Transkript
2 • 2018
Editorial
«So kann es nicht weitergehen!»
Wenn wir von etwas zu viel konsumieren und deswegen die Kosten aus dem Ruder laufen, bleibt in der Regel nichts anderes als – verzichten. Wer Oldtimer sammelt, wird eines Tages auf ein begehrtes Exemplar stossen, das wirtschaftlich nicht drin liegt. Die Lösung: Den Kauf hinausschieben oder eben – verzichten. Ist Verzicht die Lösung für die stetig steigenden Kosten in unserem Gesundheitswesen? Für viele offenbar schon, auch wenn sie’s nicht explizit sagen. Immerhin meint Philomena Colatrella, die Chefin der CSS-Krankenkasse, «die Versicherten und die Politik» hätten «keine Lust mehr, die Prämiensteigerungen in Kauf zu nehmen». Und sie hält eine «Kostenbremse» à la CVP für durchaus wirkungsvoll, weil damit auf die Tarifpartner und Akteure politischer Druck ausgeübt werde, der es ermögliche, «Massnahmen» umzusetzen. Das Zauberwort der CSS-Chefin heisst «Eigenverantwortung». Damit begründet sie auch ihre umstrittenen Vorschläge zur Einführung von fixen Franchisen von 5000 oder gar 10 000 Franken. Kein Zweifel: Eigenzahlungen in dieser Höhe schonen die Kassen der Kassen (in der Grössenordnung von etwa 1 Milliarde Franken pro Jahr) und fördern den zurückhaltenden Konsum medizinischer Dienstleistungen. Stefan Meierhans, Preisüberwacher: «Die Prämienzahler bezahlen Jahr für Jahr die Zeche für die Fehler im System!» In einem Kommentar zur Mischung aus teils extremen Vorschlägen und teils altbekannt nutzlosen Beschwörungen der Art «So kann es nicht weitergehen», meint Christian Kolbe, Wirtschaftsredaktor des «Sonntags-Blick», eigentlich gäbe es ein ganz einfaches Rezept: «Verzicht»! Er bringt damit auf den Punkt, was alle Akteure versteckt vorschlagen: Wer «keine Lust» mehr hat, für die Kosten aufzukommen, wem man mehr «Eigenverantwortung» zumutet, wer die Kosten «bremst», wer «Fehler» im System ausmerzen will und dafür «Massnahmen» umsetzt, der fordert schlecht verklausuliert etwas, das in einem Bereich, in dem es um das Wichtigste geht: Gesundheit, ja vielfach Leben und Tod, kein Betroffener will: Verzicht.
Was auffällt: Die Verzichtforderungen richten sich immer an die gleichen Akteure. Selbstverständlich wird man als Erstes den Ärzten zumuten, auf einen Teil ihres Honorars zu verzichten. Kantone sollen auf Spitäler verzichten und wertvolle Arbeitsplätze an konkurrierende Kantone abgeben. Die Pharma- und Medizintechnikindustrie soll auf Profite verzichten. Und am Schluss sollen auch noch jene verzichten, die man vor Prämienunbill zu schützen vorgibt: die Patienten. Sie sollen nicht wegen jeder Bagatelle zum Arzt rennen. Als ob sie heute noch in der Lage wären, abzuschätzen, was eine Bagatelle ist. Kein Wort hingegen von Verzicht auf Kassenfunktionäre, die jede Dienstleistung limitieren oder/und Kostengutsprachen begründen lassen, auf Erbsen- und Diagnosenzähler, auf Qualitätskontrolleure und Case Manager, auf übertriebene Arbeitszeitregelungen, auf immer neue Vorschriften. Oder auf Mediziner/innen, denen nur ihre Work-LifeBalance wichtig ist. Verständlich, dass die Patienten nicht verzichten wollen auf die beste Medizin, die beste Pflege, Spitzenforschung, ein wohnortsnahes Spital, gut ausgebildete, engagierte und mit anständigen Honoraren motivierte Ärzte. Auf die Sicherheit, notfalls auch wegen einer (nicht immer als solche erkennbaren) Kleinigkeit einen Arzt aufsuchen zu dürfen. Jedenfalls nicht, solange nicht andere sich ebenfalls zurücknehmen. Denn es gibt – zur Erinnerung – im Gesundheitssystem genau zwei Gruppen von Akteuren, die wirklich relevant sind: Patienten und Ärzte. Alle anderen sind Begleitpersonal, das sich breit- und wichtiggemacht hat, Ressourcen frisst und am Ende auch noch bestimmt, wer – um die Ressourcen ins Lot zu bringen – verzichten muss. «So kann es nicht weitergehen.» Richtig! Verzichten? Ja, muss vielleicht mal sein. Aber dann in der richtigen Reihenfolge.
Richard Altorfer und Peter H. Müller
–1–