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Thema
Notfall in der Wildnis
Erste Hilfe ohne Arztkoffer
Foto: © Creativ Collection
Auch abseits der Zivilisation, etwa bei Expeditionen in der Wildnis, kann es zu
Andreas H. Leischker
sonders auf einen Spannungspneumothorax zu achten), dann der Kreislauf (Herzfrequenz, Re-
akuten medizinischen Problemen kom-
kapillarisierungszeit) und schliesslich der Be-
men. Was tun, wenn Sie ohne gut ausgestatteten
wusstseinszustand. Akute Blutungen werden unverzüglich
Notfallkoffer Erste Hilfe leisten müssen und die
gestillt. Da in der Wildnis keine Möglichkeit für eine Blut-
nächste Klinik viele Stunden entfernt ist? Dann gel-
transfusion besteht, kommt der schnellen Blutstillung eine
ten andere Regeln als in Ihrer Praxis und Sie müssen
besondere Bedeutung zu. Im nächsten Schritt (Secondary
improvisieren.
Survey) erfolgt eine Untersuchung mit dem Ziel, Verletzun-
gen, die den Erhalt einer Extremität gefährden, zu erkennen
Mit der Ausnahme von Extremsportarten wie Bergsteigen in
und zu behandeln. Bei kalten Aussentemperaturen darf der
extremen Höhen sind Todesfälle und schwere Erkrankungen
Verletzte dabei nur so weit wie unbedingt nötig entkleidet
während einer Expedition erfreulicherweise selten. Bei etwa
werden, um einen Wärmeverlust zu vermeiden. Sowohl das
94 Prozent der Behandlungen in der Wildnis handelt es sich
Primary als auch das Secondary Survey müssen regelmässig
um leichte Erkrankungen und kleine Verletzungen, welche
wiederholt werden, um eine Verschlechterung des Zustandes
auch vor Ort adäquat abschliessend ärztlich versorgt werden
rechtzeitig zu erkennen.
können (1).
Das Royal College of Surgeons of Edinburgh (1) unterschei-
Frakturen und Luxationen
det für Expeditionen drei Level der «Abgeschiedenheit» –
Während Frakturen mit Dislokation und Luxationen bei kur-
also der Zeit, bis ein Patient ein Akutkrankenhaus erreicht,
zen Transportwegen und erhaltener Durchblutung auch in
in dem alle relevanten Erkrankungen und Verletzungen be-
der vorgefundenen Lage geschient werden und schnell in die
handelt werden können:
nächste Klinik transportiert werden können, ist in der Wildnis
1. Weniger als 4 Stunden entfernt
eine schnellstmögliche Reponierung in Längsachse anzustre-
2. 4 bis 12 Stunden entfernt
ben (Abbildungen). Das gilt auch für offene Frakturen. Auch
3. Mehr als 12 Stunden entfernt.
Luxationen sind schnellstmöglich zu reponieren. Je früher die
Dieser Artikel geht insbesondere auf Situationen ein, bei
Reposition durchgeführt wird, desto einfacher ist sie. Bei län-
denen eine medizinische Einrichtung erst nach über 4 Stun-
ger bestehenden Dislokationen entwickelt sich häufig ein
den erreicht werden kann.
Muskelspasmus, sodass eine Reponierung nur nach Muskel-
relaxation durchführbar ist. Die Reposition führt meist zu ei-
Traumatologische Notfälle
ner deutlichen Schmerzreduktion. Oft ist eine achsgerechte
Die Vorgehensweise bei einem traumatologischen Notfall in
Stellung der Extremitäten auch eine Voraussetzung für einen
der Wildnis unterscheidet sich in der ersten Phase grund-
Transport des Verletzten in der Wildnis unter einfachen Be-
sätzlich nicht von der generell üblichen präklinischen Vorge-
dingungen. Kompartmentsyndrome, arterielle Durchblu-
hensweise: Zunächst muss beurteilt werden, ob eine Gefahr
tungsstörungen und bleibende Nervenschäden treten bei
für den Verletzten und/oder die Hilfeleistenden – zum Bei-
frühzeitig durchgeführter Reposition deutlich seltener auf.
spiel durch weiter herunterstürzende Steine oder ein Gewit-
Nach der Reponierung sind Durchblutung, Motorik und Be-
ter – besteht. Falls dies der Fall ist, muss der Verletzte um-
rührungssensibilität in regelmässigen Abständen zu kontrol-
gehend in einen sicheren Bereich gerettet werden, sofern
lieren.
dies ohne Gefährdung der Hilfeleistenden möglich ist. Bei
Für einen Transport müssen Frakturen der Extremitäten in
der ersten Beurteilung des Verletzten (Primary Survey) wird
der Regel geschient werden. Professionelle Hilfsmittel ste-
zunächst eine Verlegung der Atemwege ausgeschlossen, da-
hen hierzu meistens nicht zur Verfügung, daher muss häufig
nach wird die Atmung untersucht (beim Trauma ist hier be-
improvisiert werden: Für die Schienung distaler Radiusfrak-
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turen eignen sich zum Beispiel Zeitungen oder abgepackte Nahrungsmittel in Kombination mit einem Dreiecktuch und/oder Klebeband, für die untere Extremität Walkingstöcke (Abbildungen). Wegen der in der Wildnis langen Transportwege ist unbedingt auf eine ausreichende Polsterung zu achten. Häufig ist auch nach Reposition die Gabe von Analgetika erforderlich. Eine orale Analgesie ist zum Beispiel durch die Kombination eines NSAR mit Tilidin (Valoron®, das in den meisten Ländern nicht als Betäubungsmittel gilt) möglich.
Wunden und offene Frakturen
Bei stark blutenden Wunden muss zunächst eine Abbildungen: Reponierung sollte möglichst in Längsachse erfolgen.
suffiziente Blutstillung erfolgen. In den meisten
Fällen gelingt dies durch eine manuelle Kompression der
Verletzte in der Wildnis sind häufig unterkühlt und de-
Wunde über 10 bis 15 Minuten mit einer Kompresse. An-
hydriert. Eine Narkose ist kurzfristig ohnehin nicht möglich.
schliessend kann bei Bedarf ein Druckverband angelegt wer-
Sie dürfen deshalb – gegebenenfalls warme, gezuckerte –
den. Verschmutzte Wunden sollten in der Wildnis – im Ge-
Getränke trinken und wenn sie Hunger haben auch etwas
gensatz zur Situation in der Zivilisation – vor Ort gereinigt
essen.
werden. Da sterile Lösungen meistens nicht zur Verfügung stehen, kann Trinkwasser verwendet werden (3, 4). Wenn es
Wirbelsäulenverletzung
bis zur definitiven chirurgischen Wundversorgung voraus-
Erfreulicherweise sind instabile Wirbelsäulenverletzungen in
sichtlich länger als 3 Stunden dauern wird, kann – sofern vor-
der Wildnis sehr selten. Bei bewusstseinsklaren Patienten mit
handen – innerhalb der 1. Stunde nach der Verletzung eine
Wirbelsäulenverletzungen ist eine Stabilisierung der Verlet-
systemische Antibiotikatherapie eingeleitet werden (6). Hier-
zung meist bereits durch den verletzungsbedingt erhöhten
für kann zum Beispiel Amoxicillin in Kombination mit Clavu-
Muskeltonus gegeben. Die Indikation zur Immobilisierung der
lansäure eingesetzt werden.
Wirbelsäule ist in der Wildnis sehr streng zu stellen. Häufig
In den meisten Fällen lassen sich Wunden durch einen tro-
stehen entsprechende Hilfsmittel wie ein Spineboard oder
ckenen Verband ausreichend adaptieren. Eine klaffende
eine Vakuummatratze ohnehin nicht zur Verfügung. Halskrau-
Wunde, die sich nicht adaptieren lässt, wird mit einer feuch-
sen können den intrakraniellen Druck durch eine Behinderung
ten Kompresse abgedeckt, damit sie nicht austrocknet. Die
des venösen Rückstroms erhöhen und Druckgeschwüre ver-
Kompresse sollte mehrmals täglich gewechselt werden.
ursachen. Bei der Lagerung auf einem Spineboard können be-
Nicht komprimierbare Blutungen
reits nach 90 Minuten Druckgeschwüre entstehen (6). Eine Immobilisierung der Wirbelsäule ist deshalb in der Regel nur
Im Falle von nicht komprimierbaren Blutungen (z.B. Blutun-
dann sinnvoll, wenn der Patient bewusstlos ist, die Umgebung
gen in den Bauchraum) kommt auch in der Wildnis das
sicher und warm und eine kurzfristige Evakuierung – beispiels-
Konzept der «permissiven Hypotonie» zur Anwendung: Der
weise mittels Hubschrauber – möglich ist.
systolische Blutdruck sollte nicht über 80 bis 90 mmHg angehoben werden, da höhere Blutdruckwerte die Blutung
Verdacht auf Myokardinfarkt
verstärken. Ausnahme von dieser Regel sind Verletzte mit
Wichtigste Massnahme ist hier die frühzeitige Gabe von
Schädel-Hirn-Trauma: Hier sollte der systolische Blutdruck
Acetylsalicylsäure in einer Dosierung von 300 bis 500 mg
bei 90 bis 100 mmHg liegen, um einen ausreichenden zere-
oral. Nitrate sollten nur gegeben werden, wenn keine Hypo-
bralen Perfusionsdruck sicherzustellen. In der Wildnis be-
tonie vorliegt und ein Hinterwandinfarkt mit rechtsventriku-
steht allerdings nur selten die Möglichkeit, grössere Mengen
lärer Beteiligung mittels 12-Kanal-EKG – das in der Wildnis
Flüssigkeit intravenös zu verabreichen.
natürlich nicht zur Verfügung steht – ausgeschlossen ist. Der
Eine Hypothermie führt zu einer disseminierten intravasalen
Betroffene sollte möglichst schnell in die Nähe eines auto-
Gerinnung und verstärkt somit eine Blutung. Es ist deshalb
matischen Defibrillators gebracht werden, um beim Auftre-
essenziell, einen Verletzten mit Blutverlust warm zu halten.
ten von Kammerflimmern defibrillieren zu können.
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Thema
Kardiopulmonale Reanimation
ersten Stunde eine systemische Antibiotika-
In der Wildnis ist die Indikation für eine kardio-
gabe erfolgen. Verletzte müssen unbedingt vor
pulmonale Reanimation strenger zu stellen.
Wärmeverlust geschützt werden – dies ist die
Bei einem durch Trauma bedingten Herzstill-
wichtigste Massnahme, um eine disseminierte
stand sind die Erfolgsaussichten einer
intravasale Gerinnung und damit eine Verstär-
Reanimation extrem gering, deshalb sollte in
kung der Blutung zu vermeiden.
der Wildnis bei einem traumatisch bedingten
Die Indikation zur Wirbelsäulenimmobilisie-
Herzstillstand in der Regel keine Reanimation
rung sollte in der Wildnis unter anderem wegen
durchgeführt werden.
der Gefahr von Drucknekrosen sehr streng ge-
In allen anderen Fällen müssen die Erfolgsaus-
stellt werden. Eine kardiopulmonale Reanima-
sichten gegen das Risiko für die Retter (durch
tion sollte in der Wildnis in der Regel nach 20
Erschöpfung und/oder Unterkühlung) abgewo-
gen werden. In der Wildnis sollte eine Reani- Dr. med. Andreas Leischker im Zieleinlauf des Montane® Spine Challenge
mation in der Regel nach 20 Minuten abgebro-
Minuten abgebrochen werden, wenn bis dahin weder ein Spontankreislauf noch ein defibrillierbarer Rhythmus aufgetreten ist. Ausnahmen
chen werden, wenn es nach dieser Zeit zu
von dieser Regel und damit Indikationen für
keiner Rückkehr des Spontankreislaufs («ROSC», Return of
eine prolongierte Reanimation in der Wildnis sind Herzstill-
Spontaneous Circulation) gekommen ist. Falls ein automati-
stände durch Blitzschlag, Ertrinken und Hypothermie. Bei
scher Defibrillator zur Verfügung steht, sollte die Reanima-
Verdacht auf Herz-Kreislauf-Stillstand durch Hypothermie
tion allerdings mindestens so lange fortgesetzt werden, wie
muss der Puls mindestens eine Minute lang getastet werden.
ein defibrillierbarer Rhythmus besteht. Ausnahmen von die-
x
ser Regel sind durch Blitzschlag, Ertrinken und Hypothermie bedingte Herzstillstände: In diesen drei Sonderfällen sollte die Reanimation – wenn personell möglich – auch in der Wildnis für einen längeren Zeitraum durchgeführt werden (7). Im Falle eines vermuteten Herzstillstandes bei Hypothermie muss der Puls für mindestens 60 Sekunden getastet werden.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Andreas H. Leischker, M.A. Facharzt für Innere Medizin – Reisemedizin (DTG) Flugmedizinischer Sachverständiger Gelbfieberimpfstation Alexianer Krefeld GmbH D-47918 Krefeld
Hintergrund ist, dass bei Hypothermie oft eine Bradykardie vorliegt, welche nur durch längeres Tasten der zentralen Pulse erkannt werden kann. Ein nicht erkannter durch Bradykardie bestehender Minimalkreislauf könnte bei schwerer
Interessenkonflikte: Dr. Leischker hat Honorare/Reisekostenunterstützung von Pfizer, Novartis und Sanofi-Pasteur-MSD erhalten. Er ist Dozent und Mitglied der Akademie des Centrums für Reisemedizin (CRM) Düsseldorf.
Fotos: © Andreas Leischker
Hypothermie durch eine Herzdruckmassage in ein Kammerflimmern überführt werden. Solange die Körperkerntemperatur unter 30 Grad liegt, sollten im Rahmen der Reanimation keine Medikamente gegeben werden, da sie unterhalb dieser Körpertemperatur nicht wirksam sind. Bei Kammerflimmern sollten bei einer Körperkerntemperatur von unter 30 Grad maximal drei Defibrillationen durchgeführt werden. Eine präklinisch begonnene Reanimation bei Hypothermie muss so lange fortgesetzt werden, bis der Spontankreislauf zurückgekehrt ist oder ein Krankenhaus mit Intensivbehandlungsmöglichkeit erreicht ist.
Fazit für die Praxis: Was wird in der Wildnis anders gemacht?
Dieser Artikel erschien zuerst in: Der Allgemeinarzt, 2018; 40 (3), 46–49. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
Literatur: 1. Mellor A, Dodds N, Joshi R, Hall J, Dhillon S, Hollis S, Davis P, Hillebrandt D, Howard E, Wilkes M, Langdana B, Lee D, Hinson N, Williams TH, Rowles J, Pynn H: Faculty of Prehospital Care, Royal College of Surgeons Edinburgh: Guidance for medical provision for wilderness medicine. Extrem Physiol Med 2015 Dec 1;4:22.doi: 10.1186/s13728-015-0041-x. eCollection 2015. PubMed PMID: 26629337; PubMedCentral PMCID: PMC4665843. 2. Lyon R, Wiggins C: Expedition medicine – risk of illness and injury. Wilderness Env Med 2010; 21: 318–324. 3. Griffiths RD, Fernandez RS, Ussia CA: Is tap water a safe alternative to normal saline for wound irrigation in the community setting? J Wound Care 2001; 10(10): 407. 4. Moscati RM, Reardon RF, Lerner EB, Mayrose J: Wound irrigation with tap water, Acad Emerg Med 1998; 5(11): 1.076. 5. Hospenthal DR, Murray CK, Andersen RC et al.: Guidelines for the prevention of infection after combat-related injuries. J Trauma 2008; 64(3 Suppl): S211–220. 6. Cordell WH, Hollingsworth JC, Olinger ML et al.: Pain and tissue-interface pressures during spine-board immobilization. Ann Emerg Med 1995; 26 (1): 31. 7. Paal P, Milani M, Brown D, Boyd J, Ellerton J: Termination of cardiopulmonary resuscitation in mountain rescue. High Alt Med Biol 2012; 13 (3): 200–208.
Frakturen und Luxationen sollten in der Wildnis immer sofort
reponiert werden. Verschmutzte Wunden sollten gereinigt
werden, hierfür kann Wasser mit Trinkwasserqualität verwen-
det werden. Bei verschmutzten Wunden sollte innerhalb der
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