Transkript
FORTBILDUNG
Psychodermatologie
Artefakte – Selbstverletzungen der Haut
Von der Dermatitis factitia über die Dermatitis para-artefacta bis zu den neurotischen Exkoriationen und von der Dermatillomanie über die Rhinotillexomanie und die Trichoteiromanie bis hin zur Onychotemnomanie – rund um Artefakte von Haut, Haaren und Nägeln rankt sich eine verwirrende Vielzahl teilweise etwas verstaubt wirkender Bezeichnungen. Jetzt haben sich Dermatologen, Psychiater und Psychologen zusammengesetzt, um mehr Klarheit zu schaffen. Die vorgeschlagene neue Klassifikation, die auch Verhaltensaspekte berücksichtigt, ist auf die dermatologische Praxis zugeschnitten und erleichtert die Überweisung zum Psychiater.
Artefakte gehören zu den selbstinduzierten Hautveränderungen, die mit dem englischen Ausdruck SISL (selfinflicted skin lesions) zusammengefasst werden. Die verwirrende Vielzahl von Bezeichnungen, auf die man in der dermatologischen und psychiatrischen Fachliteratur in Zusammenhang mit Artefakten stösst, erschwert die Verständigung zwischen Dermatologen und Psychiatern, Psychologen und Psychotherapeuten erheblich. Beispielsweise sind Ausdrücke wie Dermatitis artefacta, Dermatitis factitia oder Dermatitis para-artefacta überholt, weil sie fälschlich eine zugrunde liegende Entzündung suggerieren. Auch der Ausdruck «neurotische Exkoriationen» ist obsolet, weil Betroffene dadurch mit dem Stigma «neurotisch» belegt werden. «Psychogene Exkoriationen» ist zwar ein besserer Ausdruck, aktuell wird aber empfohlen, stattdessen am besten von «SkinPicking-Syndromen» zu sprechen (1).
Neue Klassifikation selbstinduzierter Hautläsionen
Eine aus Dermatologen, Psychiatern und Psychologen bestehende Taskforce hat im Auftrag der European Society for Dermatology and Psychiatry (ESDaP) eine neue, verbesserte Klassifikation der selbstinduzierten Hautläsionen (SISL) erarbeitet (1). Weil SISL in der Regel mit Verhaltensstörungen verknüpft sind, berücksichtigt die neue Klassifikation nicht nur dermatologische, sondern auch psychologische Aspekte. Die Task-
Abbildung: Sogar mit spitzigem Schmuck fügen sich Patientinnen selbstinduzierte Hautläsionen zu.
force schlägt vor, die Bezeichnung SISL im engeren Sinn nur für diejenigen Hautläsionen zu verwenden, die direkt und aktiv von Patienten an ihrer Haut oder an Schleimhäuten induziert werden und die nicht besser als Konsequenz einer anderen körperlichen oder psychischen Störung erklärbar sind. Beispielsweise ist es nicht sinnvoll, Selbstverletzungen bei autistischen Störungen und Schizophrenien oder in Zusammenhang mit Halluzinationen und Wahnvorstellungen zu den SISL zu zählen. Auch Hautschäden durch Waschzwang im Rahmen einer Zwangsstörung oder die Kratzspuren und Skin-Picking-Läsionen bei Dermatozoenwahn sollen nicht als SISL klassifiziert werden, sondern gehören zur psychiatrischen Hauptdiagnose.
Konkrete Fragen als Hilfe bei der Klassifikation
Der Arzt sollte sich 4 Fragen stellen, um das abnorme Verhalten, durch das die Hautläsionen induziert werden, genauer zu erfassen: ● Ist das abnorme Verhalten ein Geheimnis des Patien-
ten? Streitet er das Verhalten ab? ● Will der Patient mit dem abnormen Verhalten, das er
geheim hält oder abstreitet, einen Vorteil erlangen? ● Verbirgt der Patient sein abnormes Verhalten nicht?
Gibt er es zu? ● Ist das zugegebene Verhalten kompulsiv (zwanghaft)
und wiederholt oder impulsiv und episodisch?
Natürlich ist es nicht geschickt, den Patienten bei verdächtigen Hautläsionen konfrontativ zu fragen: «Sind
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Psychodermatologie
Tabelle:
Neue Klassifikation selbstinduzierter Hautläsionen (SISL) (nach Gieler U et al. [1])
Der Patient versteckt sein abnormes Verhalten und gibt es nicht zu
Der Patient versteckt sein abnormes Verhalten nicht und gibt es zu
Der Patient will absichtlich einen Vorteil erlangen:
Der Patient will nicht einen Vorteil erlangen:
Simulation
Artefakt (factitious disorder)
Abnormes kompulsives (zwanghaftes), wiederholtes Verhalten:
Kompulsives Skin Picking und verwandte Syndrome (z.B. Trichotillomanie, Acne excoriée, Onychophagie)
Abnormes impulsives, episodidisches Verhalten, manchmal als Suizidversuch, z.B. bei Borderline-Persönlichkeitsstörung: Impulsives Skin Picking und verwandte Syndrome (z.B. Schneiden, Brennen, Schlagen)
Die simulierten Läsionen imitieren eine definierte dermatologische Erkrankung:
Die selbstinduzierten Läsionen ähneln einer definierten dermatologischen Erkrankung:
Pathomimie (pathomimicry) Pathomimie (pathomimicry)
Sie der Urheber der Hautveränderungen?» Vorzuziehen sind offene Fragen: «Wie kam es zu diesen Hautveränderungen?» Antworten wie «Ich habe keine Ahnung!» oder «Die stammen sicher nicht von mir!» deuten darauf hin, dass wahrscheinlich ein heimliches pathologisches Verhalten, das nicht zugegeben wird, dahintersteckt. Ein Patient, der sein problematisches Verhalten nicht versteckt, sagt beispielsweise: «Wenn es juckt, kann ich es nicht unterdrücken, an meiner Haut zu manipulieren.» Oder er sagt: «Wenn ich müde bin, zupfe und reisse ich an meinen Haaren, ohne es zu realisieren.» Mit solchen Aussagen geben Patienten zu, dass sie die Haut- und Haarläsionen selbst induzieren, auch wenn sie dabei gewissermassen mildernde Umstände geltend machen. Es ist nicht zu erwarten, dass Patienten offenlegen, dass sie mit der Selbstinduktion von Hautläsionen Vorteile erlangen wollen. Ob es sich um Simulation handelt (bewusst vorgetäuschte Verletzungen oder Erkrankungen der Haut zwecks Erlangung von Vorteilen), muss aufgrund der Anamnese und der sozialen, beruflichen und finanziellen Situation beurteilt werden. Um im Rahmen von abnormen Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle kompulsives von impulsivem Verhalten zu unterscheiden, eignen sich folgende Fragen: ● «Bevor Sie sich an Ihrer Haut zu schaffen machen, ver-
suchen Sie da, sich selbst zu stoppen und von der Handlung abzuhalten?» Wenn diese Frage bejaht wird, deutet dies auf kompulsives Verhalten hin. Beim kompulsiven Typ von Impulskontrollstörungen (z.B. SkinPicking-Syndrome) versuchen Betroffene, den wiederholten Impulsen zur Ausführung des abnormen Verhaltens Widerstand zu leisten. Dadurch nimmt die innere Spannung aber noch weiter zu, bis die Handlung schliesslich doch ausgeführt wird und die Span-
nung dadurch abnimmt. Doch schon bald kommt es zur Wiederholung. Entsprechend werden Betroffene folgende Fragen bejahen: «Spüren Sie zunehmende innere Spannung, wenn Sie versuchen, den Drang nach Manipulationen an Ihrer Haut oder an Ihren Haaren zu kontrollieren und zu unterdrücken?» «Bewirken die Manipulationen eine Lösung der Spannung?» «Spüren Sie aber schon bald danach wieder den Drang, erneut Manipulationen an der Haut oder an den Haaren vorzunehmen?» ● «Geht bei Ihnen alles so schnell, dass Sie nicht einmal zum Denken kommen?» Wenn der Patient hier zustimmt, handelt es sich wahrscheinlich um impulsives Verhalten. Beim impulsiven Typ von Impulskontrollstörungen tritt das selbstschädigende Verhalten plötzlich und kurzzeitig auf, wenn psychische Spannungen oder Frustrationsgefühle unerträglich sind. Es fehlen Anstrengungen der Betroffenen, dem Drang zum schädigenden Verhalten zu widerstehen. Entsprechend werden Betroffene folgende Fragen bejahen: «Kommt es automatisch zu den schmerzhaften Manipulationen und Hautverletzungen, ohne dass Sie in der Lage sind, sich zu kontrollieren?» «Fühlen Sie sich danach für längere Zeit erleichtert?» Bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung bildet abnormes impulsives Verhalten ein Kernelement.
Die Kategorie der Artefakte wird jetzt enger gefasst
Artefakte im engeren Sinn (factitious disorder) werden als dissoziative Selbstverletzungen aufgefasst, die durch unbewusste Einflüsse provoziert werden. Die Methode der Selbstverletzung der Haut wird anscheinend dazu verwendet, um mit einem sehr belastenden psychologischen Hintergrund fertig zu werden, wobei die Krankenrolle bevorzugt wird. Recht häufig kommt in der Anamnese Betroffener körperlicher, sexueller oder
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Terminologie selbstinduzierter Hautläsionen: Kompulsives Skin Picking und verwandte Syndrome
• Bei der Dermatillomanie (zwanghaftes Bearbeiten der Haut; pathologisches kompulsives Skin Picking) reiben, kratzen, drücken oder quetschen Betroffene normal oder fast normal erscheinende Hautstellen mit Fingernägeln und scharfen Instrumenten, oder sie dringen mit spitzen Gegenständen in die Haut ein. Am häufigsten sind Hände, Arme und Beine betroffen. Kurzfristig resultiert ein entspannender Effekt mit Reduktion unangenehmer Gefühle. Langfristig kommt es zu Schmerzen, Wunden (Exkoriationen, Erosionen, Krusten), Narben (atrophisch, hyperpigmentiert), hohem Leidensdruck, starken Schamgefühlen, Selbstvorwürfen, Beeinträchtigung im beruflichen und privaten Alltag infolge starker zeitlicher Beanspruchung durch die Pflege und das Verdecken der verletzten Haut, Meidung sozialer Kontakte und Aktivitäten, sozialem Rückzug und Isolation.
• Acne excoriée ist eine Spezialform des pathologischen Skin Picking, wobei die Gesichtshaut durch Drücken und Quetschen mit Fingernägeln und scharfen Instrumenten bearbeitet wird. In der Regel sind bei nur geringfügig ausgeprägter Akne erhebliche Vernarbungen zu finden.
• Als Rhinotillexomanie wird das pathologische zwanghafte Nasenbohren bezeichnet. Auch zwanghaftes Ausquetschen von Komedonen an der Nase wird zur Rhinotillexomanie gezählt.
• Die Trichotillomanie, das zwanghafte Haareausreissen, ist das am besten untersuchte aller Skin-PickingSyndrome. Weil in einigen Fällen die Zwangskomponente fehlt, postulieren gewisse Experten das Vorkommen eines impulsiven Subtyps der Trichotillomanie.
• Weit seltener ist die Trichotemnomanie, das zwanghafte Abschneiden oder Rasieren der Haare.
• Bei der Trichoteiromanie kommt es durch zwanghaftes Scheuern und Kratzen am Kapillitium zur Pseudoalopezie. In der Regel besteht eine Skalpanästhesie ohne zugrunde liegende spezifische dermatologische Kopfhauterkrankung.
• Die zwanghafte Gewohnheit des Nägelbeissens und Nägelkauens wird dann pathologisch, wenn die Onychophagie sehr viel Zeit beansprucht und zu ästhetisch und sozial beeinträchtigenden Schäden führt.
• Als Onychotemnomanie wird die Traumatisierung durch allzu kurzes Nägelschneiden bezeichnet.
• Bei der Onychotillomanie wird das Paronychium durch dauernde Manipulationen traumatisiert. Auch am Kutikulum wird ständig manipuliert. Es kommt vor, dass nicht nur das Kutikulum, sondern sogar der Nagel entfernt wird.
psychischer Missbrauch im Kindesalter oder Vernach-
lässigung vor. Artefakte können als Hilfeschrei im Hin-
blick auf die psychische Situation verstanden werden.
Beispielsweise können bei einer Patientin, die erstmals
in die Praxis kommt, die atypischen Läsionen von un-
klarer Ätiologie am linken Unterarm in Zusammenhang
mit der kürzlich erfolgten Trennung vom Lebenspart-
ner als Hilfeschrei in Form eines Artefakts interpretiert
werden.
Bei Artefakten im engeren Sinn wurden die Läsionen
artifiziell (künstlich) induziert, und das zugrunde lie-
gende abnorme Verhalten wird versteckt und verleug-
net. Wenn dagegen Betroffene ihr abnormes Verhalten,
das zu künstlich induzierten Läsionen geführt hat, nicht
verstecken, sondern zugeben, sollte nicht von Artefakt
(factitious disorder) gesprochen werden, weil andere
psychopathologische Mechanismen vorliegen und an-
dere therapeutische Ansätze empfohlen werden.
Vorbestehende Hauterkrankungen stellen einen Risiko-
faktor für Simulation dar. Dabei werden aber nicht nur
vorbestehende Hautsymptome künstlich verschlimmert
(z.B. Manipulation von Prurigopapeln, Induktion von
Exkoriationen bei atopischer Dermatitis mit einer Stahl-
bürste), sondern auch neue Läsionen auf gesunder
Haut induziert.
●
Alfred Lienhard
Referenz: 1. Gieler U et al. Self-inflicted lesions in dermatology: terminology and classi-
fication – A position paper from the European Society for Dermatology and Psychiatry (ESDaP). Acta Derm Venereol 2013; 93: 4–12.
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