln das angenehmste.»

Hat das Essen aufgrund einer anmächeligen, adrett gestal-

teten und zudem fehlerfreien Speisekarte gemundet, dann

heisst es wohl mit Genugtuung und Freude: Herr Ober, bitte

die Rechnung!

x

Korrespondenzadresse: Heini Hofmann Zootierarzt und freier Wissenschaftspublizist Hohlweg 11 8645 Jona

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