Transkript
2 • 2017
Fortbildung
Pharmakotherapie gegen Schmerzen im Alter
Chronische Schmerzen sind häufiger Anlass für den Arztbesuch älterer Menschen. Doch Schmerz ist nicht gleich Schmerz und Patient nicht gleich Patient. Insbesondere im Alter muss auf körperliche Beeinträchtigungen und andere Begleiterkrankungen geachtet werden. Eine individuell zugeschnittene Therapie ist erforderlich, oft aber nicht so einfach zu etablieren. Ansätze für mögliche Lösungen werden hier vorgestellt.
Der chronische Schmerz ist bis heute nicht eindeutig definiert, was die Schmerzdauer angeht. Aus pharmakotherapeutischer Sicht ist ab einer Therapiedauer von über zwei Wochen mit den Problemen einer Dauertherapie, wie unerwünschten Wirkungen, zu rechnen. Die Behandlung von Schmerzen ist naturgemäss stark von der jeweiligen Ursache abhängig. Für viele wichtige Schmerzprobleme existieren spezielle Zugriffswege, zum Beispiel in der Behandlung der Migräne oder bei spasmolytischen Substanzen gegen kolikartige abdominale Probleme. Für den Einsatz von Medikamenten gibt es zwei bedeutsame Situationen: zum einen den chronisch muskuloskelettalen Schmerz im Gefolge degenerativer Skelettveränderungen – ein häufiges Problem, dessen Prävalenz mit steigendem Lebensalter zunimmt – und zum anderen den chronischen neuropathischen Schmerz. Hier sei als Modellfall die Post-Zoster-Neuralgie genannt, von der ältere Patienten ebenfalls besonders betroffen sind. Trotz der Tatsache, dass die meisten Medikamente für die Gruppe der älteren Menschen und ein beträchtlicher Teil für Hochaltrige verordnet werden, sind die Wirksamkeit einzelner Substanzen, ihre Risiken und ihre Effektivität nicht in dieser Zielgruppe untersucht, sondern bei wesentlich jüngeren Patienten ohne Komorbiditätslast
PD Dr. med. Heinrich Burkhardt
und ohne einschlägige geriatrische Probleme. In vielen Fällen kann man die aus den Zulassungsstudien publizierten oder abgeleiteten RisikoNutzen-Relationen eines Medikaments oder einer Therapie auch nicht so ohne Weiteres extrapolieren – zumindest nicht ohne spezielle Risikoabschätzungen. Darüber sollte sich jeder Verordner im Klaren sein. Schmerzmedikamente gehören auch in der Schweiz zu den verordnungsstärksten Arzneimitteln überhaupt, wobei Medikamente, die ohne ärztliche Verordnung in Apotheken oder anderswo erworben werden, in den Statistiken noch nicht enthalten sind.
Polypharmazie ist nicht gleich Polypharmazie Nicht nur die Mehrzahl der Medikamente wird älteren Patienten (> 65 Jahre) verordnet, ein Drittel von ihnen nimmt auch mehr als 3 Medikamente täglich ein. Dies führt bei vielen Patienten über das Phänomen Multimorbidität zur Polypharmazie, von der man ab einer Anzahl von 5 und mehr täglich verordneten Präparaten sprechen kann. Ähnliches gilt für die Multimorbidität. Hier gibt es noch weniger Konsens über die Definition, häufig wird bei gleichzeitigem Vorliegen von drei chronischen Erkrankungen davon gesprochen. Polypharmazie ist aber nicht gleich Polypharmazie und Multimorbidität nicht gleich Multimorbidität. Es kommt hier entscheidend auf die Kombination
Tabelle 1:
Altersassoziierte Veränderungen mit Relevanz für die Pharmakotherapie
Veränderung
Akkomodation eingeschränkt Trübung der Augenlinse Gesamtkörperwasser vermindert Leberdurchblutung reduziert2
glomeruläre Filtrationsrate vermindert1
Rückresorption von Natrium vermindert Muskelmasse nimmt ab Albuminkonzentration im Serum nimmt ab3 kognitive Einbussen Arthrose Handgelenke
Pharmakokinetik nein
nein
verändertes Verteilungsvolumen Akkumulationsgefahr bei eingeschr. therap. Breite Akkumulationsgefahr bei eingeschr.
therap. Breite nein
verändertes Verteilvolumen ja (nachrangiger
Faktor) nein nein
Pharmakodynamik
nein nein nein nein
nein
nein ?
nein nein nein
Selbstmanagement
ja
ja
nein
nein
UAW1 Sturzgefahr erhöht Sturzgefahr erhöht
nein
nein Hyponatriämierisiko erhöht
(ja) Sturzgefahr erhöht
nein
ja Delirrisiko erhöht ja
UAW: unerwünschte Arzneimittelwirkung; 1 Bed-side-Bestimmung mittels Schätzformel möglich und empfohlen; 2 keine Bed-side-Messung möglich – erwarteter Faktor etwa bei 30% Reduktion; 3 nur für bestimmte Medikamente mit Eiweissbindung und geringer therapeutischer Breite von Relevanz.
– 33 –
Fortbildung
2 • 2017
beziehungsweise die entstehenden Muster an, die Symptomdruck und klinischen Therapieauftrag auf der einen Seite und mögliche Interaktionen oder eine pharmakotherapeutische Problematik auf der anderen bedingen. So kann die Behandlung der arteriellen Hypertonie mit mehreren Medikamenten meist relativ unproblematisch etabliert werden, die gleiche Anzahl von Arzneimitteln im Rahmen der Schmerztherapie aufgrund der viel höheren Rate unerwünschter Nebenwirkungen jedoch viel schwieriger sein. Auch andere Aspekte aus der Epidemiologie sind wichtig. Zu bedenken ist zum Beispiel, dass sich für viele zu erwartende unerwünschte Wirkungen einer Medikation, also für deren Risiken, die Wahrscheinlichkeit des Eintretens bei älteren Patienten deutlich erhöht. Ein gutes Beispiel ist die Blutungsgefahr, die mit dem Alter aus unterschiedlichen Gründen kontinuierlich zunimmt und so auch in verbreiteten Scores (HASBLED) zur Risikoabschätzung Eingang findet. In der Praxis ist dies bei der Verordnung von nicht steroidalen Entzündungshemmern (NSAID) relevant, die oft bei Schmerzen älterer Patienten eingesetzt werden, weil in der Dauertherapie ein erhebliches Blutungsrisiko zu beachten ist. Tabelle 1 zeigt die klinisch bedeutsamsten Veränderungen im Kontext der medikamentösen Therapie. Neben pharmakologischen Aspekten, die hauptsächlich auf veränderte pharmakokinetische Verhältnisse abheben, bedingen andere Gesichtspunkte die Einschränkungen im Selbstmanagement und das Auftreten von Einnahmefehlern. Unter den pharmakokinetisch relevanten Punkten hat sicher die eingeschränkte Nierenfunktion die grösste Bedeutung. Sie ist bei älteren Menschen aufgrund der häufig reduzierten Muskelmasse oft erst deutlich später auffällig. Eine Überprüfung der Serum-Kreatinin-Werte alleine reicht deshalb nicht aus. Es sollte immer versucht werden, sich mit Schätzformeln – trotz aller darin liegender Ungenauigkeit – ein besseres Bild zu machen. Gemessene Kreatininclearance mittels Sammelurin wird allgemein für ältere Patienten nicht mehr empfohlen. Hier sind aufgrund von Sammelfehlern keine genaueren Ergebnisse zu erwarten. Nicht alle Schätzformeln sind auch für die Gruppe der älteren Patienten evaluiert. Nach wie vor kann aus geriatrischer Sicht die Cockcroft-Gault-Formel empfohlen werden.
Die Nierenfunktion beim älteren Menschen sollte nicht nur regelmässig überprüft werden, um eine Dosisakkumulation zu vermeiden. Auch die Vulnerabilität gegenüber nephropathogenen Noxen ist bei älteren Patienten häufig erhöht. Daher sind potenziell nephrotoxische Medikamente wie die NSAID auch mit entsprechender Vorsicht einzusetzen.
Schätzformel der GFR nach Cockcroft und Gault
Clearance (ml/min) = (140 – Lebensalter) × Körpergewicht (kg)/
(72 × Serumkreatinin [mg/dl]) (Korrekturfaktor 0,85 für Frauen)
Adhärenz und Selbstmedikation Die Adhärenz (Therapietreue) älterer Patienten ist nicht grundsätzlich problematischer als bei jüngeren, aber es spielen andere Faktoren bei dieser Patientengruppe eine zunehmend dominante Rolle. Dazu zählen ein reduzierter Visus, eine eingeschränkte manuelle Motorik und kognitive Probleme. Sie behindern diese Patienten meist zunehmend, sodass schon das Auffinden und die korrekte Einnahme einer kleinen Tablette schwierig werden kann. Diese Aspekte mit direktem Bezug auf relevante Funktionalität für eine sichere Medikamenteneinnahme können gut über geeignete kurze Performancetests abgefragt werden. Ein aus gerontopharmakologischer Sicht gut geeigneter Test ist der Geldzähltest nach Nikolaus, der als Bestandteil des geriatrischen Assessments entwickelt und in relevanten Situationen evaluiert wurde. Ist dieser auffällig, sollte überlegt werden, inwiefern nicht die Handhabung von Medikamenten durch Dritte unterstützt werden muss. Auch ältere Menschen kaufen Medikamente ausserhalb der ärztlichen Verordnungspraxis in Apotheken, Drogerien oder andernorts und sind sich oft wenig über die Gefahren einer unkontrollierten Selbstmedikation im Klaren. Hier bedarf es gerade bei komplexen Verordnungssituationen und durch Multimorbidität getriggerter Polypharmazie einer umsichtigen Beratung. Besonders problematisch ist die unkontrollierte Einnahme von NSAID.
Zwei weitere spezielle geriatrische Risikoereignisse, die im geläufigen Diskurs zur Risiko-Nutzen-Abwägung oft nicht angemessen beachtet werden, verdienen unsere Aufmerksamkeit: zum einen das durch eine medikamentöse Therapie begünstigte Sturzrisiko lokomotorisch bereits vulnerabler Patienten und zum anderen das Delirrisiko im Alter. Bezüglich des Delirs oder des Verwirrtheitszustands muss aus geriatrischer Sicht betont werden, dass dies – besonders wenn eine hypoaktive Form vorliegt – häufig übersehen und nicht als relevantes Warnzeichen erkannt wird, was es aber unbedingt ist. Ein erhöhtes Sturzrisiko kann durch die Gabe von Opiaten bedingt, ein höheres Delirrisiko hauptsächlich durch anticholinerg wirksame Medikamente hervorgerufen sein. Aber auch durch die zentral wirksamen Opiate und, was meist nicht bekannt ist, durch zentrale Effekte der NSAID können Verwirrtheitszustände hervorgerufen werden. Wichtig ist, bei der Verordnung entsprechender Medikamente im Vorfeld die einschlägige Vulnerabilität der Patienten zu erfassen, entsprechend vorsichtig zu dosieren und schliesslich engmaschig die Verträglichkeit zu prüfen. Auch hierzu können funktionelle Tests aus dem Feld des geriatrischen Assessments hilfreich sein. Besonders anfällig sind durch Sarkopenie eingeschränkte, gebrechliche Patienten mit Demenz. Sie sind sowohl lokomotorisch als auch kognitiv wenig belastbar und können sehr empfindlich auch auf kleine Dosen von Medikamenten reagieren.
Wie gut sind welche Schmerzmedikamente? Trotz der Vielzahl der Arzneimittel bleibt die medikamentöse Schmerztherapie gerade beim älteren und geriatrischen Patienten problematisch. Dies liegt an der hohen Rate unerwünschter Wirkungen vieler Präparate und an der leider bei den verträglicheren Medikamenten häufig eingeschränkten Wirksamkeit. Dies gilt zum Beispiel für Paracetamol. Dennoch stellt es sich aus gerontopharmakologischer Sicht – aufgrund der erheblich höheren Problematik bei NSAID – als Mittel der ersten Wahl bei leichten bis mässig ausgeprägten muskuloskelettalen Beschwerden dar. Für Metamizol gilt, dass hier eine seltene unerwünschte Wirkung (idiosynkratische Schädigung des Kno-
– 34 –
2 • 2017
Fortbildung
chenmarks bis zur aplastischen Anämie) grosse Unsicherheiten hervorruft. Zurzeit ist die Verordnungspraxis bezüglich Metamizol in Deutschland wieder relativ grosszügig. Man kann sagen, dass das Risiko nach allen Daten, die hierzu vorliegen, gering ist. Bei einer hämatologischen Problematik darf es keinesfalls eingesetzt werden. Ausserdem hat bei der Anwendung von Metamizol eine kurzfristige Kontrolle des Blutbildes zu erfolgen. Dies sollte auch im ambulanten Verordnungsbereich beachtet werden. Bei den klassischen NSAID und den Coxiben wurden die Unterschiede in Wirkung und Profil der unerwünschten Wirkungen in der Vergangenheit überbewertet. Grundsätzlich sind all diese Medikamente wegen des teilweise hohen Risikos für unerwünschte Wirkungen bei älteren Patienten schwierig, insbesondere in der Dauertherapie. Eine differenzielle Bewertung der unterschiedlichen Substanzen bleibt trotz gewisser Unterschiede unsicher. Die Rate der gastrointestinalen Probleme kann bis über 30 Prozent erreichen. Interessant ist, dass der bezüglich der Magenblutung postulierte und in Studien teilweise aufgetretene günstigere Effekt der Coxibe so in Beobachtungskohorten nicht nachgewiesen werden konnte und die mit der Entwicklung spezifischer Hemmstoffe der Cyclooxygenase 2 verbundenen Erwartungen in dieser Form nicht erfüllt wurden. Bestehen einschlägige anamnestische Hinweise für ein Ulkusrisiko, sollte zu den NSAID ein Protonenpumpeninhibitor gegeben werden. Die Gefahr der Blutdruckentgleisung wird ebenfalls oft unterschätzt und ist für Hypertonuspatienten relevant. Hier sollte unbedingt darauf hingewiesen werden, dass auch bei einer gelegentlichen Selbstmedikation mit einem NSAID beim Gelenkschmerz mit Blutdruckentgleisungen gerechnet werden muss. Den meisten Hochdruckpatienten ist das nicht bewusst. Schliesslich agieren diese Medikamente nephrotoxisch, besonders wenn eine Volumendepletion eintritt (mangelnde Flüssigkeitsaufnahme, Kotherapie mit Diuretika). Im Monitoring ist daher, neben der Abfrage gastrointestinaler Probleme, die Kontrolle der Nierenfunktion und des Blutdrucks zu fordern. Ein weiterer Schwachpunkt der NSAID, der in den letzten Jahren für Aufsehen gesorgt hat, ist die bei Langzeitanwendung
hervorgerufene kardiovaskuläre Übersterblichkeit. Hierbei handelt es sich wohl um einen Klasseneffekt, wobei einige Hinweise existieren, dass Naproxen unter allen NSAID das geringste Risiko aufweist. Im Einzelfall wird es aber schwer sein, eine Kausalität so direkt abzuleiten wie bei der Ulkusblutung unter NSAID. Daher ist auch die Umsetzung dieses eindeutig gefundenen Risikosignals in die Praxis schwierig. Bei Patienten mit einer instabilen Gefässsituation, zum Beispiel nach Infarkt oder einer deutlichen Gefässerkrankung (KHK), stellt dies aber ein sehr gewichtiges Argument dar und spricht gegen eine Therapie mit NSAID. Besonders in Akutphasen einer Gefässer-
krankung sollte man diese Medikation unbedingt vermeiden. Die Bewertung der Opiate folgt prinzipiell zwei Argumenten, zum einen der erforderlichen Wirkstärke, zum anderen dem zu erwartenden Risikopotenzial. Bei der Stärke können die Unterschiede der Wirkstoffe gut beschrieben werden, beim Risikoprofil bestehen dagegen deutlich grössere Unsicherheiten. Grundsätzlich können alle Opioide neben Übelkeit und Obstipation zerebrale Symptome wie Schwindel, Gangunsicherheit und Verwirrtheitszustände auslösen. Besondere Vorsicht ist daher in der Eindosierungsphase bei gebrechlichen oder bereits zerebral vorge-
Tabelle 2:
Bewertung der Schmerzmedikamente aus geriatrischer Sicht
Wirkstoff Paracetamol Metamizol
Diclofenac
Naproxen Celecoxib Tramadol Tapentadol Morphin Hydromorphon Oxycodon Buprenorphin
PRISCUS als Alternative für NSAID favorisiert als Alternative für NSAID unter RisikoNutzen-Abwägung gelistet nicht erwähnt; Piroxicam, Meloxicam, Indometacin und andere als ungünstig bewertet
FORTA A B
D
nicht erwähnt
nicht erwähnt Etoricoxib als ungünstig bewertet
D D
Opiate nicht differenziert erwähnt
C
B
Kommentar eingeschränkte Wirksamkeit, aber gut verträglich bis 3 g/Tag sehr seltene, aber ernsthafte hämatologische UAW (bis zur aplastischen Anämie), kontraindiziert bei vorbestehenden Blutbildungsstörungen und verwandten KM-assoziierten Erkrankungen Klassisches NSAID, gute Wirksamkeit bei mässigen, muskuloskelettalen Schmerzen, aber UAW-Risiko bis zu 30%; UAW für alle NSAID: Blutdruckkrisen, Ulkus und andere gastrointestinale Probleme, kardiovaskuläres Risiko insgesamt erhöht (Daueranwendung), nephrotoxisches Potenzial evtl. einziges NSAID ohne zusätzliches kardiovaskuläres Risiko kein sicherer Vorteil gegenüber klassischen NSAID (evtl. etwas geringes Ulkusrisiko)
relativ geringe Wirksamkeit, zusätzliches Problem: serotonerges Syndrom, nicht mit SSRI gemeinsam anwenden! Weiterentwicklung des Tramadol mit ähnlichen Problemen und etwas stärkerer Wirksamkeit klassisches Opiat, verzögerte Elimination bei reduzierter Nierenfunktion auch bei reduzierter Nierenfunktion anwendbar, analgetische Potenz 7,5 Analgetische Potenz ca. 2, fixe Kombination mit Naltrexon zur Verminderung des Obstipationsrisikos verfügbar stark wirksames Opioid, geringeres delirogenes Potenzial, aber etwas stärker sedierend als transdermales System oder sublinguale Tablette, analgetische Potenz 30–40
PRISCUS: Deutsche Negativliste des PRISCUS-Konsortiums – identifiziert potenziell ungeeignete Medikamente für ältere Patienten (PIM); FORTA: Bewertung von Medikamenten unter geriatrischen Aspekten aus dem FORTAVerbund – Bewertung von A bis D – A = ohne Einschränkung geeignet für ältere Patienten – D = ungünstig für die Anwendung bei älteren Patienten; UAW: unerwünschte Arzneimittelwirkung; NSAID: nicht steroidales Antiphlogistikum.
– 35 –
Fortbildung
2 • 2017
Tipps für die Schmerztherapie älterer Patienten
1. Fragen Sie Ihre Patienten aktiv nach eventueller Selbstmedikation.
2. Erklären Sie Ihren Hypertonuspatienten, dass NSAID die Blutdruckkontrolle erschweren.
3. Vergewissern Sie sich, dass Ihre Patienten genügend funktionelle Ressourcen haben, um selbst mit der Medikation zurechtzukommen.
4. Versuchen Sie bei leichten bis mässig stark ausgeprägten muskuloskeletalen Schmerzen zunächst Paracetamol.
5. Kontrollieren Sie regelmässig die Nierenfunktion und das Blutdruckverhalten, wenn Sie NSAID einsetzen.
6. Beginnen Sie bei zerebral vulnerablen Patienten besonders vorsichtig mit niedrigen Dosen, wenn Sie Opioide eindosieren.
7. Vermeiden Sie trizyklische Antidepressiva als Adjuvanzien.
8. Nutzen Sie spezielle Scoringsysteme, um Schmerzen bei verbal eingeschränkten Patienten einschätzen zu können.
9. Überprüfen Sie das Blutbild beim Einsatz von Metamizol.
10. Setzen Sie keine NSAID ein, falls bei Ihrem Patienten eine instabile Gefässsituation vorliegt.
schädigten Patienten geboten. Für die Dauerthe-
rapie werden retardierte Opiatzubereitungen
verwendet, um eine möglichst gleichmässige Ab-
deckung zu erreichen. Zur Kontrolle etwaiger
Schmerzexazerbationen sollten schnell wirksame
nicht retardierte Formulierungen zusätzlich für
den Bedarfsfall verordnet werden. Abhängigkeits-
probleme werden in der Regel überschätzt, auch
wenn sie nach wie vor zur Diskussion stehen. Sie
dürften aber bei einer umsichtigen Dosierung, die
insbesondere von engmaschiger entsprechender
Beratung und Betreuung des Patienten begleitet
ist, kaum eine Rolle spielen. Das Gleiche gilt für
die Atemdepression, die erst bei hohen Dosen,
insbesondere bei bis anhin opioidnaiven Patien-
ten, zu erwarten ist und ebenfalls durch eine um-
sichtige Eindosierungsphase abgewendet werden
kann. Tramadol und Tapentadol werden in der
Therapie älterer Patienten eher kritisch gesehen,
da sie in Komedikation mit einem selektiven Se-
rotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) die Ge-
fahr eines serotonergen Syndroms bergen. Da
SSRI relativ häufig eingesetzt werden, sollte die-
ser Umstand unbedingt beachtet werden.
Beim neuropathischen Schmerz kommen nach
den WHO-Empfehlungen schon in der ersten
Stufe Adjuvanzien (Antidepressiva oder Antiepileptika) zum Einsatz. NSAID oder andere Nichtopioide sind hier meist wenig wirksam. Auch Opioide zeigen eher geringere Effektivität. Allerdings sind sowohl Antidepressiva als auch Antiepileptika mit einer Reihe von unerwünschten Wirkungen verbunden, die gerade beim vulnerablen älteren Patienten eine grosse Rolle spielen (Gangunsicherheit und Delir). Wichtig ist, Trizyklika bei dieser Indikation zu vermeiden, auch wenn man eine adjuvante Wirkung oft mit wesentlich geringeren Dosen erreichen kann, wie zur Erzielung eines antidepressiven Effekts. Leider gibt es zur differenziellen Bewertung der möglichen Wirkstoffe nur begrenzt belastbare Daten. Empfohlen werden können unter den Antidepressiva Duloxetin und Venlafaxin, unter den Antiepileptika das Pregabalin. Auch hier sollte immer mit einer möglichst niedrigen Dosis in der Eindosierungsphase begonnen und die Gangstabilität beobachtet werden. In den letzten Jahren beschäftigten sich zwei Arbeitsgruppen in Deutschland intensiv mit der Frage der potenziell ungünstigen Medikamente für ältere Patienten: die PRISCUS-Gruppe und die FORTA-Autoren (Tabelle 2). Die ursprüngliche Zielsetzung und die Methoden beider Gruppen unterscheiden sich in gewissen Punkten. Beide haben aber inzwischen in einem engen Abstimmungsprozess ihre Einschätzungen auf eine breitere Expertenbasis gestellt und netzbasiert zugänglich gemacht (http://priscus. net/download/PRISCUS-Liste_PRISCUS-TP3_2011. pdf und www.umm.uni-heidelberg.de/ag/forta/ FORTA_liste_deutsch.pdf ).
Besondere Situationen und Aspekte Die Behandlung demenzkranker Patienten stellt auch in der Schmerztherapie eine Herausforderung dar. Nicht nur weil sie generell als zerebral anfällig gelten könnten und das Delirrisiko infolge einer Opioid- oder NSAID-Therapie hoch ist – auch das Erkennen und Bewerten eines Schmerzproblems kann schwierig werden, vor allem in fortgeschrittenen Stadien mit eingeschränkter verbaler Kommunikation. Dazu wurden spezielle Ratingscores (z.B. BEST) entwickelt, mit denen Pflegemitarbeiter und Ärzte das Schmerzproblem einschätzen können. In terminalen und stärker palliativ geprägten
Situationen kann die Anwendung bukkal oder
transnasal applizierbarer Präparate (Fentanyl
oder Buprenorphin) helfen und erlaubt auch eine
rasche Behandlung bei Schluckstörungen. Für die
Dauertherapie können bei stark hilfsbedürftigen
Patienten ohne erhaltenes Selbstmanagement
gut transdermale Systeme mit Opioiden ange-
wendet werden (Fentanyl oder Buprenorphin). Die
individuell richtige transdermale Dosis aus einer
zuvor als wirksam erkannten oralen Dosierung
kann allerdings nur grob abgeschätzt werden, da
die transdermale Resorption vielen individuellen
und lokalen Faktoren unterliegt. Gelegentlich wird
eine Wirkabschwächung am Ende der Applikati-
onsphase beobachtet. Hier sollte dann nicht die
Dosis gesteigert, sondern das Applikationsinter-
vall um einen Tag verkürzt werden. Pflastersys-
teme sollten niemals auf ein morphologisch er-
kennbar verändertes Hautareal aufgebracht und
immer an vergleichbaren Hautarealen appliziert
werden (am besten am Rumpf ), da auch lokal die
Resorptionsrate sehr unterschiedlich sein kann.
Korrespondenzadresse: PD Dr. med. Heinrich Burkhardt IV. Medizinische Klinik D-68167 Mannheim
x
Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert.
Dieser Artikel erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt», 2017; 39 (21) 8–13. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
– 36 –
2 • 2017
Literatur: 1. Schwabe U: Arzneiverordnungen 2012 im Überblick. In: Schwabe U, Paffrath D (Hrsg.) Arzneiverordnungsreport 2013, Springer, Heidelberg, 2013. 2. Pisters R, Lane DA, Nieuwlaat R et al.: A novel user-friendly score (HAS-BLED) to assess one-year risk of bleeding in AF patients: The Euro heart Survey. Chest 2010; 138: 10 93–100. 3. Cockcroft DW, Gault MH: Prediction of creatinine clearance from serum creatinine. Nephron 1976, 16: 31–41. 4. Nikolaus T, Bach M, Specht-Leible N, Oster P, Schlierf G: The timed test of money counting: a short physical performance test for manual dexterity and cognitive capacity. Age and Aging 1995, 24: 257–258. 5. Huber M, Andersohn F, Bronder E, Klimpel A, Thomae M, Konzen C, Meyer O, Salama A, Schrezenmeier H, Hildebrandt M, SpäthSchwalbe E, Grüneisen A, Kreutz R, Garbe E: Drug-induced agranulocytosis in the Berlin case-control surveillance study. Eur J Clin Pharmacol. 2014 Mar; 70 (3): 339–345. 6. Coxib and traditional NSAID Trialists’ (CNT) Collaboration. Vascular and upper gastrointestinal effects of non-steroidal anti-infl ammatory drugs: meta-analyses of individualparticipant data from randomised trials. Lancet 2013; 382: 769–779. 7. Fishbain DA, Cole B, Lewis J, Rosomoff HL, Rosomoff RS. What percentage of chronic nonmalignant pain patients exposed to chronic opioid analgesic therapy develop abuse/addiction and/or aberrant drug-related behaviors? A structured evidence-based review. Pain Med. 2008 May-Jun;9(4):444-59. 8. Finnerup NB, Otto M, McQuay HJ, Jensen TS, Sindrup SH: Algorithm for neuropathic pain treatment: an evidence based proposal. Pain. 2005 Dec 5; 118 (3): 289–305. 9. Zwakhalen SM, Hamers JP, Abu-Saad HH, Berger MP (2006): Pain in elderly people with severe dementia: a systematic review of behavioural pain assessment tools. BMC Geriatr 6:3.
Fortbildung
– 37 –