Transkript
KONGRESSBERICHT
Differenzialdiagnose eines urtikariellen Exanthems
Echte Urtikaria oder neutrophile urtikarielle Dermatose?
Wenn sich eine Urtikaria nicht innerhalb von 24 Stunden verändert oder nicht juckt, könnte es sich bei dem Ausschlag um eine neutrophile urtikarielle Dermatose (NUD) handeln – Symptom einer seltenen autoinflammatorischen bzw. autoimmunologischen Systemerkrankung. NUD tritt beispielsweise beim Schnitzler-Syndrom oder beim Still-Syndrom der Erwachsenen auf.
Nesselsucht ist ein häufiges Symptom in der dermatologischen Praxis. Meistens lasse sich die Ursache anamnestisch schnell klären, beispielsweise als Arzneimittelreaktion – am häufigsten seien Antibiotika der Auslöser, wie PD Dr. Jan Ehrchen von der Universitätsklinik Münster bei der virtuellen Jahrestagung der Rheinisch-Westfälischen Dermatologischen Gesellschaft (DWFA 2020) berichtete.
Urtikarielles Exanthem bei fast jedem fünften COVID-19-Patienten
Ebenso können Antihypertonika noch nach langjährigem Gebrauch eine Urtikaria hervorrufen. Besonders Kalziumantagonisten, danach folgten Thiazide, seien hier häufig der Auslöser, so Ehrchen. Die Quaddeln treten gelegentlich als Begleitreaktionen bei Infektionen auf – auch bei etwa 19 Prozent der COVID-19-Erkrankten lasse sich ein solches Virusexanthem feststellen.
Urtikaria versus NUD
Doch ein urtikarieller Ausschlag sei nicht gleichbedeutend mit einer Urtikaria, erinnerte Ehrchen. Vor allem wenn die Effloreszenzen länger als einen Tag unverändert bestehen, sollte genauer hingeschaut werden. Bei den Quaddeln könnte es sich auch um eine neutrophile urtikarielle Dermatose (NUD) handeln. Diese NUD sei keine Diagnose, sondern ein klinisches und histologisches Reaktionsmuster, das mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine autoinflammatorische Systemerkrankung hinweise, betonte Ehrchen. Hellhörig sollten die Dermatologen werden, wenn s die vermeintliche Urtikaria nicht oder nur wenig
juckt s die Läsionen länger als 24 Stunden persistieren s das Exanthem auf Antihistaminika nicht reagiert s postinflammatorische Hyperpigmentierungen auf-
treten.
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KONGRESSBERICHT
Kasten 1:
Schnitzler-Syndrom
Mit weltweit nur ca. 150 Fällen ist das Schnitzler-Syndrom sehr selten, wenn auch die Dunkelziffer hier weitaus höher sein dürfte. Die autoinflammatorische chronische Erkrankung tritt vorzugsweise im mittleren Lebensalter auf. Diagnostische Kriterien des Schnitzler-Syndroms sind ein urtikarieller Hautausschlag, eine monoklonale Gammopathie (IgM oder IgG) in der Immunfixation des Serums und mindestens zwei der folgenden Zeichen: Fieber, Gelenkschmerzen, tastbare Lymphknoten, Vergrösserung von Leber oder Milz, erhöhte Blutsenkung, Leukozytose und abnorme Knochenveränderungen wie eine Osteosklerose am distalen Femur bzw. proximalen Ende der Tibia.
Kasten 2:
Morbus Still
Der Morbus Still im Erwachsenenalter wird als AoSD (adult-onset Still’s disease) bezeichnet. AoSD erfüllt die Definition einer seltenen Krankheit, da ihre Prävalenz in Europa auf einen Betroffenen pro Million und in Japan auf bis zu zehn Betroffene pro Million geschätzt wird. Für den Verdacht auf AoSD sollten fünf der unten aufgeführten Kriterien (mindestens zwei davon Hauptkriterien) festzustellen sein:
Hauptkriterien (Major-Kriterien) Fieber über 39 °C, intermittierend, über eine Woche bestehend Arthralgien/Arthritis über einen Zeitraum von mindestens zwei Wochen Erythematöser Ausschlag Erhöhte Leukozytenzahl > 10 000/µl
Nebenkriterien (Minor-Kriterien) Halsschmerzen
Lymphadenopathie und/oder Splenomegalie Transaminasenerhöhung ANA- bzw. RF-Negativität
NUD bei autoinflammatorischen Systemerkrankungen
Dem urtikariellen Ausschlag auf den Grund zu gehen, ist wichtig, weil die NUD auf eine schwerwiegende autoinflammatorische Systemerkrankung hinweisen kann. Ehrchen nannte als Beispiel das Schnitzler-Syndrom (Kasten 1). Die Patienten leiden häufig an Knochen- und Muskelschmerzen, Fieberschüben und Abgeschlagenheit. In der Labordiagnostik zeigen sich eine monoklonale Gammopathie und erhöhte Entzündungsparameter. Eine ähnliche Symptomkonstellation weisen auch Patienten mit dem bei Erwachsenen sehr seltenen Still-Syndrom (Kasten 2) auf. Hier kommen jedoch meist noch starke Gelenkschmerzen – langfristig drohen schwere Gelenkschäden –, Halsschmerzen und hohes Fieber über mehr als eine Woche hinzu; in der Labordiagnostik werden meist erhöhte Ferritinwerte und Transaminasen nachgewiesen.
Therapieoption: IL-1-Blockade
Therapeutisch kommen sowohl für das Still- als auch
das Schnitzler-Syndrom initial Glukokortikoide, NSAR
und Basistherapeutika wie Methotrexat infrage. Für
diese autoinflammatorischen Erkrankungen ist eine
überschiessende Produktion von Interleukin (IL) 1β
typisch. Deshalb sprechen nach Ehrchens Erfahrung
die Patienten oft prompt auf eine IL-1-Blockdade an
– beispielsweise mit den bereits zugelassenen IL-1β-
Hemmern Anakinra oder Canakinumab.
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Dann ist nach Ansicht von Ehrchen eine weiterführende Diagnostik nötig. Durch eine Biopsie kann hier die NUD belegt werden. In der Histologie sind dann auch Neutrophile in der Epidermis zu finden.
Angelika Ramm-Fischer
Quelle: Session «Diagnostische Fallstricke und ihre therapeutischen Konsequenzen» bei der virtuellen Jahrestagung der Rheinisch-Westfälischen Dermatologischen Gesellschaft (DWFA 2020) am 27. November 2020.
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