Transkript
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Das Schweizerische Gastronomie-Museum muss sich neu erfinden
Gedächtnis der Kochkunst – quo vadis?
Ohne Vergangenheit keine Zukunft: Jede
Heini Hofmann*
als «einzigartig» bezeichnete Kulturgut 1944 im
Berufssparte, die etwas auf sich hält, ist stolz auf ihre Geschichte, ihre Leitfiguren und Erfolge. So auch die Gastronomie. Doch ihr «kulturelles Ge-
Zootierarzt und freier Wissenschaftspublizist
Hohlweg 11, 8645 Jona
Zweiten Weltkrieg bei einem Fliegerangriff in Brand geschossen und existiert nicht mehr. Gut drei Jahrzehnte später nahm in der Schweiz eine andere Gastrolegende einen neuen An-
dächtnis», das Schweizerische Gastro- Bilder: Schweizerisches Gastronomie-Museum lauf: Harry Schraemli (1904–1995), erfahrener
nomie-Museum – momentan noch Un-
Herzblut-Allrounder als Koch, Restaurateur und
termieter im Schloss Schadau in Thun – steht
Hotelier (schon sein Vater war 40 Jahre Generaldirektor des
erneut vor der Überlebensfrage.
Grandhotels in Peking gewesen), begründete – mit dem ide-
ellen Support von 315 Persönlichkeiten aus dem ganzen
Überhaupt gleicht die Geschichte des Gastronomie-Muse-
Land – am 11. November 1975 im Zunfthaus zur Schmiden in
ums einer Achterbahn: ursprünglich Start dank initiativem
Zürich das Schweizerische Kochkunst-Archiv. Damit hat er,
Promotor, es folgen Ausstellungs-Odyssee, Kompetenzge-
wie sich rückblickend erweist, den Grundstein für das heu-
rangel und Namensänderungen, schliesslich Eröffnung und
tige Gastronomie-Museum gelegt.
erste Erfolgsjahre, dann Schliessung und Wiedereröffnung,
und jetzt nun die Frage: Wie weiter? Ein Rück- und Ausblick.
Im Fokus lag Luzern
Zielsetzung war, Literatur zum Themenkreis Essen und Trin-
Langer Weg zum Ziel
ken, aber auch Menü- und Weinkarten, Biografien und Dis-
Die Idee für ein gesamtschweizerisches Gastrogedächtnis
sertationen, Filmdokumente und Fotos sowie Gerätschaften
reicht über 100 Jahre zurück. Bereits der Kochkünstler Joseph
aus Küche und Service zu sammeln und dadurch der Nach-
Favre (1849–1903), Autor des Standardwerks «Dictionnaire universel de cuisine», träumte diesen Traum; doch er blieb unerfüllt. In unserem nördlichen Nachbarland dagegen konnte der Verband der Köche Deutschlands bereits 1909 das erste Kochkunstmuseum eröffnen. Leider wurde dieses
Gastrolegende Harry Schraemli
(1904–1995), Promotor und Begründer des Gastromuseums
welt zu erhalten. In der Zwischenzeit umfasste das Archiv bereits einige tausend Bücher und viele wertvolle Gegenstände. In Absprache mit dem Direktor Alfred Waldis konnte das bereits vorhandene Sammelgut im Schweizerischen Verkehrshaus in Luzern eingelagert werden mit der Option, es
später dann auch dort öffentlich zugänglich zu machen.
Harry Schraemlis Sohn, der in Hergiswil lebende Harry
Schraemli jun., der vor seiner Pensionierung Hotelier in
St. Moritz Bad gewesen ist, erinnert sich: «Das wäre für mei-
nen Vater eine Ideallösung gewesen: bekannte Institution
mit grossem Besucheraufkommen und nur einen Katzen-
sprung von seinem Wohnsitz entfernt, womit er auch im fort-
geschrittenen Alter besser hätte Einfluss nehmen können.»
Doch das Verkehrshaus besann sich anders, und auch die
Bemühungen seines Künstlerfreundes Hans Erni blieben er-
folglos. Für Harry Schraemli sen. begann die Suche von
vorne.
Schloss Schadau in Thun beherbergt (noch) das Schweizerische Gastronomie-Museum.
Ziel erreicht – in Thun Beseelt von Schraemlis Wunschtraum, aus dem Archiv ein Museum zu formen, kam es am 10. September 1985 zur Gründung der Stiftung Schweizerisches Gastronomie-Museum mit einem Startkapital von 307 000 Franken. Zu den Stiftern zählten – neben dem Schweizerischen Kochkunst-Ar-
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Dem Museumspromotor Harry Schraemli ist ein eigenes Kabinett mit Emotionalien gewidmet.
chiv – der Schweizer Hotelier-Verein, die Union Helvetia, der Schweizerische Kochverband, der Schweizer Wirteverband, die Gilde etablierter Köche, ferner die Städte Bern und Thun, die Spar- und Leihkasse Steffisburg sowie einige namhafte Schweizer Firmen der Lebensmittelbranche wie Hügli und Néstle. Als am 23. Juni 1987 im Zürcher Zunfthaus zur Zimmerleuten die 11. Generalversammlung des Schweizerischen Kochkunst-Archivs über die Bühne ging, erhitzten sich plötzlich die Gemüter heftig hinsichtlich der Grundsatzfrage, ob das Archiv aufgelöst und in die Stiftung überführt werden solle. Schliesslich wurde der Antrag auf Überführung jedoch deutlich abgeschmettert. Dafür wurde dann ein Jahr später, am 21. Juni 1988 – nach dem Prinzip «Ehre, wem Ehre gebührt» – das von Harry Schraemli begründete Schweizerische Kochkunst-Archiv in Förderverein Schweizerisches Gastronomie-Museum umbenannt. Und noch im gleichen Jahr öffnete das erste Gastromuseum der Schweiz im Märchenschloss Schadau in Thun seine Pforten, inmitten eines prachtvollen Parks am Südufer von Aare und Thunersee und umgeben von anderen Sehenswürdigkeiten, kurz: ein multikultureller Hotspot.
Nach dem Hoch das Tief Anfänglich lief alles rund. Die ersten Museumsjahre, bereichert durch verschiedene thematische Ausstellungen, brachten Jahr für Jahr an die 20 000 Eintritte. Doch mit der Euphorie kamen auch die Probleme – ganz nach dem Motto «Viele Köche verderben den Brei». Vor allem war – unter der Fuchtel eines auswärtigen Tourismusspezialisten – der ehrenamtliche Gründerpioniergeist auf der Strecke geblieben: Zu teure Ausstellungen, unrealistische Salärzahlungen und verschwenderischer Umgang mit den Einnahmen resiltieren in der Folge.
Die Besucher dürfen – in schönen Räumen mit Seesicht – in den alten Büchern schmökern.
Die Bibliothek reicht von Raritäten über Kuriositä-
ten (kleinstes Kochbuch) bis zu
Aktuellem.
Dazu kamen – wen wunderts – Differenzen mit dem Förderverein, was zur Folge hatte, dass viele Sponsoren, darunter auch die Berufsverbände, das Vertrauen verloren und ihre Zahlungen einstellten. Der Hotelierverein machte gar den Vorschlag, und dies bereits im Oktober 1995, die Stiftung aufzulösen und die Bibliothek einer Hotelfachschule zu vermachen. Unter diesen tristen Umständen musste das Museum am 25. Januar 1996 geschlossen werden. Harry Schraemli sen. hat diese Schmach nicht mehr erlebt. Ironie der Geschichte: Als die beiden Grosssöhne des Museumsgründers die Hotelfachschule in Thun absolvierten, die ganz nahe beim Museum liegt, wurde nie auf dieses hingewiesen, geschweige denn ein Besuch organisiert …
Hoffnungsfroher Neubeginn Neue Kräfte sorgten jedoch dafür, dass das Museum bereits im September 1999 wiedereröffnet werden konnte. Allerdings fanden Stiftung und Förderverein nicht mehr zusammen, was am 6. Juni 2000 endgültig zum Bruch im Vorstand des Fördervereins und erneut zu einer Namensänderung führte. Für die Stiftung und das Museum folgten nun Jahre des langsamen, aber kontinuierlichen Aufbaus. Das Stiftungskapital war halbiert, und man war darauf bedacht, dieses zu halten. Der heutige Präsident der Stiftung Schweizerisches Gastronomie-Museum, Hansjörg Werdenberg aus Allschwil, beruf-
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Eine Augenweide: schön gedeckte Tische und edle Tischdekorationen aus früheren Zeiten
lich Leiter Gastronomie am Kantonsspital Baselland in Liestal, legte als Zielsetzung fest: «Das Museum soll in Zukunft das geschichtliche Zentrum für Ess- und Trinkkultur, für Tourismus, Gastronomie und Hotellerie in der Schweiz sein.» Zum Thema Finanzen – die es für den Betrieb, aber auch für das Sammeln und Konservieren der Kulturgüter braucht – meinte er hoffnungsfroh: «Es muss möglich sein, im Kulturund Tourismusland Schweiz die nötigen Mittel hiefür zu erhalten.» Kurz: Alles war, weil auch der alte Pioniergeist samt ehrenamtlicher Arbeit (!) wieder Einzug gehalten hatte, auf guten Wegen zu neuem Erfolg.
Erneut Ungewissheit Doch nun kam plötzlich eine neue Hiobsbotschaft: Das Schloss Schadau wird restauriert, das Museum muss 2017 ausziehen und eine neue Bleibe suchen; denn was nachher sein wird, weiss man nicht, wird zumindest nicht kommuniziert. Geöffnet ist das Museum noch bis Ende April 2017. Dann folgt der Umzug in ein nicht visitierbares Zwischenlager, bis allenfalls eine neue Bleibe gefunden wird. Das kann als Katastrophe oder als Chance angesehen werden. Fakt bleibt, dass die Stadt Thun dem Museum bisher grosse Unterstützung hat zukommen lassen. Ob aber das Tor zum Berner Oberland seine Heimat bleiben wird, steht (noch) in den Sternen.
Museumsherzstück: die Bibliothek mit über 12 500 Titeln aus 600 Jahren Gastrogeschichte
Es laufen interne Abklärungen mit den liierten Branchenorganisationen und Berufsverbänden – allerdings mit unterschiedlichem Echo und Engagement, wie es heisst. Natürlich sind auch von Drittseite Angebote denkbar. So ist bekannt, dass eine analoge Institution im Welschland Interesse an einem Zusammenspannen hätte; sie plant unter dem Label «Territet Belle Epoque» im «Ancien Grand Hôtel et Hôtel des Alpes» in Territet bei Montreux (Sisi lässt grüssen!) ein gross angelegtes «Musée Suisse de l’hotellerie et du tourisme» und hat noch freie Valenzen. Für den Besucher hätte dies den Vorteil, dass sich alles an einem Ort befände. Doch entscheiden wird man in Thun, in Absprache mit den Museumsstiftern.
Hansjörg Werdenberg, Allschwil,
Präsident Stiftung Schweizerisches
GastronomieMuseum
Vorerst letzte Möglichkeit!
Ein Besucheransturm im Gastromuseum in Thun in den letzten
Galgenfristmonaten könnte den Verantwortlichen Mut machen.
Deshalb nun noch ein Blick ins Museum im Schloss Schadau,
das allerdings nur über eine schmale Wendeltreppe im aare-
seitigen Turm, dem ehemaligen Dienstboteneingang, erklom-
men werden kann. Doch der Aufstieg lohnt sich!
Filetstück des Sammelgutes ist zweifellos – in prächtigen Räu-
men mit Seesicht untergebracht – die Bibliothek mit über
12 500 Titeln aus fast 600 Jahren Gastronomiegeschichte. Sie
zählt zu den weltweit grössten Sammlungen dieser Art und
reicht vom «Kleinsten Kochbuch der Welt» über Rosinen aus
den Anfängen des Buchdrucks wie «Neues Kochbuch für die
Krancken» (1545) bis zu aktuellen Standardwerken. Die Besu-
cher dürfen darin herumschmökern und sich Fotokopien einzel-
ner Seiten erstellen lassen. Eine Ausleihe jedoch ist nicht mög-
lich, und für Recherchen ist eine Voranmeldung erforderlich.
Beeindruckend ist auch die Sammlung von über 2000 Ar-
beitsgeräten und Garnituren aus Küche und Service mit Ku-
riositäten wie Kannibalenbesteck oder Entenpresse. Dem
Museumsgründer Harry Schraemli ist exklusiv ein ganzes Ka-
binett gewidmet. Wer jetzt vor dem Aus noch hingeht, hilft
mit, Druck für eine neue, zukunftsträchtige Lösung aufzu-
bauen.
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