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KONGRESSBERICHT
SWISS DERMA DAY 2021
Physikalische Methoden gegen Pruritus
Kratzen, Kälte, Hitze und UV-Licht können quälenden Juckreiz lindern
Jeder Fünfte ist während seines Lebens einmal von einer Episode mit chronischem Juckreiz betroffen. Abgesehen von der Behandlung der Grunderkrankung gibt es eine Vielzahl von topischen und systemischen Therapiemassnahmen. Wie PD Dr. Simon Müller vom Unispital berichtete, gibt es zudem antipruritische physikalische Massnahmen, die in den europäischen S2k-Leitlinien aber kaum thematisiert werden. Er schilderte auf dem Swiss Derma Day, warum Kratzen, Hitze, Kälte oder UV-Bestrahlung Juckreiz lindern können.
Warum kratzen wir uns automatisch, wenn es juckt? Und warum hilft das wenigstens vorübergehend gegen den Juckreiz? Durch verschiedene Pruritogene würden prurizeptive C-Fasern in der Epidermis aktiviert, erklärte Müller. Der Reiz wird ins spinale Hinterhorn geleitet, dort umgeschaltet und im Tractus spinothalamicus zum Thalamus geleitet und von dort ins juckreizverarbeitende zerebrale Netzwerk. Die Juckreiz-Afferenz kann durch verschiedene physikalische Stimuli beeinflusst werden: Wird die juckende Haut angenehm gekratzt, dann werden sog. hedonoceptive C-Fasern stimuliert, die spinale Interneurone aktivieren, welche wiederum die pruriceptiven C-Fasern hemmen. Diese hedonoceptiven Fasern aktivieren zudem das zentrale Belohnungszentrum, sodass ein angenehmes Gefühl entsteht, das den Juckreiz überlagert. Die hemmenden Interneurone werden aber auch durch nozizeptive C-Fasern aktiviert, die durch schmerzhaftes Kratzen angeregt werden. Dies erklärt, warum schmerzhaftes Kratzen Juckreiz momentan lindern kann.
Juck-Kratz-Zyklus
Was allerdings zunächst guttut – unter anderem weil das Belohnungszentrum im Gehirn angesprochen wird –, verstärkt das Problem letztlich: Durch das Kratzen wird die Epidermis geschädigt, es kommt zu Entzündungen, z. B. durch bakterielle Superinfektion, was wiederum das Jucken verstärkt und zu erneutem Kratzen führt. Diesen Teufelskreis gilt es zu unterbrechen. Zur Behandlung der Entzündung gibt es medikamentöse Optionen, aber es muss auch die Hautschädigung verhindert werden – sprich: Es darf nicht gekratzt werden. Das lässt sich mechanisch verhindern: Nägel kurz schneiden, Handschuhe verwenden. Am besten wirken Fäustlinge, allerdings werden diese laut Müller oft nur von Säuglingen toleriert. Auch okklusive Massnahmen mit Pflastern oder Verbänden können das Aufkratzen reduzieren. Hierzu können z. B. Zinkleimverbände verwendet werden oder Binden, die mit einer juckreizreduzierenden Zink-Eisenoxid-Mischung beschichtet sind (CoFlex® TLC-Calamine lite).
Ausserdem kann man das Hirn überlisten, indem man lediglich die Kratzbewegung imitiert z. B. auf Kratzklötzchen. Diese lederbezogenen Klötzchen, die selbst gebastelt werden können, werden statt der Haut gekratzt. Erstaunlicherweise vermindert das ebenfalls den Juckreiz. Gute Erfahrungen hat Müller auch mit einer Verhaltensübung gemacht: Bei Juckreiz werden die Patienten aufgefordert, 30 Sekunden lang die Fäuste zu ballen und danach einen Fingernagel fest auch die juckende Stelle zu pressen, ohne zu kratzen. In einer Vergleichsstudie mit Kindern mit atopischer Dermatitis (AD) zeigte sich, dass die Gruppe, welche diese Übung durchgeführt hatte, im Vergleich zur Kontrollgruppe, die keine Verhaltensübung gemacht hatte, eine signifikant reduzierte Krankheitsaktivität aufwies. D.h. verhindertes Kratzen wirkt anti-inflammatorisch und wirkt sich messbar positiv auf den Krankheitsverlauf aus (1).
Mit Kälte gegen das Jucken
Wenn Patienten mit chronischem Pruritus gefragt werden, was sie gegen die Juckreizattacken unternehmen, dann wird als dritthäufigste Massnahme – nach Kratzen und Eincremen – Kühlen genannt (2). Die kühlenden Selbsttherapien reichen von der kalten Dusche über kalte Umschläge, Cool Packs, die Kühlfunktion des Föhns, Ventilatoren bis hin zur Entkleidung und Abkühlung im Freien, wie Müller berichtete. Die antipruritische Wirkweise der Kälte ist ähnlich der des Kratzens: Der Reiz auf kältesensitive C-Fasern regt die im Hinterhorn befindlichen Interneurone an, welche auf die juckreizleitenden Nervenfasern dämpfend einwirken; zudem wird der Juckreiz durch einen Kältereiz überlagert. Kältesensitive TRPM8-(transient receptor potential cation channel subfamily melastatin member 8) positive C-Fasern der Haut werden nicht nur durch die Kälte selbst aktiviert, sondern auch durch den TRPM8-Agonisten Menthol. Allerdings hält der Kühleffekt nur wenige Minuten an, eine Konzentration über 5 Prozent ist aufgrund der Löslichkeit nicht möglich, und oft beklagen die Patienten bei dieser Konzentration auch eine Hautreizung. Neue TRPM8-
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Agonisten mit einer stärkeren/längeren Aktivierung von TRPM8 sind deswegen in der Entwicklung. Die Alltagsbeobachtung, dass es auch gesunde Personen juckt, wenn sie z. B. jemanden sehen, der sich heftig kratzt, nennt sich «visuelle Juckreizübertragung» oder «contagious itch». Dieses Phänomen lässt sich in Verbindung mit der Kältephysiologie therapeutisch nutzen, wie dies Müller und sein Team in einer experimentellen Studie zeigen konnten. Bei visueller Exposition während 10 Minuten gegenüber der Farbe Blau (das vermutlich einen Kühleffekt evoziert) konnte eine signifikante Juckreizreduktion, bei der analogen Exposition gegenüber Rot (das Alarm, Entzündung und Wärme suggeriert) eine signifikante Juckreizzunahme nachgewiesen werden (3).
Wärme – Fluch und Segen bei Juckreiz
Die meisten Juckreizpatienten berichten über eine Juckreizzunahme im warmen Bett. Eine Erklärung hierfür ist, dass der Wärmerezeptor TRPV1 (transient receptor potential cation channel subfamily V member 1) auf wärmesensitiven C-Fasern normalerweise erst bei einer Temperatur von 42 °C angeregt wird. Diese Schwelle liege allerdings bei entzündeter Haut niedriger, eben bei Temperaturen, wie sie auch im warmen Bett herrschten, so Müller. Dazu kommt noch, dass im Bett keine Ablenkung besteht und die Patienten sich auf den Juckreiz konzentrieren können. Des Weiteren ist bei vielen Betroffenen eine Alloknesis vorhanden: Normalerweise harmlose taktile Stimuli wie der Schlafanzug oder die Bettdecke auf der Haut lösen Juckreiz aus. Auch diese wärmesensitiven Fasern lassen sich austricksen: Capsaicin wirkt als TRPV1-Agonist und induziert zunächst ein Brennen, durch die permanente Aktivierung werden diese Fasern aber letztlich desensibilisiert. Die Folge: Das Jucken verringert sich. Der Bite-away-Stift, entwickelt für die Behandlung von juckenden Insektenstichen, erzeugt elektrisch für 3 bis 6 Sekunden eine Hitze von 51 °C. Diese aktiviert über den TRPV1 eine schmerzhafte Hitzesensation, die im Hinterhorn wiederum die Interneurone aktiviert, die ihrerseits hemmend auf die juckreizleitenden Fasern wirken. Resultat: Es schmerzt kurz, aber vergleichbar mit dem schmerzhaften Kratzen wird Juckreiz vermindert (4). Ebenfalls auf den TRPV1-Rezeptor wirken Cannabinoide – und zwar als Antagonisten (5). Da verwundert es nicht, dass einige Betroffene bei der Frage, was sie gegen Juckreiz unternehmen, angaben, einen Joint zu rauchen.
Fototherapie hat antipruritische Effekte
Die UV-Bestrahlung war noch vor wenigen Dekaden eine der wenigen Optionen, mit denen chronisch entzündliche Hauterkrankungen wie die AD oder die Psoriasis behandelt werden konnten. Durch die mo-
dernen Biologika haben sich für diese Indikationen aber andere effektive Möglichkeiten ergeben, welche die UV-Therapie in den Hintergrund gedrängt haben. Nichtsdestotrotz hat die Fototherapie gewissermassen weiterhin einen «modernen» Therapieansatz. Die UV-Strahlung hat sowohl direkte als auch indirekte Effekte auf den Juckreiz, erläuterte Müller. Direkt senkt UV-Licht die intraepidermale Faserdichte sowie die Sekretion von Neuropeptiden (z. B. Substanz P) und anderen Pruritogenen. Des Weiteren wirken UV-Strahlen auf das Verhältnis der verschiedenen Opioidrezeptoren: So werden die µ-Rezeptoren herunter- und die κ-Rezeptoren heraufreguliert, was ebenfalls zur Juckreizsenkung beiträgt. Zu den indirekten Effekten der Fototherapie gehören u. a. die Hemmung der Mastzellenausschüttung und die verstärkte Bildung des immunsuppressiv wirkenden Interleukins (IL) 10. Ebenso hat das Licht einen antiinflammatorischen Effekt auf viele Entzündungszellen wie T-Helfer-Zellen, regulatorische T-Zellen oder dendritische Zellen. Zudem wird auch der Nerve-Growth-Faktor herunterreguliert, was in einer geringeren Nervenfaserdichte resultiert. Auch viele proinflammatorischen Zytokine werden durch UVLicht gehemmt. Interessanterweise beeinflusst das Licht (in unterschiedl. Intensität) sämtliche Signalwege der modernen «targeted» Therapien. Dabei wird der jeweilige Signalweg sicherlich nicht so effizient gehemmt wie diese gezielten Medikamente dies tun, doch hat die Fototherapie den Vorteil einer synchronen und somit breiten Hemmung zahlreicher Juckreizmediatoren. Da bei den meisten Dermatosen mehrere Juckreizmediatoren involviert sind, könnte es sogar sein, dass die limitierte Wirkung der modernen Therapien auf nur einen oder einige wenige Signalwege für die Juckreizbehandlung gar nicht so ideal ist. Hierzu braucht es aber noch weitere Studien. In einer noch unveröffentlichten Studie der Basler Klinik wurde bei 102 Patienten mit chronischem Juckreiz unterschiedlicher Genese (AD, nicht atopisches Ekzem, Psoriasis, Lichen ruber planus, Juckreiz auf nicht erkrankter Haut) der Effekt verschiedener Fototherapien (UV-B, PUVA, UV-A) über 4 Wochen untersucht. Verglichen mit dem Ausgangswert, verminderte sich der die Juckreiz-Intensität bei den AD-Patienten unter UVB-Schmalband um 46 Prozent. Dies zeigt, dass die Fototherapie auch in der Ära der zielgerichteten Therjapien eine sehr effiziente Juckreiztherapie darstellt, die zugleich kostengünstig und nebenwirkungsarm ist und gerade auch in der Schwangerschaft/Stillzeit eingesetzt werden kann. s
Angelika Ramm-Fischer
Quelle: Swiss Derma Day 2021, online am 28. Januar 2021.
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Referenzen: 1. Norén P et al.: The positive effects of habit reversal treatment of scratching in chil-
dren with atopic dermatitis: a randomized controlled study. Br J Dermatol. 2018;178(3):665-673. 2. Chee A et al.: When life is an itch: What harms, helps, and heals from the patientsʼ perspective? Differences and similarities among skin diseases. Dermatol Ther. 2020;33(4):e13606. 3. Mueller SM et al.: Pruritic and antipruritic colors: An exploratory pilot study. Dermatol Ther. 2020;33(3):e13447. 4. Müller C et al.: The use of concentrated heat after insect bites/stings as an alternative to reduce swelling,pain,and pruritus: an open cohort-study at German beaches and bathing-lakes. Clin Cosmet Investig Dermatol. 2011;4:191-196. 5. Avila C et al.: Cannabinoids for the treatment of chronic pruritus: A review. J Am Acad Dermatol. 2020;82(5):1205-1212.
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