Transkript
FORTBILDUNG
Sinnvolle Tattoos
Möglicher medizinischer und psychologischer Nutzen
Tattoos gelten aus medizinischer Sicht als gesundheitliches Risiko. Es gibt allerdings positive Aspekte wie beispielsweise das Auftätowieren einer realistisch wirkenden Brustwarze bei Brustkrebspatientinnen, Warnungen bei Krankheiten wie Diabetes, Allergien, Epilepsie oder bei Herzschrittmachern, aber auch die Bereitschaft zur Organspende. Im psychologischen Bereich gibt es etliche Studien, die zeigen, dass Tattoos die subjektiv wahrgenommene Attraktivität und damit das Selbstbewusstsein erhöhen. Körpermodifikationen werden nach traumatisierenden Erfahrungen genutzt, um Trauer zu verarbeiten, und können Depressionen, Suizidabsichten und Borderline-Symptomatik reduzieren.
ERICH KASTEN
Tattoos sind ungesund, schlecht und schädlich …
Totgesagte leben bekanntlich länger, das gilt auch für den Trend zu Tätowierungen. Was man in den 1990er-Jahren noch für eine rasch vorüberziehende Mode hielt, hat sich inzwischen längst als bleibende Form des Ausdrucks persönlicher Individualität gesellschaftlich etabliert. Der Anteil von Menschen mit Tätowierungen betrug nach den 2014 bei 2000 Personen gefundenen Daten (1) bei den Frauen rund 10 Prozent, bei den Männern rund 8 Prozent. Der Anteil der tätowierten Bevölkerung über alle Altersstufen liegt damit bei 9 Prozent und hat sich somit seit einer 2006 initiierten Studie nicht nennenswert verändert (2). Allein in Deutschland gibt es derzeit also rund 8 Millionen Menschen mit Tätowierungen, wobei die Zahl stetig ansteigt. Dies, obwohl von ärztlicher Seite immer wieder vehement darauf hingewiesen wird, dass das Einbringen von Farbpigmenten direkt in den menschlichen Körper alles andere als gesund ist. Zu den häufigsten Folgen gehören Blutungen, Gewebeschäden, Infektionen und allergische Reaktionen. Selbst Jahre später kann es zu granulomatösen Fremdkörperreaktionen kommen, was unter Umständen dazu führt, dass man die pigmenttragende Hautschicht mühsam abtragen muss. Lediglich die Anzahl wissenschaftlicher Studien, die Hautkrebs mit Tätowierungen in Verbindung bringen, ist unerwartet gering geblieben. Tattoofarben werden in die Lederhaut eingebracht, nur dort überdauern sie. Die Oberhaut nutzt sich ab und regeneriert sich, im Fettgewebe unter der Lederhaut verschwimmt das Tattoo. Die Kunst des Tätowierers besteht darin, die Farbe genau in diese Lederhaut einzubringen, die aber je nach Geschlecht, Alter und Körperteil unterschiedlich dick sein kann. Nur grosse Farbpigmente bleiben in der Lederhaut. Durch ständige Bewegung wird auch hiervon ein Teil
Abbildung 1: Postmastektomie-Tätowierung nach operativer Tumorentfernung und Brustaufbau.
(Foto: David Allen, Chicago, mit freundl. Genehmigung).
nach innen gedrückt und vom Lymphsystem abtransportiert. Das heisst: Jedes Tattoo verwäscht im Lauf von Jahrzehnten und muss dann nachgestochen werden. Farbpartikel zerfallen in Spaltprodukte infolge von Sonnen- oder Solarienbestrahlung und beim Weglasern. Diese Partikel sacken nach innen ab, werden dort abtransportiert und sammeln sich zum Beispiel in Lymphknoten. Niemand weiss, ob sie dort eventuell das Immunsystem stören. Zu glauben, ein Tattoo bliebe lebenslang immer gleich schön, ist also trügerisch. Hinzu kommt, dass eine Verordnung für Tätowierfarben erst seit 2009 existiert. Es gibt kaum Erkenntnisse, welche Stoffe davor verwendet worden sind und in welche Spaltprodukte sie möglicherweise zerfallen. Ein weiterer kritischer Punkt, den man unter der Prämisse «a tattoo is forever» berücksichtigen sollte, ist,
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dass der Mensch sich in seiner Persönlichkeit weiterentwickelt und die jugendlichen Heldentaten im Alter nicht selten aus einem völlig anderen Blickwinkel betrachtet werden (3). In den Daten von Trampisch und Brandau (1) zeigten je nach Sozialschicht zwischen 7 und 17 Prozent der Tätowierten Reue, sie waren mit dem eingestanzten Bildchen auf ihrer Haut ganz und gar nicht mehr glücklich. Krankenkassen zahlen das Vertuschen dieser Jugendsünden definitiv nicht, und das professionelle Entfernen in einer dermatologischen Klinik kostet – je nach Grösse und Anzahl der Farben – durchaus mehrere tausend Franken. Man findet also eine absolut ausreichend grosse Anzahl von Gründen, besser die Finger von Körpermodifikationen zu lassen. Aber gibt es wirklich nur negative Argumente?
… sind Tattoos wirklich nur ungesund, schlecht und schädlich?
Ein Anwendungsfeld von Tattoos in der Medizin ist die Behandlung von Brustkrebspatientinnen, denen nach Amputation die Brustwarze fehlt. Der in Marksteft bei Kitzingen lebende Tätowierer Andy Engel hat sich darauf spezialisiert, lebensecht aussehende Brustwarzen mit Schattierungen und leichten Veränderungen der Hautpigmentierung anzufertigen (4). David Allen, ein in den USA lebender Tätowierer, geht bei der «postmastectomy micropigmentation» einen anderen Weg. Er setzt extrem fein gezeichnete Tattoos auf die operierte Brust, oft botanische Motive, sodass das Auge des Betrachters von den Defiziten abgelenkt wird (5) (Abbildung 1). Dies hilft den Patientinnen, sich wieder mit ihrem eigenen Körper zu versöhnen. Bei einer schwer verletzten, sterbenden Person den Organspendeausweis zu suchen, ist oft eine unsinnige Zeitverschwendung. Im Internet finden sich Bilder, auf denen Personen sich ihre Zusage zur Organspende auf die Haut haben tätowieren lassen; zum Teil mit einer Willenserklärung, im Zweifelsfall nicht wiederbelebt werden zu wollen. So heisst es auf einem eingestochenen Hautbild: «LIVING WILL: Do not put this person on artificial life support of any kind for any reasons whatsoever. Do harvest reusable parts when he is dead, and then cremate all that remains.» Es folgen vier Namen und Unterschriften, bei denen die juristischen Experten sich derzeit über die Rechtsgültigkeit streiten (6). Ein weiterer medizinisch durchaus sinnvoller Bereich ist das Eintätowieren von Warnungen hinsichtlich Krankheiten. So findet man im Internet zunehmend Fotos von Patienten, die den Hinweis auf Diabetes, Allergie, Epilepsie oder Herzschrittmacher deutlich sichtbar auf der Haut tragen, sodass das medizinische Personal im Notfall sofort weiss, was zu tun ist. Ein im Internet abrufbares Bild zeigt sogar ein grossflächiges Tattoo auf der Brust, in dem erklärt wird, wie
Abbildung 2: Cover-up einer eher plump gemachten Tätowierung, mit der die Trägerin sich nicht mehr identifizieren konnte.
(Foto: Melanie Weiss, mit freundl. Genehmigung)
man eine Herz-Lungen-Wiederbelebung durchzuführen hat (cardiopulmonary resuscitation, CPR). Ein anderes Anwendungsfeld ist das Verdecken von hässlichen Narben durch Tattoos. Auch beginnende Glatzenbildung lässt sich durch eintätowierte Haare gut vertuschen. Vitiligo, die «Weissfleckenkrankheit», kann man durch Hautpigmentierung verbergen. Nach Penoidaufbau durch anderes Gewebe lässt sich zum Beispiel der Penis dunkler tätowieren und farblich an die umgebende Haut anpassen. Neben den medizinischen Anwendungen sind es aber vor allem psychologische Gründe, die für eine Körpermodifikation sprechen können.
Abbildung 3: Ein Tattoo, das der Patientin Hoffnung und Kraft vermittelt hat. Nach immer wiederkehrenden depressiven Episoden hat sie gelernt, für sich und ihr Leben einzustehen. Der Blick auf das Tattoo sagt ihr täglich: «So wie ich bin, bin ich. Nicht perfekt, aber liebenswert.» (Foto: E. Kasten; mit freundl. Genehmigung der Trägerin Frau S. N.)
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Abbildung 4: Semikolon-Tattoos.
(Foto: © Sara-Eve Rivera)
Tattoo statt Therapie
Ob es lediglich ein Plazeboeffekt ist, wenn ein ängstlicher Mensch sich das chinesische Zeichen für Mut auf den Oberarm tätowieren lässt und dann künftig weniger furchtsam ist, harrt derzeit der Erforschung. Es gibt aber bereits etliche wissenschaftliche Studien, die nachweisen, dass Tattoos durchaus positive Effekte auf die Psyche haben. So zeigen Mitglieder der Körpermodifikationsgemeinschaft untereinander erhöhten Zusammenhalt. Im Jahr 2016 befragte Alyssa Al-Rayess 120 tätowierte Personen (7): Bei dem grösseren Anteil der untersuchten Teilnehmer hatte sich das Tattoo positiv auf die subjektiv wahrgenommene Attraktivität ausgewirkt. Die Mehrheit
(31,7%) äusserte, durch die Körpermodifikation mehr Kontakt zu Gleichaltrigen bekommen zu haben. Körperschmuck kann ausserdem subjektiv empfundene Defizite im Aussehen verdecken und dadurch das Selbstbewusstsein steigern. Wie bereits angesprochen, empfinden zwischen 7 und 17 Prozent der Träger von Körperbildern später Reue und sind unzufrieden. Oft sind es selbst gestochene Tattoos oder spontane Entscheidungen aus einer Laune heraus, etwa das in den Ferien nebenbei einmal erworbene Tattoo. Cover-ups sind ein Bereich, mit dem professionelle Tätowierer das wieder gutmachen, was schlechte Tätowierer zuvor angerichtet haben. Hier gibt es hervorragende Künstler,
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die verunglückte Körperbilder so umarbeiten, dass der Kunde wieder vor den Spiegel treten kann, ohne sich ärgern zu müssen (Abbildung 2). Schlimmer ist oft das Schicksal von Menschen, die in ihrer Kindheit oder Jugend verunglückt sind oder körperlich misshandelt wurden und dadurch Narben davongetragen haben, die sie täglich wieder an das furchtbare Geschehen erinnern. Yevgeniya Zakhar (8) aus Ufa in Zentralrussland hilft solchen Menschen. Die 33-Jährige tätowiert den Bereich der Narben. Wenn ihre Kunden dann den eigenen Körper betrachten, sehen sie das Tattoo, aber nicht mehr die Narbe. Ein Stimulus, der Jahre oder Jahrzehnte dafür gesorgt hat, dass traumatische Erlebnisse nicht vergessen werden können, ist damit nicht nur verschwunden, sondern das Betrachten des eigenen Leibes wird wieder positiv erlebt. Tattoos helfen nicht nur bei posttraumatischer Belastungsstörung, sondern auch bei anderen seelischen Entgleisungen. Menschen, die unter einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leiden, neigen an Tagen voller zerfressender innerer Unzufriedenheit oft zu selbstverletzende Verhalten. Durch Blut und Schmerz kommt es zu einer Beruhigung, es handelt sich quasi um eine fehlgeleitete Selbsttherapie, um «Schlimmeres» zu verhindern. Viele Betroffene berichten, dass sie durch Körpermodifikation das «Cutting» erheblich verringern oder sogar ganz damit aufhören konnten. Während die durch Rasierklingenschnitte entstandenen Narben schamhaft versteckt werden müssen, verursacht das Anlegen von Körperschmuck zwar ebensolche Schmerzen, kann aber der Umwelt stolz gezeigt werden, und es entfallen negative Aspekte durch Reaktionen des sozialen Umfeldes. Aber durch Tätowierungen lässt sich noch mehr erreichen. Manche Borderline-Patientinnen lassen sich gerade auf den Arm, den sie sich jahrelang mit Schnitten verunziert haben, ein Sujet oder auch Sätze wie «Love yourself» (Abbildung 3) tätowieren. Der Körperschmuck verhindert, sich weiter selbst zu verletzen – schon allein, um das Tattoo nicht mit Schnitten zu zerstören. Ein anderes Beispiel für die positive Wirkung von Tätowierungen ist das sogenannte Semikolonprojekt. Ein Punkt beendet einen Satz, statt eines Punktes kann man aber oft auch ein Semikolon setzen; dann kann der Satz noch weitergehen. Das Semikolonprojekt umfasst Menschen, die ihrem Leben ein Ende bereiten wollten, sich aber dazu entschlossen haben, den Satz ihres Lebens doch noch weiter fortzuführen. Unter dem eintätowierten Semikolon stehen dann oft Sätze wie «My story isn’t over yet» oder «cont;nue» (Abbildung 4). Das Semikolon ist nicht nur geheimes Erkennungszeichen für alle, die den Drang nach Suizid überlebt haben, sondern es gemahnt ausserdem daran, auch in der nächsten Lebenskrise zu versuchen, noch etwas weiterzumachen.
Foto: Erich Kasten
Zum Autor: Prof. Dr. phil. Erich Kasten ist approbierter Verhaltenstherapeut und Klinischer Neuropsychologe.Er arbeitete an den Universitätskliniken in Magdeburg, Berlin, Lübeck und Göttingen. Derzeit hat er eine W3-Professur in Hamburg inne. Im Rahmen seiner Forschungsschwerpunkte widmet er sich seit 2005 der Erforschung der psychischen Motivation von Body Modifications. Erich Kasten ist u.a. Leiter der Fachgruppe Neuropsychologie des Berufsverbandes Deutscher Psychologen und Neuropsychologie-Delegierter in der European Federation of Psychologist Associations.
Fazit
Der Leitsatz «Alles, was im Leben Spass bringt, ist
ungesund oder verboten!» gilt nicht nur für Motor-
radfahren, Süssigkeiten, Alkohol, Drogen oder Sex,
sondern auch für Körpermodifikationen. Medizini-
sche Warnungen vor gesundheitlichen Risiken halten
die Betroffenen selten davon ab, diese Verhaltens-
weisen auszuführen. Letztlich ist der Mensch ein
Suchttier, und unser diesbezüglich gefrässiges Ge-
hirn kreischt immer danach, etwas Schönes zu erle-
ben. Wenn sich jemand wirklich ein Tattoo wünscht,
kann man sie oder ihn selten mit dem Hinweis auf
medizinische Risiken davon abhalten. Insbesondere
weil die meisten Tattoostudios heute auf einem fach-
lich guten Level mit hohem Hygienestandard arbei-
ten, sind gesundheitliche Nebenwirkungen im Übri-
gen deutlich seltener geworden, sodass man auch
offen für die hier genannten positiven Aspekte sein
sollte.
L
Kontaktadresse:
Prof. Dr. Erich Kasten MSH University of Applied Sciences Medical University, Am Kaiserkai 1, D-20457 Hamburg Internet: www.erich-kasten.de, E-Mail: eriKasten@aol.com
Referenzen: 1. Trampisch HJ, Brandau K: Tattoos und Piercings in Deutschland – eine Quer-
schnittsstudie. Chur D, (Hrsg.), Ruhr Universität Bochum, Bochum 2014. 2. Brähler E, Stirn A: Verbreitung von Tätowierungen, Piercing – Ergebnisse einer
Repräsentativerhebung in Deutschland. Huber Verlag, Leipzig 2009. 3. Kasten E: A tattoo is forever – über die Vergänglichkeit des Ewigen. Haut 2016;
27(2): 64–68. 4. Engel A: Nach Mastektomie: Ästhetische Rekonstruktion des Mamillenhofs mit-
tels Tätowierung. Haut 2016; 27(2): 71–73. 5. Allen D: Moving the needle on recovery from breast cancer – the healing role of
postmastectomy tattoos. JAMA 2017; 317(7): 672–674 6. changingthefaceofdying.com/expressing-your-wishes-the-paperwork-dilemma/
  7. Al-Rayess A: Tattoos: Vorteile auf die Persönlichkeitsentwicklung? Unveröffent-
lichte Bachelor-Abschlussarbeit. Medical School Hamburg 2016. 8. Zakhar Y: metro.co.uk/2017/02/10/tattoo-artist-helps-victims-of-domestic-violence-
turn-their-scars-into-art-6439486/. 2017. 9. Stirn A, Hinz A: Tattoos, body piercings, and self-injury: ls there a connection?
Investigations on a core group of participants practicing body modification. Psychotherapy Research 2008: 18(3): 326–333. 10. Wessel A,Kasten E: Body-piercing and self-mulitation: a multifaceted relationship. American Journal of Applied Psychology 2014; 3(4): 104–109. 11. Kasten E: Body-Modification. Psychologische und medizinische Aspekte von Piercing, Tattoo, Selbstverletzung und anderen Körperveränderungen. ReinhardtVerlag, München 2006.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift «Haut» vom Februar 2018. Der Nachdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.
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