Transkript
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α-Gal-Syndrom
Zeckenbisse als Auslöser einer folgenreichen Sensibilisierung
Unter der Bezeichnung α-Gal-Syndrom werden Erkrankungen zusammengefasst, die auf einer Sensibilisierung gegenüber der Galaktose-α-1,3-Galaktose basieren und durch allergische Reaktionen auf bestimmte Medikamente beziehungsweise rotes Fleisch und Innereien charakterisiert sind. Zeckenbisse sind dabei für die primäre Sensibilisierung verantwortlich.
Das Kürzel α-Gal steht für Galaktose-α-1,3-Galaktose, ein Oligosaccharid, dessen Synthese bei den meisten Säugetieren – mit Ausnahme des Menschen, der Menschenaffen und der Altweltaffen – durch das Enzym α-1,3-Galaktosyltransferase katalysiert wird (1). Vor etwa 20 bis 28 Millionen Jahren kam es jedoch bei den Menschenaffen und Altweltaffen zu einer Inaktivierung des Gens, das dieses Enzym kodiert (2). «Das ist der Grund, weshalb wir Menschen das klassische α-Gal-Epitop nicht bilden können», erklärte Dr. Jörg Fischer aus Tübingen (D). Daher sei α-Gal für den Menschen immunogen: «Bei uns allen findet sich eine grosse Menge an Antiα-Gal-Antikörpern, insbesondere die Isotypen IgG, IgM und IgA.» Mit etwa 1 Prozent der gesamten Immunglobuline stellen sie die häufigsten menschlichen Antikörper dar und werden für die Probleme verantwortlich gemacht, die bei Xenotransplantationen, das heisst bei der Transplantation von Schweineorganen auf den Menschen, auftreten können (1, 3). Anhand von Beobachtungen und gezielten Forschungen konnte in den vergangenen Jahren gezeigt werden, dass α-Gal, spezifisch IgE, für verschiedene Krankheitsbilder – eine allergische Reaktion gegenüber bestimmten Medikamenten oder verschiedenen Fleischsorten und Innereien – verantwortlich ist. Um diesen unterschiedlichen Erkrankungen gerecht zu werden, wurde vorgeschlagen, sie unter der Bezeichnung α-Gal-Syndrom zusammenzufassen (4, 5).
Anaphylaxie bei erstem Kontakt mit Cetuximab
Erste Hinweise auf die Bedeutung von α-Gal fanden sich im Zusammenhang mit der Einführung des rekombinanten, chimären (Maus-Mensch), monoklonalen IgG-1-Antikörpers Cetuximab zur Behandlung von Kolorektal- und Kopf-HalsKarzinomen. In verschiedenen Staaten im Südosten der USA traten ab diesem Zeitpunkt vermehrt anaphylaktische Reaktionen beim Einsatz dieses Antikörpers auf – und dies selbst bei bisher unbehandelten Patienten (6). In den Blutproben der allergisch reagierenden Tumorpatienten fanden sich in den meisten Fällen bereits vor der Behandlung mit Cetuximab spezifische, gegen α-Gal gerichtete IgE-Antikörper. Wie es sich herausstellte, ist α-Gal am Mäuse-Fab-Ende von Cetuximab zu finden. Die α-Gal-spezifischen IgE konnten auch in Blutproben gesunder Kontrollpersonen aus der gleichen
Region gefunden werden, was eine Sensibilisierung durch eine andere Quelle wahrscheinlich machte. Der Auslöser der Sensibilisierung konnte jedoch zum damaligen Zeitpunkt noch nicht identifiziert werden. Fischer wies an dieser Stelle darauf hin, dass α-Gal-spezifische IgE mittlerweile auch als Auslöser von Überempfindlichkeitsreaktionen bei der ersten Applikation von Gegengiften (produziert in Pferden oder Schafen) oder kolloidalen Volumenersatzmitteln (die darin enthaltene Gelatine trägt ein α-Gal-Epitop) identifiziert werden konnten (7, 8).
Verzögerte Reaktionen auf rotes Fleisch
Commins et al. entdeckten eine weitere Subgruppe von Patienten mit α-Gal-Syndrom. Sie führten 2009 Untersuchungen bei Patienten durch, die unter einer ungewöhnlichen Form einer Nahrungsmittelallergie litten (9). Betroffene entwickelten jeweils nach dem Konsum von Rind-, Schweineoder Lammfleisch allergische Symptome, so zum Beispiel ein Angioödem oder Urtikaria. Die Symptome traten dabei aber nicht unmittelbar, sondern erst drei bis sechs Stunden nach den Mahlzeiten auf. Geflügelfleisch oder Fisch konnten problemlos genossen werden. In den Blutproben der Patienten liessen sich ebenfalls α-Gal-spezifische IgE nachweisen. «Die verzögert auftretenden Reaktionen waren dafür verantwortlich, dass lange Zeit kein Zusammenhang zwischen dem Fleischkonsum und den Reaktionen gesehen wurde, die in manchen Fällen mit Hypotonie, Schock und Bewusstlosigkeit lebensbedrohliche Ausmasse erreichten», so der Redner. Diese verzögert auftretende IgE-vermittelte Anaphylaxie ist denn auch von der unmittelbar nach dem Konsum von Fleisch auftretenden Anaphylaxie, zum Beispiel beim KatzenSchweinefleisch-Syndrom, zu unterscheiden. Es wird vermutet, dass die verzögerte Reaktion darauf zurückzuführen ist, dass es nach dem Fleischkonsum einige Zeit dauert, bis α-Gal aus Glykoproteinen und/oder Glykolipiden freigesetzt wird (10). Dieser Prozess lässt sich aber sowohl quantitativ als auch in seiner Kinetik durch einzelne Faktoren oder eine Kombination aus endogenen und exogenen Faktoren (z.B. Alkohol, körperliche Aktivität, nicht steroidale Antirheumatika, Infektionen, Menstruation) modulieren (11). Fischer erläuterte dazu: «Wir konnten zeigen, dass der Konsum von
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Rindfleisch bei einem unserer Patienten innerhalb von gut 7 Stunden zu Urtikaria führte. Ass er jedoch Schweinefleisch, passierte zuerst nichts, erst in Kombination mit körperlicher Aktivität kam es innerhalb von 5 Stunden zu einer Reaktion.» Damit gehöre diese Allergie zur Gruppe der FDEIA (Food-dependent exercise-induced anaphylaxis). «Wir konnten zudem beobachten, dass der Konsum von Schweinenieren oder anderen Innereien oft zu schwereren und rascher auftretenden Symptomen führte.» Selbst eine geringe Menge Schweineniere (5 bis 50 g) habe innerhalb von weniger als einer Stunde eine anaphylaktische Reaktion ausgelöst. Wie der Redner weiter ausführte, beruht die Diagnose eines α-Gal-Syndroms zum grossen Teil auf der Anamnese und der Klinik sowie dem Nachweis spezifischer Antikörper. «Allerdings zeigen nicht alle gegenüber α-Gal sensibilisierten Personen auch wirklich Symptome nach dem Konsum von rotem Fleisch. Zudem sagt der IgE-Titer nichts über die klinische Reaktivität aus.» Und während Skin-Prick-Tests mit Fleischextrakten oft zu falschnegativen Resultaten führen, haben sich Prick-to-Prick-Tests mit Schweine- oder Rinderniere als sehr sensitiv erwiesen (12).
Zecken für Sensibilisierung verantwortlich
Neben dem Umstand, dass verschiedene Tumorpatienten bereits beim ersten Kontakt mit Cetuximab eine Anaphylaxie entwickelten, sprach auch die Beobachtung, dass bestimmte Fleischsorten, die jahrelang problemlos konsumiert wurden, plötzlich zu allergischen Reaktionen führten, für eine vorbestehende Sensibilisierung gegenüber α-Gal. Commins et al. kamen zu dem Schluss, dass diese Sensibilisierung wahrscheinlich durch eine starke entzündliche Reaktion auf einen Zeckenbiss der Spezies Amblyomma americanum induziert wird (13). Diese Zeckenart ist unter anderem auch im Südosten der USA verbreitet zu finden. Mittlerweile konnte α-Gal mittels verschiedener Techniken in mehreren Zeckenarten, so auch in der in Europa heimischen Art Ixodes ricinus, nachgewiesen werden (14). Es wird angenommen, dass die Zecken α-Gal entweder selbst produzieren können oder dieses bei einer Blutmahlzeit an einem Kleinsäuger aufnehmen und bei einer nächsten Mahlzeit auf den Menschen übertragen. Bei einem grossen Teil von Waldarbeitern und Jägern im Südwesten Deutschlands (n = 300), die regelmässig von Zecken gebissen wurden, konnte Fischer bei eigenen Untersuchungen α-Gal-spezifische IgE in unterschiedlich hohen Konzentrationen nachweisen (15). Gegenüber einer entsprechenden Vergleichspopulation wiesen die Studienteilnehmer ein erhöhtes Risiko für eine Sensibilisierung auf, mit einer OddsRatio von 2,48. Insgesamt 8,6 Prozent der Teilnehmer mit einer Konzentration der α-Gal-spezifischen IgE ≥ 0,35 kUA/L berichteten über allergische Reaktionen auf Fleisch von Säugetieren oder Medikamente, die α-Gal-enthalten. «Wir nehmen an, dass α-Gal-IgE-positive Teilnehmende, auch wenn sie Fleisch und Innereien tolerieren, ein erhöhtes Risiko für
eine anaphylaktische Reaktion auf die intravenöse Gabe von α-Gal-haltigen Medikamenten aufweisen», erläuterte Fischer. Ob es notwendig sei, α-Gal-IgE-positive Personen über dieses Risiko zu informieren, müsse anhand weiterer Analysen geklärt werden.
Fazit
Fischer meinte abschliessend: «Das α-Gal-Syndrom hat un-
sere Wahrnehmung des allergenen Potenzials von Kohlehy-
draten verändert. Einige von ihnen können wir nicht länger
als klinisch irrelevant betrachten. Entgegen der anfänglichen
Meinung, dass das α-Gal-Syndrom eine auf bestimmte Ge-
biete beschränkte Erkrankung ist, wissen wir heute, dass wir
es mit einem globalen Problem zu tun haben, bei dem es nach
wie vor noch viele offene Fragen zu klären gilt.»
L
Therese Schwender
Referenzen: 1. Galili U: Anti-Gal: an abundant human natural antibody of mul-
tiple pathogeneses and clinical benefits. Immunology 2013; 140: 1–11. 2. Galili U et al.: Evolutionary relationship between the natural anti-Gal antibody and the Gal alpha 1—>3Gal epitope in primates. Proc Natl Acad Sci USA 1987; 84: 1369–1373. 3. Galili U et al.: A unique natural human IgG antibody with antialpha-galactosyl specificity. J Exp Med 1984; 160: 1519–1531. 4. Steinke JW et al.: The alpha-gal story: lessons learned from connecting the dots. J Allergy Clin Immunol 2015; 135(3): 589–596. 5. Fischer J, Biedermann T: Delayed immediate-type hypersensitivity to red meat and innards: current insights into a novel disease entity. J Dtsch Dermatol Ges 2016; 14: 38–44. 6. Chung CH et al.: Cetuximab-induced anaphylaxis and IgE specific for galactose-alpha-1,3-galactose. N Engl J Med 2008; 358: 1109–1117. 7. Fischer J et al.: Alpha-gal is a possible target of IgE-mediated reactivity to antivenom. Allergy 2017; 72(5): 764–771. 8. Mullins RJ et al.: Relationship between red meat allergy and sensitization to gelatin and galactose-α-1,3-galactose. J Allergy Clin Immunol 2012; 129(5): 1334–1342.e1. 9. Commins SP et al.: Delayed anaphylaxis, angioedema, or urticaria after consumption of red meat in patients with IgE antibodies specific for galactose-alpha-1,3-galactose. J Allergy Clin Immunol 2009; 123: 426–433. 10. Commins SP et al.: The glycan did it: how the α-gal story rescued carbohydrates for allergists – a US perspective. Allergo J 2016; 25: 24–28. 11. Wölbing F et al.: About the role and underlying mechanisms of cofactors in anaphylaxis. Allergy 2013; 68: 1085–1092. 12. Fischer J et al.: Galactose-alpha-1,3-galactose sensitization is a prerequisite for pork-kidney allergy and cofactor-related mammalian meat anaphylaxis. J Allergy Clin Immunol 2014; 134: 755–759.e1. 13. Commins SP et al.: The relevance of tick bites to the production of IgE anti-bodies to the mammalian oligosaccharide galactosea-1,3–galactose. J Allergy Clin Immunol 2011; 127: 1286–1293.e6. 14. Hamsten C et al.: Identification of galactose-α-1,3-galactose in the gastrointestinal tract of the tick Ixodes ricinus; possible relationship with red meat allergy. Allergy 2013; 68(4): 549–552. 15. Fischer J et al.: Prevalence of type I sensitization to alpha-gal in forest service employees and hunters. Allergy 2017; 72(10): 1540–1547.
Quelle:
20th Allergy and Immunology Update (AIU), 2. bis 4. Februar 2018 in Grindelwald.
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