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Zwangsstörungen
NICE-Richtlinien empfehlen ein Stufenprogramm
Nr. 6/2008
Zwangsstörungen gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen und können das Leben der Betroffenen erheblich einschränken. Viele verheimlichen ihre Krankheit, sodass die Diagnose oft mit Verzögerung gestellt wird. Dadurch leiden die Patienten länger als notwendig, denn Zwangsstörungen können mit psychotherapeutischen Methoden, manchmal in Kombination mit Medikamenten, in den meisten Fällen erfolgreich behandelt werden.
British Medical Journal
Zwangserkrankungen sind gekennzeichnet durch unbeeinflussbare Gedanken und durch Handlungen, die der Patient ausführen muss, obwohl er sie als übertrieben oder irrational erkennt. Zwangsstörungen verlaufen in Zyklen (Abbildung). Zunächst flössen die Zwangsvorstellungen dem Patienten Angst ein. Um die Angst zu lindern, muss er bestimmte Handlungen oder mentale Rituale ausführen. Nach einer gewissen Zeit treten die Gedanken jedoch erneut auf und erfordern eine Wiederholung der Rituale. So gerät der Patient in einen Teufelskreis, aus dem er sich ohne professionelle Hilfe nicht mehr befreien kann. Unbehandelt verlaufen Zwangsstörungen chronisch.
Zwangsvorstellung
Temporäre Erleichterung
Angst
Zwangsritual
Abbildung: Zyklischer Verlauf von Zwangsstörungen
Wer erkrankt an Zwangsstörungen?
Zwangsstörungen können in jedem Lebensalter auftreten. Am häufigsten manifestieren sie sich jedoch in der Jugend. Die World Health Organisation (WHO) stuft die Zwangsstörung als eine der 20 einschränkendsten Erkrankungen ein. In einer neueren epidemiologischen Studie wird eine Prävalenz von 0,8 Prozent bei Erwachsenen und 0,25 Prozent bei Kindern von 5 bis 15 Jahren angeführt. Ältere Studien geben höhere Prävalenzen von 1 bis 3 Prozent bei Erwachsenen und 1 bis 2 Prozent bei Kindern an.
Warum ist der Hausarzt so wichtig?
Zwangspatienten jeden Alters erkennen die Sinnlosigkeit ihrer ungewollten Gedanken und Wiederholungshandlungen. Viele schämen sich und versuchen, ihre Erkrankung vor dem Arzt zu verheimli-
Zwanghaftes Händewaschen gehört zu den häufigsten Arten von Zwangsstörungen.
chen. Auf der anderen Seite übersehen Ärzte häufig die Symptome. Daher erfolgen Diagnose und Therapie meist mit erheblicher Verzögerung, gemäss einer Studie im Schnitt 17 Jahre nach Auftreten der Störung. Vor allem im medizinischen Bereich ausserhalb der Psychiatrie sind deshalb verstärkte Aufmerksamkeit und eine höhere Quote in der Erkennung der Symptome erforderlich.
Welche Symptome treten auf?
Zwangsvorstellungen sind Angst erzeugende Gedanken, Bilder oder Impulse, gegen die sich Betroffene nicht wehren können. Obwohl die Gedanken als eigene erkannt werden, empfinden die Patienten sie als egodyston (ego = ich, dyston = fremd). Unter Zwangshandlungen versteht man wiederholte stereotype Verhaltensweisen oder mentale Rituale, die von unbedingt einzuhaltenden Regeln gesteuert werden. Zwangsvorstellungen und Zwangsrituale sind für den Patienten unangenehm und resultieren nicht in der Durchführung einer sinnvollen Aufgabe (Kasten 1). Viele Zwangspatienten befürchten Gefahren für sich und Angehörige oder haben Angst vor Kontaminationen. Dazugehörige Zwangshandlungen sind Prüfund Reinigungsrituale. Ebenfalls häufige Obsessionen erfordern Symmetrien oder bestimmte Anordnungen von Gegenständen. Diese Gedanken sind mit Zählen oder Ordnungsritualen verbunden. Auch die Angst, aggressive oder sexuelle Handlungen zu begehen sowie zwanghaftes Sammeln von Gegenständen kommen häufig vor. Aggressive Obsessionen müssen von psychopathischen Absichten, andere zu verletzen, unterschieden werden. Patienten mit einer reinen Zwangsstörung fürchten zwar, andere zu verletzen, führen die Tat jedoch niemals aus. Zwangsstörungen können auch in Komorbidität mit anderen Störungen wie Depressionen, Angsterkrankungen, Ess-
störungen, Alkoholabhängigkeit, dem Tourette-Syndrom oder Schizophrenie auftreten.
Wie wird die Diagnose gestellt?
Zwangsstörungen können mithilfe von ICD-10-Kriterien und speziellen Fragekatalogen diagnostiziert werden.
Kasten 1:
Die häufigsten Symptome bei Zwangsstörungen
Zwangsvorstellungen – Angst, anderen zu schaden – Angst, selbst Schaden zu erleiden – Angst vor Kontaminationen – Zwang zu Symmetrie oder Exaktheit – Sexuelle und religiöse Obsessionen – Angst vor falschem Verhalten – Angst vor Fehlern
Zwangsrituale Verhaltensweisen – Putzen – Händewaschen – Prüfen – Ordnen und arrangieren – Sammeln von Gegenständen – Sich ständig rückversichern
Mentale Rituale – Zählen – Mental Worte wiederholen
Ruminieren – «Neutralisierende» Gedanken denken
Kasten 2:
Schnelltest für Zwangsstörungen
– Waschen oder putzen Sie viel? – Überprüfen Sie bestimmte Dinge häufig? – Gibt es Gedanken, die Sie quälen, die Sie nicht
loswerden? – Brauchen Sie lange zur Bewältigung Ihrer tägli-
chen Pflichten? – Sind Sie besonders auf Ordnung oder Symmetrie
bedacht? – Quälen diese Probleme Sie?
ICD-10 (F 42): Diagnostische Kriterien für Zwangsstörungen: Die Zwangssymptome müssen mindestens über zwei Wochen an den meisten Tagen vorhanden sein. Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen haben folgende Merkmale: • Der Patient erkennt die Gedanken als
seine eigenen. • Die Zwangssymptome wiederholen sich
und sind unangenehm. Wenigstens eines wird als übertrieben oder irrational erkannt. • Gegen mindestens einen Zwangsgedanken oder eine Zwangshandlung muss der Patient erfolglos Widerstand leisten. • Die Ausführung des Zwangsgedankens oder der Zwangshandlung ist nicht angenehm. Zur Diagnose einer Zwangsstörung ist zudem erforderlich, dass die Symptome den Patienten im Alltag beeinträchtigen. Fragebögen: Zum Erkennen von Zwangsstörungen muss der Arzt oft direkte Fragen stellen, da viele Betroffene nicht freiwillig darüber berichten. Die kürzlich herausgegebene NICE-Leitlinie (NICE = National Institute for Clinical Excellence in Grossbritannien) zur Behandlung von Zwangsstörungen und Dysmorphophobie empfiehlt einen Schnelltest mit sechs Fragen, der eine erste Einschätzung ermöglicht (Kasten 2). Nach der Diagnose kann mit standardisierten Instrumenten ein Symptomprofil erstellt werden, das die Schwere der Erkrankung und den Grad der Beeinträchtigung dokumentiert.
Wie können Zwangsstörungen behandelt werden?
Die NICE-Richtlinien empfehlen zur Behandlung von Zwangserkrankungen ein Stufenprogramm, das dem Ausmass der Störung angepasst ist. Zunächst sollte der Arzt Patienten und ihre Familien über das Krankheitsbild und die guten Heilungschancen informieren. Leichte Stö-
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rungen können bereits mit angeleiteter Selbsthilfe behoben werden. Den meisten Patienten hilft eine kognitive Verhaltenstherapie, bei manchen Patienten sind zusätzlich Medikamente erforderlich. In den NICE-Leitlinien wird empfohlen, die Patienten in die Entscheidungen über geeignete Therapiemassnahmen einzubeziehen.
Wie arbeitet die kognitive Verhaltenstherapie?
Randomisierte Studien zu jüngeren Altersgruppen zeigten, dass die kognitive Verhaltenstherapie innerhalb der Familie hocheffektiv ist. Sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern hat sich die «Reizkonfrontation mit Reaktionsverhinderung» mit einer Erfolgsrate von 85 Prozent als beste psychologische Technik erwiesen. Bei diesem Verfahren erstellt der Patient in hierarchischer Reihenfolge eine Liste seiner Angst erzeugenden Situationen. Anschliessend übt er, diese auszuhalten (Reizkonfrontation), ohne sein Ritual auszuführen (Reaktionsverhinderung). Der Patient lernt, dass die Angst und auch die Zwangsvorstellungen mit der Zeit abnehmen. Ob eine Kombination der «Reizkonfrontation mit Reaktionsverhinderung» mit kognitiven Techniken, in denen die Irrationalität der Zwangsvorstellungen bearbeitet wird, die Effektivität noch steigert, ist nicht geklärt.
schen Wirkung einsetzen können, jedoch bald wieder abklingen. Studien haben gezeigt, dass Patienten mit einer Zwangsstörung von einer Langzeittherapie profitieren, viele jedoch einen Rückfall erleiden, sobald das Medikament abgesetzt wird.
Medikamente, Psychotherapie oder beides?
Medikamente und Psychotherapie sind bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen gleichermassen wirksam. Nach den NICE-Richtlinien wird für Kinder
und Jugendliche die Psychotherapie als Firstline-Therapie aufgrund geringerer Nebenwirkungen empfohlen. Bei Erwachsenen kann sowohl Psychotherapie als auch eine medikamentöse Therapie angewendet werden. In einer neueren Studie an jungen Menschen wurde Plazebo gegenüber einer Monotherapie mit Sertralin (Zoloft®, Gladem® und Generika), gegenüber einer kognitiven Verhaltenstherapie und gegenüber einer kognitiven Verhaltenstherapie in Kombination mit Sertralin geprüft. Alle drei Alternativen waren wirksamer als Plazebo. Unter-
einander resultierten für alle drei Strate-
gien gleichwertige Ergebnisse.
N
Petra Stölting
Quelle: Heyman I., Mataix-Cols D., Fineberg N.A.: Obsessive–compulsive disorder, Brit Med J 2006; 333: 424–429.
Interessenkonflikte: N. A. Fineberg war als Berater für Lundbeck, GlaxoSmithKline, Astra-Zeneca und Bristol-Myers Squibb tätig, ist Mitglied des Sprecherbüros für Astra-Zeneca und Wyeth und hat Forschungsgelder von Janssen, Wyeth und Cephalon erhalten.
Bei wem sind Medikamente wirksam?
Zwangsstörungen sprechen vor allem auf Medikamente an, die eine Wiederaufnahme von Serotonin aus dem synaptischen Spalt verhindern. Dazu gehören das trizyklische Antidepressivum Clomipramin (Anafranil®) und selektive Serotoninwiederaufnahme-Hemmer (SSRI). SSRI sind bei Patienten jeden Alters gleich wirksam. SSRI haben sich in Studien gegenüber Clomipramin bei ähnlicher Wirksamkeit aufgrund geringerer Toxizität bei Überdosierung und wegen des günstigeren Nebenwirkungsprofils als überlegen erwiesen. Clomipramin bleibt eine wichtige Option für Patienten, bei denen SSRI nicht wirken. Die therapeutische Wirkung der Medikamente setzt erst nach Wochen oder Monaten ein, daher müssen sie mindestens zwölf Wochen in der maximal tolerierten Dosis gegeben werden, bevor die Wirkung beurteilt werden kann. Der Arzt muss die Patientin oder den Patienten informieren, dass Nebenwirkungen wie Übelkeit oder Unruhe bereits vor der therapeuti-
Key points
• Zwangsstörungen können in jedem Alter auftreten, meist manifestieren sie sich jedoch in der Jugend.
• Die Diagnose wird oft spät gestellt, da Betroffene versuchen, die Störung zu verbergen.
• Zum Erkennen einer Zwangsstörung sind häufig gezielte Fragen erforderlich.
• Leichte Störungen können mit angeleiteter Selbsthilfe behoben werden.
• Den meisten Patienten hilft eine kognitive Verhaltenstherapie.
• Einige Zwangspatienten profitieren von Clomipramin oder selektiven Serotoninwiederaufnahme-Hemmern.