Transkript
2 • 2017
Serie Kunsttherapie
Kunst als Behandlungsoption
Teil 5: Fachrichtung: Drama- und Sprachtherapie Unterstützung von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung
Drama- und Sprachtherapie nutzt die therapeutischen Aspekte in Drama, Theater und Dichtung. Eine imaginative
Monika Kellersberger, Johanna Künzli-Zaluski
bannt und kann sich nicht abgrenzen. Von sich aus spricht er kaum, wenn doch, dann in abgehacktem Flüsterton. Oft steht er erstarrt still
Realität aus gestischen, szenischen und
und ist auch mit Assistenz nur schwer wieder
sprachlichen Elementen gibt den Klienten als Expe-
in Gang zu bringen. Blockaden können den ganzen Tag dau-
rimentierfeld sicheren Rahmen; sie ermutigt zum
ern und auch Nahrungsverweigerung bedeuten.
Entdecken und Entfalten neuer Ausdrucksmöglich-
In Krisensituationen kommt es vermehrt (wöchentlich) zu
keiten und Lebensrollen.
Gewaltübergriffen mit Fremd- und Autoaggression durch
Schlagen, Gläser werfen, Spucken und so weiter. Ein aktuel-
Therapeutisch eingesetzte Sprech- und Theatertechniken
ler ärztlicher Befund liegt nicht vor, Herr Gut verweigert jeg-
greifen regulierend ein in den Atem- und Herzrhythmus, in regulative Prozesse und die Haltung. Sie modifizieren Störungen der Sprache und des Sprechens sowie der Körpersprache. Drama- und Sprachtherapie macht den Dialog der psychischen und mentalen Dynamik im Menschen mit dem Körper hör- und sichtbar. Der Einsatz ihrer therapeutischen Mittel erfolgt expressiv und rezeptiv. Zur Drama- und Sprachtherapie gehören der Einsatz von Rol-
Monika Kellersberger Diplomierte Kunsttherapeutin (ED), Fachrichtung Drama- und Sprachtherapie. Tätig als Drama- und Sprachtherapeutin in einer sozialtherapeutischen Institution und in der Gemeinschaftspraxis Therapeutikum in Bern.
lichen Arztbesuch. Er hat sich einverstanden erklärt, die Drama- und Sprachtherapie zu besuchen.
Therapieziele 1. Stabilisierung des Allgemeinzustandes, um den weiteren
Verbleib von Herrn Gut in der Institution zu ermöglichen. 2. Das Körperbewusstsein durch die Arbeit mit kräftigen
lenspiel und Improvisation, projektive Techniken und Embo-
Konsonanten stärken.
diment-Übungen, die Arbeit mit Märchen, Gedichten und
3. Innenraum bilden, diesen erwärmen und sich selbst dabei
Liedern, Figurenspiel, therapeutische Textarbeit sowie Laut-,
besser spüren.
Stimm- und Sprechübungen.
4. Deblockieren und Vertiefen der Atmung zur Entspannung
Drama- und Sprachtherapie wird häufig mit Schwerpunkt
und um in Bewegung zu kommen.
entweder in Dramatherapie oder mit stärkerer Betonung der
Sprachmittel ausgeübt. Die beiden Falldarstellungen tragen
Welche Therapiemittel wurden eingesetzt?
diesem Umstand Rechnung.
Erstes Fallbeispiel (Praxis M. Kellersberger) Herr Gut* ist 31 Jahre alt. Die Diagnose frühkindlicher Autismus wurde im Alter von 5 Jahren gestellt. Heute steht ein starker Autismus bis hin zur Katatonie im Vordergrund. Er lebt und arbeitet in einer sozialtherapeutischen Institution.
Johanna Künzi-Zaluski Diplomierte Kunsttherapeutin (ED), Fachrichtung Drama- und Sprachtherapie. Tätig als Leiterin Agogik und Dramatherapeutin in einer sozialtherapeutischen Institution und in der Praxisgemeinschaft WintiWell in Winterthur.
Einfachste Wort- und Silbenkombinationen führen auf Ressourcen, die beim Spracherwerb in den ersten Lebensjahren gebildet wurden, zurück. Auch in schweren Fällen von Autismus sind solche Ressourcen vorhanden, wenn auch nicht präsent. Durch den körperlichen Widerstand beim Bilden von Silben mit Explosivlauten (B, P, D, G) kann Herr Gut Festigkeit und Halt erfahren. Verstärkt wird der Widerstand mit begleitenden Gesten und indem gleichzeitig auch die Füsse kräftig
auf den Boden gedrückt werden. Der Laut D lockert und
Wie erscheint Herr Gut in der Begegnung?
durchwärmt den Unterbauch und spricht die Beckenboden-
Die Gestalt des Klienten erscheint schlank, mit nach vorne
muskeln an. Die Aufmerksamkeit im Körperschwerpunkt wird
hängenden Schultern und stets kalten Händen. Sein Gang
sensibilisiert und gestärkt.
ist staksig und schnell. Mit dem Blick fixiert er den Boden.
Der Konsonant B hängt mit Abgrenzung und Innenraum
Der Schlaf-Wach-Rhythmus ist stark beeinträchtigt. Herr Gut
zusammen (Burg, Bad, Boot, Becken usw.). Er wird mit den
ist häufig nachts aktiv und tagsüber antriebslos. Er beobach-
Lippen an der Grenze von Innen- und Aussenwelt gebildet.
tet das Geschehen um ihn von der Seite, ist dabei wie ge-
* Name geändert
Um diese Grenze immer wieder zu erleben, habe ich mit
– 17 –
Serie Kunsttherapie
2 • 2017
Die Miniaturenwelt des Herrn Schild
Herrn Gut an verschiedenen B-Übungen gearbeitet. Dabei nehmen wir einen Ball zu Hilfe, den wir später beim Sprechen der Worte über Kreuz in kräftiger Weise in die Hand des Gegenübers legen. Wichtig ist dabei, auf eine gute Ausatmung zu achten. Mit einer solchen Übung werden grundlegende Themen des Klienten berührt und bearbeitet: das Erleben der Grenze von Innen und Aussen, das Im-Körper-zu-HauseSein-Können, das Wahrnehmen von Ich und Du. Um den Atemrhythmus zu harmonisieren, arbeiten wir an einem kurzen Gedicht im Hexameter-Rhythmus. Während Herr Gut das Gedicht hört, hat er die Aufgabe, mit ruhigen und möglichst fliessenden Schritten die Längen des Metrums zu schreiten. So wird das staksige Gehen des Alltags in eine fliessende Bewegung gelenkt. Im nächsten Schritt spricht er im Wechsel mit der Therapeutin den Text mit, und sein gewohnheitsmässig überhastetes Sprechtempo verlangsamt sich. Die Regelmässigkeit des Schreitens und Atmens führt zusammen mit dem Sprechen über längere Zeit in eine harmonische Entspanntheit. Herr Gut schafft es nach mehreren Wochen, den Text in grosszügigen Atembögen und ruhig zu sprechen. Er ergreift dabei seine Gestalt bis in die Füsse und wirkt vom Boden getragen.
Welche Veränderungen waren zu beobachten? Herr Gut besucht die wöchentliche Drama- und Sprachtherapie über 15 Monate erfreulich zuverlässig.
– 18 –
Es gelingt ihm heute, kräftiger und geformter zu sprechen; seine Atmung ist tiefer, die Bewegungen sind belebter. Er nimmt sich selbst besser wahr. Gerät er ausser sich, gelingt es in der Regel, ihn mithilfe der rhythmisch gesprochenen Übungen zu beruhigen. Es zeigen sich Schwierigkeiten beim Verweilen in den Vokalen, insbesondere ist ein klingendes Sprechen noch überfordernd. Insgesamt machte Herr Gut in den vergangenen Monaten auch im Alltag einen stabileren Eindruck. Eine Krise, die sein weiteres Verbleiben in der Institution infrage stellen würde, ist in diesem Jahr nicht mehr eingetreten. Die Bezugspersonen des Klienten beschreiben, dass sich Herr Gut vermehrt verbal äussert, und sie wünschen, die Therapie weiterzuführen.
Fazit Drama- und Sprachtherapie ist eine geeignete Methode, um Menschen aus dem Autismusspektrum zu fördern und zu unterstützen, indem: • psychische Themen wie Abgrenzung und Selbstwahrneh-
mung über den Körper erfahren und geübt werden • die Atmung mittels der Arbeit an rhythmischen Texten und
Übungen vertieft und harmonisiert wird • die Ich-Präsenz aktiviert, gefordert und geschult wird und
sich damit die soziale Interaktionsfähigkeit und das Wohlbefinden der Klienten verbessern.
2 • 2017
Serie Kunsttherapie
Herr Schild in einer Theaterszene
Zweites Fallbeispiel (Praxis J. Künzi-Zaluski) Herr Schild* kam im Jahr 1994 zur Welt. Während der Geburt erlitt er irreversible Schäden und lebt heute mit der Diagnose einer leichten geistigen Behinderung, verbunden mit infantiler Zerebralparese und Asperger-Autismus. Er arbeitet in einer sozialtherapeutischen Institution und entwickelte in letzter Zeit Verhaltensauffälligkeiten, die seine bevorstehende Integration in eine Wohngruppe erschweren.
Wie erscheint Herr Schild bei der ersten Begegnung? Herr Schild bewegte sich sehr leicht, kreuzte seine Arme über dem Kopf, hüpfte oder ging im Raum hin und her. Er war fixiert auf Knöpfe an der Kleidung anderer Leute und ging, sobald er einen hübschen Knopf sah, ohne Hemmungen auf den Träger zu und fasste den Knopf an. Das löste bei anderen oft Angst oder Unsicherheit aus. Herr Schild konnte sich höchstens fünf Minuten auf eine Aufgabe konzentrieren. Er überschritt oft Grenzen, indem er andere packte und laut herumschrie. Reagierte jemand ängstlich oder panisch darauf, wiederholte Herr Schild das Vorgehen freudig. Eine Einzelbegleitung, Konsequenzen und Abmachungen blieben wirkungslos, und er wurde immer mehr von den anderen Tagesaufenthaltern ausgegrenzt. Er wollte in die Dramatherapiegruppe kommen.
* Name geändert
– 19 –
Therapieziele 1. Körperwahrnehmung verbessern, um eigene Grenzen zu
erkennen. 2. Stärkung der Sozial- und der Selbstkompetenz, um die
Konfliktanfälligkeit zu mindern. 3. Integration in eine Wohngruppe ermöglichen.
Welche dramatherapeutischen Mittel wurden eingesetzt? Im Vordergrund stand die EPR-Methode (Embodiment-Projektion-Rolle). Im Embodiment greife ich auf Erfahrungen aus dem ersten Lebensjahr zurück, wo das Erleben der Welt vor allem über direkte Körperwahrnehmung stattfindet. Zur Methode gehören Atemübungen, Imaginationsgeschichten, Körperspiele und einfache Yogaübungen. Der Körper wird geerdet. Erst dann ist es möglich, mit Emotionen zu arbeiten, sie achtsam wahr- und anzunehmen und zu transformieren. Embodiment beeinflusst das vegetative Nervensystem und erhöht Flexibilität und Stabilität sowohl auf körperlicher als auch auf geistig-emotionaler Ebene. Dies ermöglicht, mit mehr Selbstvertrauen neue Wege und Handlungsmöglichkeiten zu erkennen, die eigene Wirksamkeit und Resilienz zu erhöhen. Mithilfe von Projektionstechniken werden die bearbeiteten Probleme anhand verschiedener Objekte oder Bilder visualisiert, um die als Alltagserfahrungen vorliegenden Beziehungen, Gefühle und Erlebnisse besser verarbeiten und verstehen zu können.
Serie Kunsttherapie
2 • 2017
Das Rollenspiel ermöglicht, verschiedene Situationen zu erforschen, zu erleben und Handlungsmöglichkeiten spielerisch auszuprobieren, die im Alltag umgesetzt werden können. Mit dieser Aktionstechnik werden der Bewegungsdrang in theatralischer Form kanalisiert und die nicht erkannten Körperemotionen zum Ausdruck gebracht, alte Muster gelöst und neue eingeübt. Theaterspiele, bei denen gelernt wird, «Ja», «Nein» oder «Stopp» zu sagen oder die eigenen Grenzen zu markieren und zu verteidigen, sind ein gutes Werkzeug, um eigene Innenräume zu finden, zu definieren und für sich und andere sichtbar zu machen, was wiederum zu Selbstakzeptanz, Selbstzufriedenheit und erweiterten Sozialkompetenzen führt. Regeln, feste Strukturen und Rituale im dramatherapeutischen Gruppensetting sowie die dramatische Inszenierung können helfen, die Reaktionsbereitschaft für Anweisungen und die Beziehungskompetenzen zu erhöhen.
Wie verlief die Therapie, und welche Resultate waren zu beobachten? Herr Schild besuchte die Gruppentherapie während eines Jahres. Die Sitzungen fanden wöchentlich über 2½ Stunden zusammen mit sieben weiteren Klienten statt. Um ihm die Orientierung im Raum zu erleichtern, lag stets ein kleiner, farbiger Teppich an seinem Platz. Ich arbeitete viel mit dem Körper, mit Raum, Bewegung und Bildern aus dem Naturreich. Anfangs war Herr Schild nur Zuschauer und Beobachter, und erst mit der Zeit wagte er mitzutun. Er spielte verschiedene Tierrollen, was ihm verschiedene Arten von Begegnungen im Spiel ermöglichte. Rollen aus dem Naturreich schaffen eine grössere Distanz als personifizierte Rollen, was ihm erlaubte, sich besser auf die Situation einzulassen. In der Partnerarbeit spielte er mit verschiedenen Personen, um seinem zwanghaften Verhalten entgegenzuwirken und seine Flexibilität zu fördern. Die Aufstellung einer Miniaturwelt gab ihm Einblick in den eigenen Innenraum oder den der anderen. Dadurch lernte er, seine Meinung zu einem Thema zu äussern. Er sagte, was er gut oder nicht fair fand. Durch die Gruppenarbeit gewann er Vertrauen und konnte immer mehr über sich erzählen, so zum Beispiel: «Mein Vater war auch im Spital. Ich habe ihn, denke ich, vermisst.» Oder als er einen Ausdruck für Traurigkeit suchte, sagte er: «Ich bin so faul in mir», und legte sich die Hand auf die Brust. Sein unerwünschtes Verhalten veränderte Herr Schild im Rollenspiel. Der Rollentausch erlaubte ihm, sich in andere hineinzuversetzen und zu sagen: «Das habe ich auch nicht gerne.» Er erlernte neue Verhaltensmuster, und die Reaktio-
nen der Zuschauer oder des Gegenübers zeigten ihm die Richtung einer guten Wahl. Die neuen Verhaltensmuster nahm er laufend in den Alltag mit. Herr Schild lebt heute im Wohnheim, arbeitet in einer Dreiergruppe und braucht keine Einzelbetreuung mehr. Der Zwang, Knöpfe an der Kleidung anderer Leute anzufassen, und körperliche Übergriffe sind zurzeit kein Thema mehr.
Fazit
Drama- und Sprachtherapie ist geeignet, die Kontaktfähig-
keit von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung zu för-
dern und ihnen durch projektive Techniken neue Ausdrucks-
möglichkeiten zu eröffnen.
Drama- und Sprachtherapie in Gruppen kann durch spieleri-
sche Evaluation der alten und Aneignung neuer Muster ver-
schiedene Verhaltensauffälligkeiten verbessern.
Drama- und Sprachtherapie fördert Selbst- und Sozialkom-
petenz bei Menschen mit einer Behinderung.
x
Korrespondenzadressen: Monika Kellersberger Gemeinschaftspraxis Therapeutikum Holligenstr. 87, 3008 Bern m.kellersberger@bluewin.ch
Johanna Künzi-Zaluski Praxisgemeinschaft WintiWell Marktgasse 28, 8400 Winterthur kuenzi@kunst-und-dramatherapie.ch www.kunst-und-dramatherapie.ch
zum Titelbild
«Unsere Lebensschnur hat Anfang und Ende. Kommen Knoten hinein, wird der Abstand dazwischen kürzer.
Lösung erweitert die Lebensspanne.»
Ein Klientenbild aus der Kunsttherapie. Mit freundlicher Genehmigung der Klientin Frau R.R. www.artecura.ch – Dachorganisation der Schweizer Berufsverbände für Therapien mit künstlerischen Medien.
– 20 –