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KONGRESSBERICHT
SPIN 2022
Alopecia areata
Endlich eine spezifische Therapie durch die JAK-Inhibition
Viele Jahre lang gab es trotz hohem medizinischem Bedarf keine wirklich wirksamen Behandlungsmöglichkeiten für Patienten mit Alopecia areata. Diese Situation könnte sich bald ändern, nachdem Ende Mai 2022 die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) eine positive Stellungnahme zu dem JAK-Inhibitor Baricitinib für die Behandlung von Erwachsenen mit schwerer Alopecia areata abgegeben hat.
Alopecia areata (AA) ist eine chronisch rezidivierende, entzündliche Erkrankung, die durch nicht vernarbenden Haarausfall auf der Kopfhaut und/oder am Körper gekennzeichnet ist. «Wenn wir künftig etwas für diese Patienten tun können, wird das ihr Leben verändern», sagte Prof. Maryanne Senna aus Boston (Massachusetts/USA) auf dem Psoriasiskongress SPIN 2022 in Paris. Haarausfall hat erhebliche Auswirkungen auf das Selbstbild, die Attraktivität, die Ausstrahlungskraft, die Jugendlichkeit und das Selbstwertgefühl. «Die Tatsache, dass Haarausfall ein wichtiges medizinisches Problem ist, wird bis heute nur unzureichend anerkannt», bemängelte Senna. Besonders Frauen leiden sehr unter Haarausfall.
Mit einer weltweiten Prävalenz von 2 Prozent betrifft die AA beide Geschlechter und beginnt in der Regel vor dem 30. Lebensjahr. Bei 10 bis 20 Prozent der Patienten mit AA entwickelt sich AA totalis. «In den USA gab es bis Juni 2022 keine zugelassene Behandlung für AA. Davor hatten wir keine wirklichen Optionen für diese Patienten», sagte Senna.
JAK-Inhibitoren bei AA: Eine Erfolgsgeschichte
Die Erfolgsgeschichte der JAK-Inhibitoren begann im Jahr 2014, als zufällig bei einem Patienten mit Plaquepsoriasis bemerkt wurde, dass der orale JAK-Inhibitor Tofacitinib nicht nur die Psoriasis besserte, sondern auch die A. universalis rückgängig
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Tabelle:
Behandlungsalgorithmus bei Alopecia areata (AA) in Abhängigkeit vom Schweregrad
Begrenzte, leichte AA
Mittelschwere AA
• ILKS
• TKS ± topisches Minoxidil 5%
• TKS ± topisches Minoxidil 5%
• orales Minoxidil
• topische Immuntherapie
• JAK-Inhibitoren
• orales Minoxidil
• andere systemische Immunsuppressiva
Schwere AA First-Line-Therapie • JAK-Inhibitoren
± orales Minoxidil ± ILKS Second-Line-Therapie • andere systemische Immunsuppressiva ± orales Minoxidil ± ILKS
ILKS = intraläsionale Kortikosteroide, TKS = topische Kortikosteroide. Quelle: Vortrag Brett King
machte (1). «Das setzte das Rad in Bewegung», erklärte Senna. Aber warum sind JAK-Inhibitoren bei AA so erfolgreich? Gemäss einem (stark vereinfachten) Überblick über die Pathogenese der AA dringen zytotoxische T-Zellen in die proximale anagene Haarzwiebel ein und lösen als Reaktion auf ein noch unbekanntes Antigen einen Autoimmunangriff aus. Sowohl CD8- als auch NKG2D-positive T-Zellen sind die wichtigsten Effektoren in der AA-Pathogenese. Die ebenfalls an der AA-Pathogenese beteiligten Zytokine, darunter IFN-γ und IL-15, aktivieren die Signalübertragung über den JAK-STAT-Signalweg. Deshalb vermindert die Modulation der Signalübertragung an der Stelle der JAK die Entzündungsreaktion. Der positive Bescheid der EMA erfolgte als Konsequenz auf die guten Ergebnisse des oralen selektiven JAK-1/2-Inhibitors Baricitinib in 2 Phase-III-Studien, der BRAVE-AA1 (NCT03570749) und der BRAVE-AA2 (NCT03899259) (2). Alle Patienten mussten einen Schweregrad der Alopezie (SALT) ≥ 50 aufweisen, 44 Prozent der Patienten hatten zu Studienbeginn eine A. totalis. Alle 1200 Teilnehmer wurden randomisiert und erhielten 1-mal täglich Plazebo, 2 mg oder 4 mg Baricitinib. In Woche 36, dem Zeitpunkt der ersten Auswertung, erreichten insgesamt 34 Prozent (Baricitinib 4 mg) beziehungsweise 22,6 Prozent (Baricitinib 2 mg) einen SALT-Wert ≤ 20. «Eine ebenfalls durchgeführte Subgruppenanalyse zeigte, dass die Studienteilnehmer mit sehr schwerer AA höhere Wirksamkeitsraten aufwiesen. Das gibt uns die Zuversicht, dass wir auch bei unseren am schwersten betroffenen Patienten ein Ansprechen erreichen können», kommentierte Senna die Studienergebnisse. Die häufigsten unerwünschten Ereignisse waren Akne, eine erhöhte Kreatinkinase sowie Erhöhungen von LDL- und HDL-Cholesterin. Bemerkenswert war, dass es nur ein einziges kardiovaskuläres Ereignis gab: einen Herzinfarkt bei einem 44-Jährigen mit mehreren Risikofaktoren.
Therapiealgorithmus in Abhängigkeit vom Schweregrad
Wie Prof. Brett King aus New Haven (Connecticut/ USA) in seinem Vortrag über JAK-Inhibitoren bei AA betonte, führe Baricitinib ausserdem zu einem Nachwachsen von Augenbrauen und Wimpern. «Bei schwerer AA sollten JAK-Inhibitoren unsere bevorzugte Behandlungsoption sein, und wir haben viel mehr Studiendaten als bei allen anderen Wirkstoffen», sagte er. Dennoch müssen für Patienten mit weniger ausgeprägtem Befall Lösungen gefunden werden: So sind intraläsionale Steroidinjektionen nach wie vor die wichtigste Behandlungsmöglichkeit für Erwachsene mit umschriebener Erkrankung, z. B. mit ≤ 20 Prozent Haarausfall. Bei schwerer AA oder A. totalis ist eine systemische Therapie unumgänglich (Tabelle). Leider hat sich die Therapie mit topischen JAK-Präparaten als unwirksam für die Behandlung von AA erwiesen (3, 4).
Dupilumab für AA-Patienten mit hohem Ausgangs-IgE-Wert
Die Geschichte der neuen Therapeutika bei AA endet nicht bei den JAK-Inhibitoren. Künftig könnte es auch für AA-Patienten mit atopischer Komorbidität eine Behandlungsmöglichkeit geben. Eine im vergangenen Jahr veröffentlichte Phase-II-Studie zeigte die Wirksamkeit des IL-4/IL-13-Blockers Dupilumab (5). In diese Studie wurden 60 erwachsene Patienten mit einem SALT-Wert ≥ 50 aufgenommen und randomisiert mit Dupilumab oder Plazebo behandelt. 38 Prozent von ihnen hatten eine atopische Dermatitis (AD) in der Vorgeschichte, 11 Prozent hatten eine aktive AD. 45 Prozent hatten eine AD in der Familienanamnese, und 30 Prozent hatten hohe GesamtIgE-Werte ≥ 200 IU/ml. Interessanterweise war die Wirkstärke von Dupilumab von den AusgangsIgE-Werten der Patienten abhängig: Bei 22,5 Prozent der Patienten mit IgE < 200 IU/ml verringerte sich der
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Haarausfall auf der Kopfhaut um 50 Prozent gegenüber 46,2 Prozent der Patienten mit einem Ausgangs-IgE-Wert ≥ 200 IU/ml. «Der Ausgangs-IgEWert könnte bei der Auswahl der DupilumabBehandlung für AA-Patienten hilfreich sein», kommentierte Senna.
Pathogenese der AA: Vieles liegt im Dunklen
Wie Prof. Rodney Sinclair aus Melbourne (Australien) betonte, handle es sich bei der AA um eine multifaktorielle Erkrankung mit bekanntem genetischem Hintergrund und unbekannten Umweltauslösern. Sowohl die angeborene als auch die erworbene Immunität sind an der Pathogenese der AA beteiligt. In einer genomweiten Assoziationsstudie konnten 139 Einzelnukleotid-Polymorphismen identifiziert werden, die signifikant mit AA assoziiert sind (6). Unbekannte Umweltauslöser werden in lokale und systemische Faktoren unterteilt. Lokale Faktoren sind ein Verlust des Immunprivilegs des Haarfollikels, was dazu führt, dass Entzündungszellen ausschwärmen und die Haarwurzel angreifen. Sowohl intrafollikuläre CD8-Zellen als auch zahlreiche Zytokine und Chemokine sind an diesem Prozess beteiligt. Systemische Faktoren, die AA auslösen können, sind ein erhöhter Serum-IFN-γ-Wert und Serum-Autoantikörper.
Die meisten Fälle bilden sich innerhalb von 12 Monaten zurück
Bei ungefähr der Hälfte der Patienten wachsen die Haare innerhalb von 6 Monaten spontan nach, 70 Prozent der Patienten mit AA erholen sich innerhalb von 12 Monaten. «Wir stellen jedoch leider fest, dass die 30 Prozent der Patienten, bei denen die AA über einen Zeitraum von 12 Monaten bestehen bleibt, wieder zu uns kommen», so die Erfahrung von Sinclair. Bei 40 Prozent aller Betroffenen manifestiert sich der kreisrunde Haarausfall immer nur an einem Fleck, und sie erreichen innerhalb von 6 Monaten eine spontane vollständige und dauerhafte Remis-
sion. 27 Prozent entwickeln weitere Flecken, errei-
chen aber dennoch eine vollständige, dauerhafte
Remission innerhalb von 12 Monaten. Nur die übri-
gen Patienten entwickeln eine chronische AA. Laut
einer Konsenserklärung australischer Experten ha-
ben Patienten mit einem einzelnen stabilen AA-Fleck
< 12 Monate nur ein Risiko von 13 Prozent, eine chro-
nische AA zu entwickeln. Aber 30,6 Prozent der Pati-
enten mit chronischer AA entwickeln ohne Behand-
lung eine A. totalis (7).
Wie Sinclair betonte, stelle sich die Frage, ob eine
Therapie das Risiko für ein Fortschreiten der chroni-
schen AA verändern könne. Das scheine bei systemi-
schen Kortikosteroiden manchmal der Fall zu sein.
«Systemische Steroide sind die am häufigsten ver-
wendete Behandlung, aber 50 Prozent der Patienten
erleiden einen Rückfall, wenn die Dosis reduziert
oder abgesetzt wird», schloss Sinclair.
s
Susanne Kammerer
Quelle: Vorträge «Alopecia areata: treatments enfin», «JAK-Inhibitors for treatment of Alopecia areata» und «Alopecia areata. Real World Data». Congress of the Skin Inflammation & Psoriasis International Network (SPIN 2022), 6. bis 8. Juli in Paris (F).
Referenzen: 1. Craiglow BG, King BA: Killing two birds with one stone: oral tofacitinib reverses
alopecia universalis in a patient with plaque psoriasis. J Invest Dermatol. 2014;134(12):2988-2990. 2. King B et al.: Two Phase 3 Trials of Baricitinib for Alopecia Areata. N Engl J Med. 2022;386(18):1687-1699. 3. Olsen E et al.: Ruxolitinib cream for the treatment of patients with alopecia areata: A 2-part, double-blind, randomized, vehicle-controlled phase 2 study. J Am Acad Dermatol. 2020;82(2):412-419. 4. Mikhaylov D et al.: A phase 2a randomized vehicle-controlled multi-center study of the safety and efficacy of delgocitinib in subjects with moderate-to-severe alopecia areata. Arch Dermatol Res. 2022;10.1007/s00403-022-02336-0 [online ahead of print]. 5. Guttman-Yassky E et al.: Phase 2a randomized clinical trial of dupilumab (anti-IL-4Rα) for alopecia areata patients. Allergy. 2022;77(3):897-906. 6. Petukhova L et al.: Genome-wide association study in alopecia areata implicates both innate and adaptive immunity. Nature. 2010;466(7302):113-117. 7. Cranwell WC et al.: Treatment of alopecia areata: An Australian expert consensus statement. Australas J Dermatol. 2019;60(2):163-170.
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