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Coronapandemie

Die fatale Frage nach der «Schuld»

Stigmatisierung als gefährlicher Trigger der Pandemie

Ein Blick in die Geschichte früherer Pandemien macht deutlich, dass Stigmatisierung und die Suche nach Schuldigen auch zuvor schon eine Begleiterscheinung der Ausbreitung von Infektionen waren – und noch niemals zu ihrer Lösung beigetragen haben. So ist es auch bei der aktuellen Pandemie: Menschen, die mit SARS-CoV-2 infiziert sind, trifft keine andere «Schuld», als im falschen Moment am falschen Ort gewesen zu sein.

Foto: scholty1970/pixabay

Die Menschheit steht vor einer neuen Herausforderung: Noch nie in ihrer Geschichte hat sich eine Infektion so schnell über den gesamten Globus verbreitet. So wurde die Pandemie zur Schattenseite unserer modernen Mobilität. Dass sie die Welt so völlig unerwartet traf, ist, wie der emeritierte Medizinhistoriker Frank M. Snowden von der Yale-Universität (New Haven/CT) in einem Podcast des Magazins JAMA bemängelte, auch darauf zurückzuführen, dass die Wissenschaftler, die vor einem solchen Szenario gewarnt haben, eben nicht ernst genommen wurden. Diese warnenden Stimmen habe es seit Jahren gegeben, und auch die erste SARS-Ausbreitung in den Jahren 2002/2003 mit knapp 800 Todesopfern sei eine «Vorwarnung» gewesen. Doch das Problembewusstsein zeigte Ähnlichkeiten mit der Klimaforschung: Die Wissenschaftler, die sich mit der Thematik befassten und vor der Gefahr warnten, wurden da wie dort nicht ernstgenommen.

Doch irgendwann ist die Leugnung einer Gefahr nicht mehr möglich, weil das, wovor Experten gewarnt haben, bereits eingetreten ist. Dann setzt ein anderer Mechanismus ein, der in der Geschichte der Seuchen immer wieder zu beobachten war: Es wird nach einem Schuldigen gesucht. Dies liess sich, wie Snowden weiter ausführte, auch schon in den Zeiten beobachten, als der «Schwarze Tod», also die Pest wütete.: Damals wurden die Juden für das Sterben verantwortlich gemacht, es hiess, sie hätten die Brunnen vergiftet. Wenn überhaupt Gerichtsverfahren stattfanden, wurden die Geständnisse durch Folter erzwungen, und die so «Geständigen» wurden vielerorts grausam umgebracht.

Aus früheren Pandemien nicht gelernt

Schuldzuweisungen liessen sich auch im Fall der Tuberkulose beobachten: Als bekannt wurde, dass es sich dabei um eine Infektionskrankheit handelte, wuchsen die sozialen Spannungen zwischen sozialen und ethnischen Gruppen. Da die Infektionszahlen bei Immigranten und bestimmten ethnischen Gruppen höher waren als in der Allgemeinbevölkerung, führte die Tuberkulose zu einer verstärkten Ausgrenzung. «Jetzt habe ich die Befürchtung, dass wir hinsichtlich des Coronavirus unsere Lektion nicht wirklich gelernt haben», so Snowden weiter. Die Stigmatisierung sei nicht nur eine Belastung für die Betroffenen selbst, sondern auch für die Gesellschaft. Aus Angst davor tendieren die Menschen dazu, eine mögliche Erkrankung geheim zu halten, suchen keinen Arzt auf und stecken so möglicherweise unerkannt weitere Menschen an. So wird das Stigma zu einem wichtigen, treibenden Faktor einer Epidemie. Besonders deutlich wurde dies auch bei der HIV-Pandemie, da hielt dass Stigma viele Menschen aus Risikogruppen von einer Testung ab.

Xenophobie als besorgniserregender Trend

Im Fall der SARS-CoV-2-Pandemie richten sich die Vorurteile insbesondere gegen Asiaten. Nicht nur in den USA, sondern auch in vielen anderen Ländern lässt sich beobachten, dass populistisch und nationalistisch eingestellte Menschen die Erkrankung auf Immigration zurückführen – ohne jegliche Evidenz. Es wird gefordert, die Indexpatienten der lokalen Ausbrüche zu identifizieren – doch geht es den Populisten dabei nicht um Aufklärung von Infektionsketten, sondern vielmehr um Schuldzuweisung, Bestrafung, Stigmatisierung und Ausgrenzung. Damit breite sich eine neue Art von Nationalismus und Xenophobie aus, warnte Snowden: «Das ist ein sehr besorgniserregender Trend.» Es entwickle sich eine Missinformations-Epidemie, durch welche die tatsächliche infektiöse Pandemie begleitet und letztlich gefördert werde.

Wichtig wäre daher nach Meinung von Snowden, die Erkenntnis durchzusetzen, dass Menschen, die diese Infektion übertragen, keine andere «Schuld» haben, als im falschen Moment am falschen Ort gewesen zu sein. Eine Änderung der Einstellung zu den Infizierten wäre daher ein wichtiger Schritt in Richtung zu mehr Menschlichkeit in der Seuchenbekämpfung.

Adela Žatecky

Quelle: JAMA Live Q&A: «Putting COVID-19 Pandemic in Historical Context» am 2. April 2020