Transkript
BERICHTE ZUM SCHWERPUNKT
Zusammenhang zwischen Stress und grauen Haaren
Grau über Nacht – doch kein Mythos?
Kann massiver Stress über Nacht die Haare ergrauen lassen? So schnell wohl nicht, doch gibt es durchaus Zusammenhänge zwischen Stress und dem Einstellen der Melaninproduktion in den Haarfollikeln.
Immer wieder werden Geschichten kolportiert, wonach Menschen unter grossem Stress über Nacht graue bzw. weisse Haare bekommen haben. Das ist bei Grimmelshausen in seinem «Simplicissimus» nachzulesen. Vom Philosophen Thomas More wird berichtet, dass er in der Nacht vor seiner Exekution alle Farbe in seinen Haaren verloren haben soll. Ebenso soll es Karl Marx beim Tod seines Sohnes Edgar ergangen sein. Und auch von weniger bekannten Menschen wird dieses Phänomen erzählt, beispielsweise von Soldaten bei ihren ersten Fronteinsätzen. Bekanntestes Beispiel ist jedoch die französische Königin Marie-Antoinette, nach der das Syndrom des «Ergrauens über Nacht» benannt ist. Auch sie soll in der Nacht vor ihrer Hinrichtung schlohweisse Haare bekommen haben.
Dem Marie-Antoinette-Syndrom auf der Spur
Bis vor wenigen Jahren wurden diese Geschichten in das Reich der Mythologie verwiesen. Vielleicht hatte Marie-Antoinette nur ihre Haare stark gepudert, wie es damals beim Adel üblich war? Dennoch sind Forscher seit einigen Jahren dem Phänomen des Ergrauens auf der Spur, denn vielleicht kann man es ja umkehren oder verhindern. Mittlerweile ist bekannt, dass starker Stress durchaus ein schnelles Weisswerden der Haare auslösen kann. Eine US-Studie unter der Leitung von Prof. Melissa Harris (Baltimore, Alabama/USA) untersuchte den Zusammenhang zwischen Stress und der Funktion von MelanozytenStammzellen (1).
Immunsystem tötet bei Stress MelanozytenStammzellen
Krankheiten wie beispielsweise Infektionen, aber auch chronischer, psychischer Stress kurbeln das Immunsystem an. Dieses geht jedoch nicht nur gegen die Erreger vor, sondern auch gegen MelanozytenStammzellen. Das hyperaktive Immunsystem tötet diese Zellen regelrecht ab. Die Folge: keine Stammzellen ➞ keine Melanozyten ➞ kein Melanin ➞ pigmentlose Haare.
Unvollendetes Pastellbild des Künstlers Alexander Kucharsky von Marie-Antoinette aus dem Jahr 1792. Ein Jahr später wurde sie zum Tode verurteilt und mit der Guillotine hingerichtet. Es wird berichtet, dass sie kurz vor ihrem Tod noch plötzlich graue Haare bekommen haben soll.
MITF reguliert Pigmentproduktion und Abwehr
Bei ihren Versuchen am Mausmodell entdeckten Harris und ihr Team, dass das Kontrollprotein namens MITF (melanogenesis associated transcription factor) die Pigmentproduktion antreibt. MITF reguliert jedoch nicht nur die Melaninproduktion, sondern hat auch Einfluss auf das Immunsystem. Das erklärt auch, wie sich Stress auf die Pigmentzellen überträgt. Verliert das Protein mit der Zweifachfunktion die Kontrolle über das Immunsystem, wird es hyperaktiv und tötet Melanozyten ab.
Noradrenalin lässt Melanozyten abwandern
Ein anderes Wissenschaftlerteam um Frau Dr. YaChieh Hsu (Boston, Massachusetts/USA) ist einem anderen Mechanismus auf der Fährte: dem Einfluss
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des Stresshormons Noradrenalin auf die Melanozytenstammzellen (2). Im Tierversuch an Mäusen konnten die US-Forscher nachweisen, dass Stress zu einem Verlust an Melanozyten-Stammzellen in den Haarfollikeln führt: Durch die Sympathikusaktivierung unter Stress kommt es zu einer verstärkten Ausschüttung des Neurotransmitters Noradrenalin. Noradrenalin bindet an die β2adrenergen Rezeptoren der Melanozyten-Stammzellen. Dadurch wird die Umwandlung dieser Stammzellen in Melanozyten induziert. Diese Melanozyten wandern dann aus den Haarfollikeln unter die Haut. Die Folge ist, dass mit der Zeit ein Mangel an melaninproduzierenden Zellen in den Haarfollikeln besteht. Und ohne Melanin bleiben die Haare farblos, d. h. weiss. Belegen konnten die Forscher diese Zusammenhänge von Stress und Ergrauen unter anderem dadurch, dass Mäuse mit Melanoztyen-Stammzellen ohne β2-adrenerge Rezeptoren nicht grau wurden. Ebenfalls dunkel blieben die Mäusehaare, wenn die Forscher die Sympathikus-Innervation der Haarfollikel und die Noradrenalinausschüttung unterbanden. Bei einer gezielten Überaktivierung des Sympathikus hingegen wurden die Mäuse auch ganz ohne Stress grau.
Doch nicht über Nacht?
Die neuen Erkenntnisse sagen allerdings nichts dar-
über aus, wie schnell diese Vorgänge des Ergrauens
ablaufen. Und selbst wenn alle Melanozyten in den
Haaren plötzlich ihre Pigmentproduktion einstellen,
so verschwindet das bereits eingelagerte Melanin
nicht aus den schon bestehenden Haaren. Es könnte
nur weiss nachwachsen.
Dass es mit dem Ergrauen trotzdem schon recht
schnell gehen kann, erklärt Melissa Harris so: Bei star-
kem psychischem oder körperlichem Stress kommt
es oft zu Haarausfall. Zwar spriessen danach meist
wieder neue Haare. Aber oft nur noch graue, weil
Stress und Krankheit den Pigmentzellen unterdessen
den Garaus gemacht haben. Und weil sehr viele farb-
lose Haare gleichzeitig nachwachsen, erweckt daws
zuweilen den Eindruck, als sei jemand quasi über
Nacht ergraut.
s
Angelika Ramm-Fischer
Referenzen: 1. Harris ML et al.: A direct link between MITF, innate immunity, and hair graying. PLoS
Biol 2018; 16(5): e2003648. 2. Zhang B et al.: Hyperactivation of sympathetic nerves drives depletion of melano-
cyte stem cells. Nature 2020; 577: 676–681. ww
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